Das schmerzensreiche Schicksal Rußlands ist das tragische Schicksal jener, die Opfer von Deportationen, Unterdrückungen und Repressionen wurden. Ende August – ein trauriges Datum in der Geschichte unseres Vaterlandes. Gemäß Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941 über Deportationen vom Wohnort wurden hunderttausende von Rußland-Deutschen in verschiedene Regionen des Landes ausgesiedelt. Sie alle verloren ihren Besitz, ihr Dach über dem Kopf und das Recht auf ein würdiges Leben. Aufgrund dieser Verordnung wurden 420 Familien in den kuraginsker Landkreis geschickt, insgesamt etwa 2000 Menschen.
Der Umsiedlung unterlagen ausnahmslos alle Deutschen, sowohl Städter, als auch Bewohner ländlicher Gebiete, unter ihnen auch Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken und des Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverbandes. Für die Leitung der Umsiedlungsaktion war das NKWD der UdSSR verantwortlich. Die meisten Leute wurden nach Kasachstan (125 000 Personen) und in die nowosibirsker Region geschickt (100 000). In der krasnojarsker Region trafen laut Kontingentplan 75 000 Menschen ein. Darunter befand sich auch die Familie von Filipp Schlundt, der in der Ortschaft Bauer, Kamensker Kanton, in der Region Saratow, gelebt hatte.
Dem Familienoberhaupt, welches das Amt des Vorsitzenden des Dorfladens ausgeübt hatte, wurde vorgeworfen, antisowjetische Agitation betrieben zu haben. 1938 wurde er aub Beschluß einer „Trojka“ erschossen. Sechs Jahrzehnte später wurde er von der Staatsanwaltschaft der Region Saratow rehabilitiert. Er hinterließ damals seine Frau Elisabetha Adolfowna und fünf Kinder:
Ganna (Hanna, geb. 1926), Maria (geb. 1928), Jakob (geb. 1930), Amalia (geb.1939) und Emma (geb. 1935).
Sogar vor der Deportation hatten wir ein schweres Leben – erinnert sich Hanna Filippowna – wegen der mehrere Jahre hintereinander herrschenden Dürre war nichts gewachsen, die Menschen starben sogar vor Hunger. Aber trotzdem gingen wir alle zur Schule. Am Vorabend der Deportationen, im Juni 1941, beendete ich die Sieben-Klassen-Schule fast nur mit Einsen.
Unsere Familie wurde zusammen mit anderen Dorfnachbarn am 15. September verschleppt. Alles mußten wir zurücklassen: das Haus, den Gemüsegarten, das Vieh. Niemand gab irgendeine Erklärung ab: sie ließen alle in Viehwaggons einsteigen und brachten uns fort. Alle nahmen nur das mit, was sie für die allerste Zeit unbedingt brauchten: ein paar Sachen zum Anziehen und einige Lebensmittel, die innerhalb weniger Tage buchstäblich aufgebraucht waren. Und nur während der Zughalte an den großen Bahnstationen wurde mit Eimern eine dünne Suppe in die Waggons gebracht, aber natürlich war es sehr wenig.
Die Waggons waren überfüllt. Aufgrund der großen Enge wurden viele krank, starben. Schwangere Frauen mußten unter diesen unhygienischen Bedingungen ihre Kinder gebären. In Kasachstan wurden elf Waggons vom Zug abgehängt, die übrigen fuhren weiter. Erst nach acht Tagen und Nächten erreichten sie Abakan. Von dort schickten sie unsere Familie, zusammen mit anderen, in das Dorf Dschirim, Schalobolinsker Dorfsowjet.
Heute kann man wohl sagen, daß die Deportationen der Deutschen von der Wolga nach einem ausgeklügelten Plan durchgeführt wurden und nicht etwa spontan. Die Mitarbeiter des NKWD handelten strikt, jedoch ohne Anwendung physischer Gewalt, denn das erschütterte Volk fügte sich in sein Schicksal. Im kuraginsker Landkreis wurde das Ansiedeln der deportierten Deutschen vom Detlowsker, Grjasnuchinsker, Ponatschewsker und anderen Dorfsowjets vorgenommen. Leider ist es nicht gelungen, im Archiv brauchbare Dokumente darüber zu entdecken, nach welchen Vorschriften die Ansiedlung organisiert war, aber in anderen Unterlagen als den Wirtschaftsbüchern fanden sich folgende Notizen: eingewiesen Bruch – 5 Personen, Birich – 8, Kaiser – 4, usw. Ein erheblicher Teil der Umsiedler wurde auf Farmen der Sowchose „Kuraginskij“ und der Sowchose „Solotoprodsnab“ bei der Artemowsker Goldgrube (heute Siedlung Roschtschinskij) geschickt.
- Bei der Ankunft in Dschirim, - fährt Hanna Filippowna in ihren Erinnerungen fort, - steckten sie uns zusammen mit einer anderen, sechsköpfigen Familie in eine große Scheune. Dort gab es weder einen Ofen, noch eine Tür. Wir besaßen auch keine warme Kleidung, und die, die wir mitgenommen hatten, tauschten wir gegen Lebensmittel, um wenigstens irgendetwas essen zu können. Die Mutter errichtete irgendwie aus Steinen einen kleinen provisorischen Ofen. Er strahlte nur wenig Wärme aus, aber man konnte das Mittagessen darauf kochen. Am nächsten Tag schickten sie alle, die schon etwas älter waren, zum Korndreschen, denn es war gerade Erntezeit. Die Arbeit war sehr schwer, wir mußten doch schwere körperliche Arbeiten verrichten, die vor dem Krieg immer die Männer gemacht hatten. Sogar der jüngste Bruder Jakob, der gerade erst elf Jahre alt war, mußte mit Pferden Stallmist von den Farmen auf die Felder transportieren. Nachts strickten alle Familien große Umschlagtücher, um sie dann später gegen Kartoffeln einzutauschen.
Zu jener Zeit gab es im Dorf eine 4-Klassen-Schule, der Unterricht wurde von einer einzigen Lehrerin geleitet, aber die Kinder der verbannten Deutschen gingen im ersten Jahr nicht dorthin.
Nachdem alle Deutschen aus dem Wolgagebiet deportiert worden waren, wurde eine Reihe von Regierungsvorschriften verabschiedet, die ihre Mobilisierung und Verwendung in Arbeitsarmeen legitimierten – für die gesamte Dauer des Krieges. Die Arbeitsarmeen – das war eine besondere Erscheinung jener Zeit im Leben unseres Landes, die in sich Elemente des Kriegsdienstes, Produktionstätigkeiten und das Regime des GULag vereinigt.
Am 7.Oktober 1942 erging die Regierungsanordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung mit der No. 2383 – streng geheim - „Über die zusätzliche Mobilmachung von Deutschen für die Volkswirtschaft der UdSSR“; dementsprechend wurden Männer zwischen 15 und 55 Jahren sowie Frauen im Alter von 16 bis 45 einberufen.
- Der Winter ging vorüber. Im Sommer wurde damit begonnen, die ersten Umsiedler in die Arbeitsarmee zu holen, - fährt G. Schlundt mit seinem Bericht fort.
- Ich hatte bereits mein 16. Lebensjahr vollendet und einen Paß erhalten. Und im Oktober desselben Jahres bekamen meine Mutter und ich den Gestellungsbefehl. Es war eine schreckliche Tragödie. Aus jedem Dorf sammelten sie die arbeitsfähigen Deutschen ein und schickten sie nach Kuragino. Aber weiter konnten sie nicht fahren, weil sich auf dem Fluß Tuba Matsch und Eis türmten und es keine Möglichkeit gab hindurchzukommen. Wir wurden auf die dortigen Häuser verteilt uns am 21. November erneut zusammengetrieben. All meine Geschwister hängten sich an die Mutter. Sie war doch das einzige, was sie hatten! Was würde ohne sie aus ihnen werden? Mama sank bewußtlos zu Boden. Sie erlangte die Besinnung erst wieder, als sie schon im Schlitten saßen, und lag dann den ganzen restlichen Weg über auf den Knien und betete Gott um Hilfe an.
In Kuragino waren gute Menschen ihr dabei behilflich, ein Gesuch zu schreiben, in dem stand, daß sie vier Kinder unbeaufsichtigt zurückließ und sie selbst nach einer durchgestandenen Operation an Augenschmerzen litt. Aber das war eher eine Ausnahme, denn sie holten alle Frauen, deren Kinder älter als drei Jahre waren, fort, und die Kleinen gaben sie entweder zu Verwandten oder in ein Kinderheim.
- In der Arbeitsarmee, - fährt Hanna Philippowna fort, - arbeitete ich in der Stadt Ischimbaj, Baschkirische ASSR. Anfangs bauten wir eine Fabrik, hoben unter dem Fundament Gräben aus. Von dem ständigen Schmutz und Schlamm bildeten sich nicht heilende Geschwüre, bissen sich Läuse fest, und auch die Verpflegung war äußerst dürftig. Danach schickten sie uns zum Holzabflößen. Dort lebten wir in Laubhütten auf den Flößen. Mit der Zeit sogen die Baumstämme sich mit Wasser voll und senkten sich herab, und das Wasser drang in die Hütten. Jene, deren Kräfte langsam nachließen, wurden zu leichteren Arbeiten in die Frühbeete und Treibhäuser der Hilfswirtschaften geschickt ...
So leisteteen die deportierten Deutschen Schwerstarbeit, unter Einsatz maximaler Kraftanstrengung, unter Bedingungen, die praktisch denen der Zwangsarbeit entsprachen. Aber ungeachtet dessen hielten sie durch und stellten sogar Arbeitsrekorde auf. Der Leiter der NKWD-Verwaltung für die Region Krasnojarsk, I. Semenow, schrieb in seinem schriftlichen Bericht an die Adresse der Abteilung für Sonderansiedlungen des NKWD der UdSSR im Februar 1946: „Viele der Siedler erfüllen und übererfüllen die Normen, sie sind wirklich fleißig“.
Die Zeit verrann. Mit ihr begann sich auch das Verhalten gegenüber den verschleppten Deutschland zu ändern. Für Bestarbeit verlieh man ihnen Orden und Medaillen. Unserem ganzen Bezirk sind die Namen vorbildlicher Arbeiter bekannt: der Schweinewärterin N. Gumenschaimer, des Mähdrescherführers R.Fertich, der Mechanisatoren F. Birich, A. Schrainer, I. Stil und vieler anderer.
- Alle Arbeiter wurden im Klub zusammengerufen, - erinnert sie sich, - an den Türen wurden Wachen aufgestellt, und der Vorsitzende der Kommandantur verlas einen Befehl, daß wir zur ewigen Ansiedlung hier bleiben mußten. Hier wurden wir auch gezwungen, das zu unterschreiben.
1949 heiratete Hanna Philippowna, aber den Nachnamen des Ehemannes durfte sie damals nicht annehmen, und auch das Heiraten war verboten. Dies wurde erst im Jahre 1957 genehmigt. Unter Kommandantur-Aufsicht standen die Sonderansiedler bis 1955. Im Jahre 1956 stellte man ihnen Pässe aus, gab ihnen ihre Arbeitspapiere und sagte ihnen, daß sie nun überall hinfahren könnten – wohin sie wollten. Infolgedessen kehrte Hanna Philippowna Schech mit ihrem Ehemann und Sohn nach Kuragino zurück. Später zog auch ihre Mutter zu ihnen.
Hanna Philippownas Schwestern leben in unserer krasnojarsker Region, Bruder Jakob ist nach Deutschland ausgereist. Und ihr hat man die Bezeichnung „Veteran der Arbeit“ zuerkannt, viele Dankbarkeitsbeweise hat sie für ihre fleißige Arbeit erhalten. Sie macht Gebrauch von den Vergünstigungen für Rehabilitierte (die entsprechende Verfügung erging im Jahre 1955), erhielt eine finanzielle Ausgleichszahlung für den seinerzeit konfiszierten Besitz.
- Aber freuen kann ich mich darüber nicht, - schließt sie ihre Erzählung, - mein Schicksal ist zerbrochen, die Gesundheit habe ich verloren, und im Kindesalter ist mein ältester Sohn gestorben.
Und ihre Tränen tropfen auf die sorgsam aufbewahrte Bescheinigung über die Beendigung der siebenklassigen Mittelschule in der Ortschaft Bauer, eine geographische Karte der deutschen Wolgarepublik und Fotografien, die seit der Zeit des Militärdienstes von Adolf Bruch, seit 1907, erhalten geblieben sind.
Irina Becher, Geschäftsführerin der kuraginsker Filiale des Zentrums für
deutsche Kultur,
Antonina Kaljuga, Leiterin der Archiv-Abteilung der Kreis-Verwaltung
„Tubinsker Nachrichten“, No. 145-148 (9669), 09.09.2004