Im Krasnojarsker Museumskomplex wurde die Ausstellung „Am Wendepunkt der Zeit. Geschichte und Kultur der Rußland-Deutschen“ eröffnet.
In unserer Region leben etwa vierzigtausend Deutsche, davon mehr als sechstausend in Krasnojarsk. Viele von ihnen erinnern sich noch an ihre deutschen Wurzeln und halten sie in Ehren. In unterschiedlichen Jahren und sogar Jahrhunderten ließen sich durch den Willen des Schicksals Zugewanderte aus dem fernen Deutschland in Rußland nieder. Der Siebenjährige Krieg, das geschwächte Heimatland, brachten das fleißige Volk dazu, seine angestammten Wohnorte zu verlassen und sich auf dem zwar unbewohntenm, aber dafür freien russischen Boden anzusiedeln. Die von Peter I. herangezogenen erstklassigen Spezialisten, die dazu beigetragen hatten, das große Reich aufzubauen, lebten sich ein und blieben für immer.
- Meine Vorfahren kamen in den Jahren der Zarenherrschaft Peters I. nach Rußland, - erzählt uns Elisabeth Erhart. – Sie waren Zimmerleute, bauten die Schiffe der russischen Flotte. Aus jenen Zeiten erreichten uns hauptsächlich mündliche Berichte und Legenden, aber in den letzten 150 Jahren wurde unser Familienstammbaum in schriftlicher Form und mit Fotos weitergeführt. Ich habe viele Verwandte, denn unsere Familien waren seit jeher groß – jeweils 8-10 Personen, und sie alle leben in Rußland. Ich bezeichne mich als russischsprachige Deutsche, aber von einem Umzug nach Deutschland kann keine Rede sein. Wir leben dort, wo sich die Gräber unserer Vorfahren befinden. Meine Großeltern starben während der Blockade Leningrads.
In dieser Ausstellung befindet sich auch ein Foto meines Vaters, Iwan Iwanowitsch (nach einer Familientradition wurde jeder erstgeborene Sohn in der Familie Iwan genannt). Es zeigt ihn im Jahre 1922 am Tag seiner Konfirmation in Petrograd, als er traditionsgemäß im Alter von achtzehn Jahren ganz bewußt den Glauben annimmt. Und dort – eine Fotografie mit einer Liebeserklärung an meine Mutter - und noch ein paar andere ... Meine Eltern waren Opfer der Blockade; sie hatten keine Möglichkeit irgendetwas aufzubewahren, aber es existiert noch eine Serviette, die meine Großmutter 1926 zum Tag der Geburt meiner Mutter gestickt hat. Insgesamt gab es acht solcher Servietten – entsprechend der Anzahl der Kinder.
Die Ausstellung nach den Plänen von Wasilij Slonow beinhaltet zwei parallel verlaufende Fotoserien, die eine besteht aus alten Schwarzweiß-Aufnahmen, die andere aus Farbfotos, auf denen das heutige Leben der Rußland-Deutschen dargestellt ist. Auf diese Weise wollte der Urheber der Ausstellung die Idee von Kontinuität und Ewigkeit unterstreichen.
Das Erzählen von den schwarzen Seiten unserer Geschichte – der Deportation nach Sibirien und die gegen die Rußland-Deutschen gerichteten Repressionen – bilden den Hauptgedanken der Ausstellung. In der Mitte der Komposition befindet sich ein gläsernes Kreuz, in dem man Dokumente mit, gelinde gesagt, merkwürdigen Formulierungen der russischen Leitung sehen kann, die den Tod und große Leiden unschuldiger Menschen nach sich zogen. Sätze über „innere Feinde“, die „auf ein Signal aus Deutschland hin Sprengungen durchführen“ und genau damit die Faschisten beim Einmarsch unterstützen würden ... All das wurde den sowjetischen Menschen als absolute Notwendigkeit in Kriegszeiten weisgemacht. Aber es ist völlig unbegreiflich, für welche Sünden „unsere“ russifizierten Deutschen, die seit jeher in Rußland lebten, derartige Aggressionen durchmachen mußten, und zudem auch noch ganze Familien mit schwache Alten und kleinen Kindern.
Die Menschen wurden auf Viehwaggons verladen. Nur das Allerheiligste nahmen sie mit – ihre Bibel und Sachen aus dem Familienarchiv. Obwohl sie mit ihren kleinen Kindern mitten im Schnee ausgesetzt wurden, verzweifelten sie nicht. Ein Volk, das den Glauben nicht verliert, erhält sich selbst. Auf der Ausstellung kann man eine Vielzahl Bibeln, gedruckte und handschriftliche, sehen, die alle auf dem Sand liegen, mit denen die Vitrine symbolisch ausgestreut wurde. Die Bücher sind schon ganz zerfleddert von den zwar behutsamen, aber dennoch tausendfach erfolgten Berührungen von Händen. Deutsche Bibeln auf russischer Schwarzerde, die später auch vom Blut des tapferen Volkes getränkt war. 111 Exemplare finden sich insgesamt auf der Ausstellung – und sie wurden alle vom Pastor der evangelisch-lutheranischen Gemeinde, Rudolf Blumke, in der gesamten Region gesammelt.
- Mein Vater wurde nach Krasnojarsk evakuiert, - erzählt die Projektleiterin und Vorsitzende der national-kulturellen Autinomie der Rußland-Deutschen in der Region Krasnojarsk – Natalia Agapowa, - aber, wie alle Deutschen, geriet er für fünf Jahre in die Trudarmee. Er war Lehrer, und nach seiner Entlassung gab man ihm eine Wohnung zur Untermiete. Wir haben jegliche Verbindung zu unserer historischen Heimat verloren, denn bis zu Stalins Tod mußten wir uns einmal pro Woche in der Kommandantur melden, und natürlich durfen wir nirgends hingehen. In seinen letzten Lebensjahren erfuhr der Vater, dass wir möglicherweise aus den Reihen der Holland-Deutschen stammten, aber Genaueres ist darüber nicht bekannt.
An der Realisierung der Ausstellung nahm eine Vielzahl von Menschen teil: das Zwischennationale Kulturzentrum, der Lehrstuhl für deutsche Sprache und das Zentrum für deutsche Kultur und Bildung der Staatlichen Pädagogischen Lehranstalt Krasnojarsk, das Generalkonsulat der BRD sowie all diejenigen, die für die Ausstellung ihre Familienarchive zur Verfügung gestellt haben. Nach Meinung der Organisatoren ist es absolut notwendig, dass die Ausstellung von möglichsten vielen Menschen besucht wird, vor allem von jungen Leuten. Man muß die Fehler der Vergangenheit erkennen, um sie in der Zukunft nicht noch einmal zuzulassen.
Stepan DENGIN.
Fotos: Valerij SABOLOTSKIJ
„Krasnojarsker Arbeiter“, 26.12.2003