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Alexej Babij . Die 8 Ebenen der Verantwortung

Anmerkung des Autors: Früher wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, alles, was hier nachfolgend dargelegt ist, groß zu kommentieren – ich war der Meinung, daß dies allen auch so klar ist. Es hat sich jedoch gezeigt, daß es auch noch eine andere Ansicht über Öffentlich-keitsarbeit gibt, und sie scheint weit verbreitet. Es kommt mir so vor, als ob ausgerechnet hier eine Grenzlinie zwischen der „sowjetischen“ Vorstellungsweise von Öffentlichkeitsarbeit und der Tätigkeit von nichtkommerziellen Organisationen(NKO) unserer heutigen Zeit verläuft.

Das sowjetische Verständnis von Öffentlichkeitsarbeit basierte auf einigen bestimmten Prinzipien:

Das wichtigste ist jedoch – daß Öffentlichkeitsarbeit nach dem sowjetischem Verständnis nicht ein Ziel oder Zweck sein konnte, sondern entweder eine verhaßte Verpflichtung oder ein Mittel zur Erreichung irgendwelcher eigenen Ziele.

Eigentlich verläuft genau hier diese Grenzlinie zwischen „sowjetischem“ und „nichtsowje-tischem“ Verständnis. In Bezug auf „Memorial“ sieht das so aus: es gibt Leute, für die die Arbeit von „Memorial“ ein Ziel oder Zweck ist (und ich kenne eine ganze Anzahl bemerkens-werter Beispiele dafür), und dann gibt es solche, für die diese Arbeit lediglich ein Mittel zur Befriedigung eigener Ambitionen oder der Verbesserung der eigenen materiellen Lage dar-stellt (und leider werden mir dafür immer mehr Beispiele bekannt).

Die Rede ist übrigens heute nicht nur von Zweck und Mitteln, sondern in eben solchem Maße auch von Verantwortlichkeit. Aus irgendeinem Grunde geht die Meinung, daß, sobald die Arbeit einer NKO sich auf Enthusiasmus stützt, auch keines ihrer Mitglieder Verantwortung trägt. Wir arbeiten unentgeltlich, also heißt das: sollen sie doch Dankeschön dafür sagen, daß wir überhaupt etwas machen. Und falls man irgend jemandem eine finanzielle Zuwendung gewährt hat, so nicht aufgrund einer konkreten Arbeit, sondern als Anerkennung für eine vorausgegangene, unbezahlte Mühe. Unterdessen setzt die Arbeit, die man aufgrund einer finanziellen Unterstützung verrichtet, eine ganz und gar konkrete Verpflichtung voraus, und unentgeltliche Arbeit keineswegs Verantwortungslosigkeit. Die Verantwortlichkeit teilt sich lediglich in verschiedene Ebenen auf, die unter anderem auch von der Vergütung abhängen, aber eben nur „unter anderem“, denn es gibt viel wichtigere Kriterien.

NKOs stellen sich nicht selten den kommerziellen entgegen – eben infolge ihrer Bezeichnung. Jedoch wird das Wort „Business“ keineswegs mit „Geld“ übersetzt, sondern mit „Tätigkeit“, und daher ist bei den NKOs die Business-Struktur viel umfassender als es auf den ersten Blick scheint. Der Umfang an materiellen Möglichkeiten, über die eine NKO verfügt, ist gar nicht so gering, aber die Projekte sind im allgemeinen äußerst kompliziert und umfangreich. Um mit diesem ganzen Betrieb fertig zu werden, müssen Lenkungstechnologien angewandt werden, wie man sie auch aus dem Business kennt – natürlich mit den bekannten Verbesse-rungen. Ich habe übrigens nicht wenige Beispiele gesehen, bei denen jemand, der aus einer NKO kam, erfolgreich in den Business-Bereich gewechselt ist – und umgekehrt.

Alles, was ich weiter unten sage, bezieht sich nicht auf amorphe NKOs, deren gesamte Tätigkeit in viel Gerede auf mehr oder weniger regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen besteht. Die Rede ist von dynamischen NKOs, die Projekte durchführen (nicht selten gemeinsam mit anderen Organisationen) darunter auch solche, die finanziell unterstützt werden. Nun, und bei ihnen teilt sich die Verantwortlichkeit in acht Ebenen auf:

Im gegeben Fall ist nicht die Rede von der Verantwortung des Bürgers vor der Gesellschaft im allgemeinen (wenngleich dies im Falle einer NKO mehr als angebracht ist), sondern die Verantwortlichkeit des NKO-Mitgliedes vor anderen Mitgliedern der NKO und angeschlos-senen Partner-Organisationen, das heißt die Frage wird nicht im erhöhten Sinne gewertet, sondern, im Gegenteil, auf einer äußerst praktischen Ebene.

Die erste Ebene der Verantwortlichkeit - das ist die Verantwortung des Vorsitzenden. Nicht selten geht die Meinung, daß es sich hierbei um ein Ehrenamt handelt, welches man für gewisse Verdienste erhalten hat. Ich glaube jedoch, daß es sich hier um eine wichtige Verantwortungsebene handelt. Gerade der Vorsitzende ist verantwortlich dafür, wie sich „Memorial“ entwickeln, welchen Ruf die Gesellschaft haben wird, und vieles andere mehr. Der Vorsitzende ist für alles verantwortlich, was bei „Memorial“ geschieht – ebenso vor den Mitgliedern der Gesellschaft wie auch vor den angeschlossenen Partner-Organisationen. Selbst wenn er keinen Vertrag abschließt, ist er doch gegenüber denen, die finanzielle Unterstützung gewähren, verpflichtet. Selbst wenn ein anderes Mitglied der Gesellschaft das Geld ziellos vergeudet, ist der Verantwortliche dafür – der Vorsitzende: ihn wird man fragen,weshalb er Glauben geschenkt und nicht kontrolliert hat. Ich rede schon gar nicht davon, daß gerade der Vorsitzende in komplizierten Situationen, die schnelles Handeln erfordern, eine Entscheidung fällen muß, wenn es nicht möglich ist, eine Versammlung einzuberufen oder den Vorstand anzurufen. Ich möchte übrigens anmerken, daß diese Verantwortlichkeit auch mit nicht wenigen Rechten einhergeht (denn anders ist eine Führung und Lenkung nicht möglich).

Die zweite Ebene der Verantwortlichkeit - liegt beim stellvertretenden Vorsitzenden. Eigentlich gehört dazu alles, was auch schon im Hinblick auf den Vorsitzenden gesagt wurde, allerdings auf einer etwas niedrigeren Verantwortungsstufe. Wenngleich der stellvertretende Vorsitzende bei Abwesenheit des Vorsitzenden die Last der Verantwortung in vollem Umfang auf sich nimmt. Ich darf anmerken, daß auch das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden nicht so sehr ein Ehrenamt ist, als vielmehr ein verantwortungsvoller Posten, und deswegen ist die Verantwortlichkeit des Stellvertreters viel größer als die jedes anderen Memorialisten. Fehler, die man einem Hornochsen gestatten würde, kann sich nicht einmal Jupiter selbst erlauben.

Die dritte Ebene der Verantwortlichkeit - liegt bei den Leitern der Projekte, die aufgrund von Fördermitteln durchgeführt werden, unabhängig davon, ob sie auf bezahlter oder freiwilliger Basis arbeiten. Obwohl das wiederum ein Gemeinplatz ist, erinnere ich daran, daß zwischen den beiden Organisationen (denen, die die Fördermittel gewähren und denen, die sie bekommen) ein Vertrag unterzeichnet worden ist, daß nämlich die NKO vollständig eine konkrete Verpflichtung auf sich genommen hat. In dieser Situation ist eine Arbeit nach dem Prinzip "sollen sie sich doch dafür bedanken, daß ich überhaupt etwas tue" ziemlich fehl am Platze. Der Leiter eines Projektes ist persönlich verantwortlich für den Erfolg des Projektes, für die Verwendung der Geldmittel. Wobei er ebenso vor den finanziellen Förderern, wie auch gegenüber dem Vorstand verantwortlich zeichnet (der das Recht besitzt, seine Arbeit zu kontrollieren), sowie auch vor der NKO im ganzen (ich erinnere daran, daß es so etwas wie ein geschichtlicher Ablauf der Gewährung von finanziellen Förderungen existiert, und wenn man sich so eine Unterstützung einmal verscherzt hat, kann man ohne weiteres auch der nachfolgenden verlustig gehen - so daß vom Leiter des Projektes nicht nur das Schicksal des aktuellen Projektes abhängt, sondern auch die Verwirklichung aller zukünftigen).

Die vierte Ebene der Verantwortlichkeit - liegt bei den Leuten, die an geförderten Projekten auf bezahlter Basis arbeiten. Bei ihnen haben der Projektleiter sowie der Vorstand das Recht, über den vollständigen Ablauf Rechenschaft zu verlangen: entschuldige, du wirst für eine konkrete Arbeit bezahlt, aber bitte erledige sie fristgemäß und wie es sich gehört.

Die fünfte Ebene der Verantwortlichkeit - ist ähnlich der vierten, nur geht es hier um bezahlte Arbeit. Aber möglicherweise wird nicht die Arbeit aufgrund einer konkreten finanziellen Fördermaßnahme bezahlt, sondern die allgemeine, ständige und ganz regelmäßige Arbeit (bei "Memorial" ist dies gewöhnlich die Arbeit eines Juristen). Es ist nicht wichtig, ob diese Person Mitglied der NKO oder ein hinzugezogener Spezialist ist - die Hauptsache ist, daß er für eine konkrete Arbeit Geld erhält. Macht er diese Arbeit nicht, nicht fristgemäß - dann bekommt er ganz einfach auch sein Geld nicht und wird sich von dieser Arbeit zurückziehen. Diese Situation (ebenso wie die vorherige) unterscheidet sich in nichts von der Verantwortlichkeit in einem kommerziellen Betrieb.

Die sechste Ebene der Verantwortlichkeit - liegt bei den Leitern von Projekten, die auf freiwilliger Basis durchgeführt werden. Hier gibt es in der Regel keine Verantwortlichkeit gegenüber anderen Organisationen (zum Beispiel denen, die die Fördermittel gewähren). Aber es existiert eine Verantwortlichkeit zumindest gegenüber der NKO im ganzen: wenn du schon die Leitung eines Projektes in Angriff genommen hast, dann sei doch bitte so gut und halte das Versprochene auch ein. Auf dich sind finanzielle Sanktionen nicht anwendbar,und du verwaltest die vorhandenen Geldmittel auch nicht, aber du bist deinen Kameraden gegenüber verantwortlich - beispielsweise denen, die mit dir zusammen an dem Projekt arbeiten, ebenso wie jenen, denen du versprochen hast, dieses Projekt durchzuführen. Du hast versprochen etwas zu organisieren - dann tu's auch!

Die siebte Ebene der Verantwortlichkeit - liegt bei den Freiwilligen, die an dem Projekt teilnehmen. Sie zeichnen, im Gegensatz zum Leiter des Projektes, nur für ihren Aufgabenbereich verantwortlich (wenngleich sie sich, nach der logischen Bestimmung, um die Sache im ganzen sorgen sollten. Aber wenn ein Freiwilliger seine Arbeit nicht gewissenhaft macht, wird er kaum höher steigen, als bis zur siebten Ebene - eher wird er auf die achte herabsinken.

Und schließlich die achte Ebene der Verantwortlichkeit - sie liegt bei den Menschen, die sich nur episodisch mit dieser Arbeit befassen, auf eigenen Wunsch und nach ihrem eigenen Programm. Das können ebenso Mitglieder der NKO wie auch Außenstehende sein. Plötzlich taucht jemand auf und benummert fünfzig Fotografien, obwohl er das auch hätte lassen können. Na schön, ihm sei Dank, selbst wenn er es qualitativ nicht so gut gemacht hat, wie man es sich gewünscht hätte. Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.

Diese Hierarchie der Verantwortlichkeit besitzt keinerlei Gemeinsamkeiten mit einer Dienstleiter. Bei der Bewegung nach oben vergrößert sich vor allem nicht der Nutzen oder er vergrößert sich gänzlich unproportional zu den eingebrachten Bemühungen - so daß ein materielles Interesse in der Regel keine Rolle spielt. Nicht selten spielen persönliche Ambitionen eine Rolle (na ja, dem einen oder anderen gefällt die Zusatzbezeichnung "Vorstandsmitglied"). Aber zum Glück dient oft genug die Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Hauptantrieb, die Möglichkeit, etwas wirklich Wichtiges und Notwendiges zu tun.

Es ist wichtig zu begreifen, daß wir nur auf der achten Ebene der Verantwortlichkeit die Einstellung haben "sollen sie doch danke sagen, daß wir überhaupt etwas tun". Aber kaum bist du in der Hierarchie der Verantwortlichkeit ein wenig höher gestiegen, dann muß die Einstellung sich sofort und grundlegend ändern. Es ist nicht wichtig, auf welcher Ebene du dich befindest - du hast Verpflichtungen auf dich genommen, dann bitte erfülle sie auch und widersetzte dich nicht, wenn die, die das Recht dazu haben dich zu kontrollieren, dieses Recht auch in Anspruch nehmen. Und das Recht dazu besitzen übrigens nicht nur die Leute, die auf der "Dienstleiter" höher stehen, sondern auch jedes beliebige Mitglied der NKO. Schließlich (und da liegt ein weiterer Unterschied zwischen einer NKO und einer Business-Struktur) arbeiten wir doch alle an einer gemeinsamen Sache und wirtschaften nicht für irgendeinen Vorgesetzten. Aber es sieht so aus, als ob ich schon wieder angefangen habe, von Gemeinplätzen zu reden - das ist mir selbst unangenehm ...


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