verbrachte der krasnojarsker Este Kuna Regi. Heute haßt er Faschisten wie Kommunisten gleichermaßen.
Sibirien wurden von Umsiedlern und Verbannten besiedelt, ebenso wie Australien. Das Schicksal unserer Vorfahren ist häufig mit Repressionen, Zwangsarbeit und Vertreibung verknüpft. Auch die Esten, die aus Nord-Europa in unsere Region geraten sind, bilden da keine Ausnahme.
Kuna Regi wurde 1927 im bürgerlichen Estland geboren. Die Familie war nicht gerade arm. Der Vater, Jewgenij Regi, Teilnehmer am Unabhängigkeitskrieg des Jahres 1918, arbeitete als Ober-Ingenieur auf einer Schiffswerft. Das Land war frei, demokratisch regiert, „klain, aber unabhänkik“. Die estischen Familien unterschieden sich von Grund auf von den sowjetischen. Kuna Regi wuchs als freier Mensch auf.
Die UdSSR erschien den „Tschuchonzen“ (alte Volksbezeichnung für die Esten; Anm. d. Übers.) als großer und gefährlicher Nachbar. Man fürchtete die Rote Armee, benahm sich aber gut gegenüber den ortsansässigen russischen Emigranten. Bis zu einer bestimmten Zeit gab es keinerlei Grund, auf die russischsprachige Bevölkerung in irgendeiner Form böse zu sein. All das änderte sich 1940, als die UdSSR den unabhängigen Staat zwang, sich dem sozialistischen Paradies anzuschließen.
Die esstische Armee und die Aristokratie wurden mit Zügen gen Osten transportiert, die Generalität, die vorherige estische Regierung und die Vertreter der Bourgeoisie wurden erschossen oder nach Sibirien verschleppt. In der Nähe der heutigen Ortschaft Petschora vernichteten NKWD-Mitarbeiter mehr als 2000 estische Soldaten. Später nannten Historiker diese Ereignisse das estische Katyn (ein kleiner Ort in Polen, an dem das NKWD im Jahre 1940 20.000 polnische Offiziere erschoß. – Anm. des Autors). In der Liste derer, die von der Verhaftung betroffen waren, stand auch Kunas Vater. Bekannte, die ihn von der drohenden Verhaftung in Kenntnis setzten, retteten den Ingenieur. Jewgenij verschwand im Untergrund, die Familie schickte er zu Verwandten auf dem Lande.
- Als die Russen kamen, änderte sich das Leben jäh! – erinnert sich Kuna. – Aus den Geschäften verschwanden augenblicklich die Waren. Alles wurde von den Russen aufgekauft, die noch niemals in ihrem Leben einen solchen Überfluß gesehen hatten. Aber irgendeine Feindseligkeit gegenüber den Soldaten erfuhren wir damals nicht – sogar ich mit meinen 13 Jahren begriff, dass sie genau solche Menschen waren, daß nicht sie, sondern der Staat an der Invasion schuld war.
Auch wenn es paradox klingt, aber es waren die Deutschen, die der Familie Regi 1941 „aus der Not halfen“. Was soll man da verbergen, die vom Bolschewismus befreiten Esten nahmen die Hitler-Armee mit frohlockendem Triumph. Später wurde wieder alles auf seinen Platz gestellt. Kuna Regi fühlte in sich schon den nächsten Machtwechsel:
- Wir tauschten ein Übel gegen das andere aus. Ich kann mich noch erinnern, wie sich im Juli 1941 die sowjetischen Truppen als ungeordnete Haufen zurückzogen. Sechs Kämpfer aus dem sowjetischen Vernichtungsbataillon (übrigens, Russen waren nicht unter ihnen – Juden, Kasachen ... Esten) kamen zu uns ins Haus, nahmen irgendwelche Lebensmittel weg und vergewaltigten beinahe meine Schwester. Gott sei Dank konnten meine Landsleute diese widerwärtige Bande daran hindern – sie geboten den Kollegen Einhalt. Vier dieser Soldaten wurden später von einer Mine zerrissen, zwei der Überlebenden nachts von deutschen Motorradfahrern erschossen. Beinahe hätten die Deutschen in der Dunkelheit mich getroffen.
Das faschistische Regime verschärfte sich dauerhaft auf baltischem Boden. Kuna kehrte zum Studieren ans Real-Gymnasium zurück. Der Vater wurde als Pionier in die estische Armee geholt – gegen Ende des Krieges ging der Truppenteil Jewgenij Regis in den Zuständigkeitsbereich der Wehrmacht über. Die Balten bekamen nicht die Freiheit, die sie sich von den Faschisten erhofft hatten:
- Ich habe stets Verachtung gegenüber Verrätern gehegt. Unter meinen eigenen Landsleuten gab es solche Menschen, die sehr eifrig, sowohl unter den Bolschewiken als auch unter den Hitlerianern, dienten. Ihr Vaterland war ihnen gleichgültig.
1944 änderte sich die Haltung der Esten den Besatzern gegenüber – lange Züge mit Arbeitskräften begannen sich gen Westen, ins „Große Reich“ zu bewegen. Kunas Schwester Lea wurde ebenfalls nach Deutschland geschickt. Alle Esten ab 17 unterlagen der Einberufung in die Wehrmacht, auch Kuna konnte dem Schicksal eines Rekruten nicht entkommen:
- Als die sowjetischen Truppen sich bereits der Grenze näherten, erhielt ich den Gestellungsbefehl. Zum Teufel mit dieser deutschen Armee! Aber wer versuchte, dies zu umgehen, wurde erschossen. Ich packte also meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von den Eltern, und am nächsten Tag stachen sie schon mit den sich zurückziehenden Deutschen in See, Richtung Deutschland – der Vater war ja Soldat. So kam es, daß wir für 23 Jahre getrennt wurden.
Die jungen Esten waren zum Einsatz bei der Flak-Abwehr vorgesehen. Nieman vertraute den 17-jährigen Jungs Waffen an, aber eine Uniform bekamen sie. Der Wehrmachtsrekrut Regi dachte nur an eines – zu desertieren:
- Man brachte uns in ein Lager, zu den Flakabwehr-Soldaten. Die Offiziere versuchten in aller Eile, uns wenigstens irgendeine Grundausbildung zu geben. Man teilte nagelneue Fliegeruniformen an uns aus – von grauer Farbe und mit Möwen an den Kragenspiegeln.
Wir wurden nicht schlecht verpflegt – mit Konserven, Brot. Es gab keinerlei Demütigungen und Kränkungen von Seiten der Deutschen; im allgemeinen erwiesen sich die Deutschen Soldaten als ganz normale Menschen – der Krieg war allen zuwider. Sie schikanierten uns nicht, im Gegenteil – sie bemitleideten uns und bemühten sich uns zu helfen. Von allen Einberufenen war ich der einzige, der Deutsch sprechen konnte – ich wurde zum Dolmetscher ernannt. Wir dachten die ganze Zeit an Flucht. Es gingen Gerüchte, daß die Deutschen irgendwo im benachbarten Truppenteil Esten wegen Desertion erschossen hatten. Wir wurden zur Arbeit abkommandiert – dem Verladen von irgendwelchem technischen und militärischen Krimskrams im Seehafen von Tallinn. Kommandiert wurden wir von Unteroffizier Bokk (Bock), einem älteren, ungekämmten Mann, der uns mit Verständnis begegnete und deshalb ob unseres Benehmens beide Augen zudrückte. Sobald wir in den Hafen geraten waren, krochen wir zusammen mit den anderen in den erstbesten Wagenkasten eines vorbeifahrenden Autos. Wir fuhren ein Stück und sprangen dann auf einem Waldweg ab. Ein PKW mit einem Maschinengewehr in der Luke und einer estischen Flagge kam uns entgegen. Aber weiter konnte er sich uns schon nicht mehr nähern – aus dem Hinterhalt schossen SS-Leute. Die Faschisten hatten uns unter Beschuß genommen. Sie wollten mich erschießen, und ich erklärte ihnen auf Deutsch, daß wir gerade auf dem Weg zu unseren Familien wären und zu unserem Truppenteil zurückwollten. Und so konnten wir uns retten. Mit Mühe gelangten wir nach Hause. Am nächsten Morgen verbrannte ich die deutsche Uniform. Insgesamt hatte ich zehn Tage in der Wehrmacht gedient. Später erfuhr ich, daß unsere Flak-Truppe irgendwo in Frankreich von englischen Bombern vernichtet wurde.
1945 drehte sich die Maschinerie der bolschewistischen Unterdrückungsmaßnahmen in Estland mit neuer Kraft. Die Männer, die die Kampfesaktivitäten und die deutsche Okkupation überlebt hatten, gingen zu den Partisanen über. Züge mit hunderten von Verbannten bewegten sich nach Osten. Überall im Land wurden antibolschewistische Organisationen gegründet. Durch Freunde trat Kuna Regi der antikommunistischen „Front zur Befreiung Estlands“ bei. Zeitlich gesehen schaffter er nichts, und auch an der „Front“ gab es keinerlei Aktivitäten. Im März 1946 wurde der 19-jährige Junge verhaftet:
- Einige Monate saß ich im Gefängnis von Tallinn. Bei den Verhören wurde ich geschlagen. Die Ermittlungsrichterin zog ihren Schuh aus und schlug mir mit dem Absatz auf den Kopf -
sie prügelte die Aussagen heraus. Ich schwieg. Ich war stolz – ich leide für eine gerechte Sache. Die Aussagen prügelten sie unter Androhung ihrer Festnahme aus meinem Mädchen heraus. Das Gericht entschied schnell – 10 Jahre mit Entzug der Rechte. § 58-1a, Punkt 11 – antisowjetische Tätigkeiten. Ich beging bei der Verhandlung eine Dummheit, hatte nichts zu verlieren, sie werden mich erschießen, und ich schleuderte der „Trojka“ die Worte ins Gesicht: „Ich erkenne Ihre Macht nicht an, sie haben gar kein Recht über mich zu urteilen“. Die Richter schenkten meinem patriotischen Gefühlsausbruch keinerlei Beachtung, schließlich hätte ich auch so die Höchstrafe bekomme können.
Regi saß seine Haftstrafe vollständig ab – von Anfang bis Ende. Zuerst in der Region Archangelsk, dann im TaischetLag. Sie ließen ihn auch nicht im Rahmen der Amnestie 1954 frei – denn die Verwandten waren jenseits der Grenze. Es war nämlich so, daß die Familie Regi in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten und nach Australien ausgewandert war. Seine Verwandtschaft konnte Kuna erst im Jahre 1968 sehen. Und – bei dem Esten lagen antisowjetische Aktivitäten vor, und er bereut seine Taten noch nicht einmal.
Nach der Haftverbüßung blieb Kuna in Krasnojarsk. Sein Versuch, in den 1960er Jahren in die Heimat zu gelangen, mißlang. Der Unabhängigkeitskämpfer wurde in Estland von niemandem benötigt. Er emigrierte auch nicht zu seinen Verwandten nach Australien – die Familie hielt ihn zurück. Aber auf die Frage, was wäre, wenn er seine Jugendjahre noch einmal durchleben müßte, antwortet der Krasnojarsker ohne Zweifel:
- Ich würde gegen das Regime in der Heimat kämpfen, sogar mit Waffen in den Händen. Für die Unabhängigkeit. Ich hasse sowohl das faschistische Regime, als auch die Kommunisten. Nicht die Menschen – die gewöhnlichen Kommunisten und Mitglieder der NSDAP hat die totalitäre Maschine bis aufs Blut gequält – das System selbst, das alles Menschliche zerstört hat, hasse ich.
Vor Gericht bekam der „Wehrmachtssoldat“ und Antisoviet Kuno Regi aufgrund eines fabrizierten Falls nach § 58 zehn Jahre aufgebrummt. Als er auf Etappe geschickt wurde, war der junge Este kaum noch am Leben:
- Aus Estland wurden wir mit dem Zug fortgebracht. 70 Mann wurden jeweils in einen Waggon hineingepfercht. Auf dem Transport steckten sie „politische“ Esten mit russischen Kriminellen zusammen, denen es bereits gelungen war, Verbrechen im sowjetischen beherrschten Estland zu begehen. Die „Gauner“ benahmen sich äußerst frech und unverschämt. Bewaffnet mit Messern traten sie in Gruppen an einen von uns heran, zogen ihm die Kleidung aus und nahmen sie ihm weg. Die gestohlenen und abgenommen Sachen tauschten sie bei den Wachmannschaften gegen Wodka und Rauchwaren. Innerhalb von zwei Wochen Fahrt hatten sie fast alle ausgeplündert ... Auch zu mir kamen sie. In dem Moment war ich bereits am Ende meiner Kräfte – mir war alles egal. Ihr Anführer sagt: „Zieh dich aus, Grünschnabel“. Ich werde sowieso sterben und schreie los: „Mit den Zähnen werde ich euch in Stücke reißen, gar nichts werde ich herausrücke. Gebt mir erstmal eine Wattejacke und Filzstiefel, und dann könnt ihr auch was von mir verlangen!“ Meine Dreistigkeit machte offenbar auf den Anführer einen solchen Eindruck, daß er meinte: „Na, dann gebt ihm mal eine gesteppte Wattejacke und Schuhzeug!“ Nach diesem Vorfall rührten mich die „Gauner“ nicht mehr an, sondern steckten mir sogar noch etwas zu essen zu. Bevor ich ins Lager Malatowk kam, begann ich sogar an Gewicht zuzunehmen, aber mit meinen Landsleuten teilte ich das letzte Krümelchen – man mußte ja irgendwie überleben ...
Das erste Lager, in das Regi geriet – in Molotowsk (Gebiet Archangelsk) – war eigentlich eines für „nichtpolitisches Kriminelle“, aber zwischen den „politischen“ standen auch Baracken für Kriminelle. „Die sich Bessernden“ bauten eine Schiffbauhalle (Werft) für U-Boote. Diebstahl war, wie auch in allen anderen Besserungslagern in einem schrecklickem Ausmaß gang und gäbe. „Kleptomanie“ wurde auf grausame Weise kuriert – für ein gestohlenes Stückchen Brot bezahlten sie mit dem Leben. Die Räuber wurden mit Filzstiefeln übel zugerichtet, bis sie tot waren, und dann verschnürt in den eisigen Frost hinausgeworfen. Die mit der Etappe angekommenen Häftlinge wurden sofort zu „Abkratzern“. Regi hatte kein Glück – er erkrankte an Ruhr:
„Zu Beginn meiner Haftstrafe war ich fast tot. Sie trieben mich zur Arbeit. Aber das war keine Arbeit, sondern Mord. Der Ort, an dem ich steckte, nannte sich Ziegelfabrik. Aber das war es nur dem Wort nach – in Wirklichkeit entzündeten sie dort Lagerfeuer auf runden Felssteinen und übergossen die glühenden Steine dann mit Wasser. Sie Steine barsten. Vor der Ruhr rettete mich ein gefangener Schmied – er riet mir Holzkohle zu essen. Irgendwie wurde ich gesund. Ich hatte noch einmal Glück. Im Lager starb jeden Tag irgendeiner. Ein Menge Häftlinge litten an schwerer Mangelernährung – die Menschen waren übersät mit schwarzen Flecken. Vor dem Tod rettete mich die medizinische Kommission – sie schickte mich in eine Gruppe Erholungsbedürftiger. Die Arbeit wurde anscheinend etwas leichter – man gab mir eine Tätigkeit als Hochbauarbeiter und Anstreicher.
Der Tod ging um. Einmal steckte irgendjemand das riesige Tor der Schiffbauhalle in Brand. Drei estische Hochbauarbeiter sprangen ganz oben vom Gerüst – sie stürzten sich zu Tode. Um sich bei der Lagerleitung einzuschmeicheln, machten die Bewacher nicht selten von ihren Gewehren Gebrauch.
Unter den Wachsoldaten gab es auch gute Menschen. Vor allem die Frontkämpfer benahmen sich uns gegenüber recht menschlich. Ich vernahm eine Geschichte, wie einer von den Wachen unter den Häftlingen seinen Vater gesehen hatte und sich erschoß, das Gewissen hatte ihn gequält. Aber die Begleitwachen, die man aus Mittelasien einberufen hatte, verübten Greueltaten. Es kam vor, daß einer einen Häftling zu sich rief und ein zweiter, während der Mann dort ging, ihm eine Kugel in den Hinterkopf jagte, als ob er versucht hätte zu fliehen. Die Lagerleitung war gegenüber den Insassen, die eine mehrjährige Lagerhaftstrafe zu verbüßen hatten, etwas milder gestimmt. Einige ließ man unter Wachbegleitung zur Arbeit ins Städtchen. Das nannte sich – Selbstschutz (sie paßten auf sich selber auf). Kuno und sein Kamerad wurden von einem ehemaligen Hauptfeldwebel und Frontkämpfer begleitet. Nachdem er die „unter seiner Vormundschaft stehenden“ in der Stadt zurückgelassen hatte, betrank sich der Krieger vusmert. Beim Rückweg ins Lager wurde der Wachmann samt seinem Gewehr von den beiden Häftlingen getragen.
Nach dreieinhalb Jahren in Molotowsk kam Regi nach Sibirien und blieb dann auch für immer dort. Zuerst war er im TajschetLag in der Irkutsker Region:
- In Sibirien habe ich die ganze Welt gesehen – ich meine natürlich nicht die Länder, sondern die Menschen. Alle Völker der UdSSR, Koreaner, Japaner, Deutsche, Italiener, Jugoslawen, Rumänen. Bulgaren ... In meiner Baubrigade befand sich sogar ein chinesischer General. Ein gebrechlicher Alter. Die ortsansässigen Chinesen behandelten ihn, als ob er ihr eigener Vater wäre, - sie gaben ihm zu essen, irgendwo hatten sie Reis auftreiben könenn. Aber auf der Arbeit war er zu nichts zu gebrauchen – ich schickte ihn zum Wändeweißen, und er trug Allerbaster anstelle von Kalk auf; man mußte alles neu machen. Im allgemeinen ließen wir ihn auch nicht an die Arbeit gehen. Ich arbeitete sowohl mit einem koreanischen Börsenmakler, als auch mit einem amerikanischen Börsenmakler, meinem Freund Tommy, - sie hatten ihn im Koreakrieg abgeschossen. 1953 kam eine Etappe mit deutschen Kriegsgefangenen. Einen mitleiderregenderen Anblick hatten wir in unserem ganzen Leben noch nicht gesehen – kranke, zerfetzte, hungrige Menschen. Die japanischen Häftlinge lebten besser, irgendwie war ich einmal in ihrem Lager – und es war dort sehr sauber, akkurat, und wenn die Menschen auf sich achtgeben, dann heißt das – sie werden auch überleben.
Im tajschetsker Lager begegnete der Este auch alten Bolschewiken, jenen, die noch bis 1917 für die Macht im Volk gekämpft hatten. Das Endergebnis war für alle das gleiche – die Folterkammern. Der Jäger Tschaschtschin, Kunas Leidensgenossen aus Charbin, beeilte sich in die UdSSR zu kommen und erreichte gerade noch mit Mühe den letzten russischen Dampfer. Er kam, wie man so sagt – vom Regen in die Traufe: 10 Jahre Lagerhaft bekam der Patriot aufgebrummt.
Über Stalins Tod zeigten die Insassen große Begeisterung. Bis zum März 1953 hatte sich bereits niemand mehr irgendwelche Illusionen gemacht. Die Amnestie des „kalten Sommers“ brachte Regi die Freiheit jedoch nicht zurück:
- Fast alle Esten meines Alters wurden entlassen, nur ich nicht – weil meine Verwandten im
Ausland waren. Als ob ich tatsächlich an irgendetwas schuld wäre. Erst 1955, als ich nach Krasnojarsk verlegt wurde, ins Zentralgefängnis, wurde klar – bald würde ich frei sein. Sie wollten uns wieder irgendwohin nach Tmutarakan schicken, wo wir uns niederlassen sollten, aber wir, die politischen Gefangenen, sträubten uns in der Zelle des Krasnojarsker Zentralgefängnis und weigerten uns, irgendwohin zu fahren. Es waren bereits andere Zeiten hereingebrochen. Und dennoch erwirkten wir Gerechtigkeit. Und so kam es, daß ich in unserer Stadt blieb. Hier lernte ich auch meine Frau kennen. Sie hatte keine Angst davor, einen „Volksfeind“ zu heiraten.
Rehabilitiert wurde Kuno Regi erst während der Zeit der Perestrojka. Offenbar stellte ein einfacher krasnojarsker Bauarbeiter für die sowjetischen Vertreter der Staatssicherheit eine Gefahr dar ...
Auskunft der „KP“
(Zeitung „Komsomolskaja Prawda“; Anm. d. Übers.)
Im Sommer 1940 wurde Estland von sowjetischen Truppen besetzt. Sofort nach der Okkupation begannen die Verfolgungen realer und potentieller Gegner der neuen Macht. Anfang 1941 zog sich eine Welle von Verhaftungen und Deportationen durch das Land, die zehtausende von Esten erfaßte, und der Wiedereinmarsch der Sowjetarmee ins Land löste 1944 eine Massenemigration der örtlichen Bevölkerung aus. Welches Ausmaß diese Emigration hatte, ist nicht bekannt, aber es steht fest, daß zehntausende Esten ihre Heimat verließen. Zwischen 1944 und 1953 fanden ständig Festnehmen statt. Ihr größtes Ausmaß erreichten sie 1949, als insgesamt 40000 Esten verhaftet oder deportiert wurden.
Insgesamt war aufgrund dieser schicksalhaften Ereignisse war bis zum Jahre 1956 von den 995000 vor dem Kriege lebenden Esten jeder fünfte umgekommen war oder das Land verlassen hatte.
Mjasots Oskar, Stanislaw Patrijew
„Komsomolskaja Prawda“, Krasnojarsk,
13.02. - 20.02.2004