Am 13. Oktober wird in Krasnojarsk die internationale wissenschaftliche Konferenz „Die Deutschen in Sibirien: Geschichte, Sprache, Kultur“ eröffnet. Im Rahmen dieser Veranstaltung wird am 14. September im Kulturhistorischen Zentrum an der Strelka der Film „Die Deutschen von Krasnojarsk“ gezeigt.
Einer der Filmhelden und Autor des Buches „Das Schicksal der Rußland-Deutschen“, Robert Maier, ließ sich 1974 in Krasnojarsk nieder. Hinter ihm liegen das UsolLag, die Zwangsansiedlung in Jenisejsk. Und Robert Adolfowitschs Vorfahren lebten seit 1765 auf russischem Boden.
- Wie haben sie es geschafft, das Bild vom Alltag ihrer Vorfahren, die in Rußland lebten, wiederaufleben zu lassen?
- Ich lebte in jenen Jahren, als die Traditionen noch gewahrt wurden; das ist jetzt alles zunichte gemacht, und die Leute haben aufgehört, ihre Vergangenheit zu empfinden. Seitdem der erste Vertreter des Maier-Geschlechtes diesen Boden betrat (wahrscheinlich Johannes, der früher in Deutschland Buchdrucker gewesen war), war es Brauch, seinen Kindern von Generation zu Generation so etwas wie Erzählungen zu vermitteln und weiterzugeben. All das wurde in Form von Notizen festgehalten. Jede junge Familie erhielt ein Schreibheft, das dann mit ganz neuen Materialien ergänzt wurde. Nach und nach entstand daraus ein ziemlich umfangreiches Heftchen von vierundzwanzig in gotischer Schrift geschriebenen Seiten, das bei meiner Verhaftung im Jahre 1942 beschlagnahmt wurde. Aber ich habe im Gedächtnis behalten, was dort geschrieben stand, um so mehr, als meine Mutter und ich das alles ins Russische übersetzt haben.
Meine Vorfahren brachten aus Deutschland die Kultur der Verehrung ihres Geschlechts mit. Es gab in unserer Familie eine sehr hoch entwickelte und jetzt dermaßen verlorengegangene Tradition, wie zum Beispiel das Vorlesen. Heute sitzt das Kindchen vor dem Fernseher, und das ist angenehm: es schaltet einen Zeichentrickfilm ein und kann sich mit seinen Sachen beschäftigen. Früher gab es diesen Kasten, Gott sei Dank, nicht. Deswegen wurden abends die Lampen angezündet, man setzte sich an den Tisch, und einer der Alten las laut vor. Um die Sprache zu erhalten, bemühte man sich, deutsche Märchen und Erzählungen vorzulesen.
Alles kommt mit zunehmendem Alter, und als ich bereits mein sechzigstes Lebensjahr überschritten hatte, begann ich mich dafür zu interessieren, wie es früher gewesen war. In meinem Buch gibt es nichts Ausgedachtes.
- Hat es eine Überprüfung der Einstellung zu ihren Wurzeln gegeben? Haben Sie angefangen sich neu zu sehen, umzudenken, als sie das Lager, die Zwangsansiedlung durchlaufen mußten?
- Nein, es gab keine Brüche in meiner bisherigen Vorstellung. Natürlich empfand jeder Deutsche, der in den 1930er Jahren oder später lebte, wie sich das Verhalten ihm gegenüber in Zusammenhang mit den Ereignissen, die in Deutschland vor sich gingen, änderte. Wir, die deutschen Jungs, fühlten natürlich unsere Besonderheit, unsere Entfremdung. Man muß sagen, daß den Deutschen, seit sie in Rußland aufgetaucht waren, immer mit einer gespannt-vorsichtigen Aufmerksamkeit begegnet wurde und die Leute ihnen mitunter sogar unverkennbar feindselig gesonnen waren. Die temporäre Regierung bereitete ein Ukas, eine Verordnung vor, mit der sie aus dem Wolgagebiet verschleppt werden sollten. Ja, und dann gab es diese Pogrome: in der Umgebung von Moskau, wie auch in Petersburg, wurden die Dorfteile, in denen die wohlhabenderen Deutschen lebten, vollständig niedergebrannt. Ich begriff, wodurch eine solche Haltung hervorgerufen worden war, und so kam bei mir keinerlei Erbitterung darüber auf.
- Was haben Sie Ihren Kindern und Enkeln über ihre Vorfahren erzählt?
- Die Söhne kennen größtenteils ihre Geschichte – die Enkelkinder eher weniger. Aber es ist mir nicht gelungen, die Sprache an sie weiterzugeben, weil ich sie in vieler Hinsicht selber schon verloren habe. Im täglichen Umgang kann ich sie noch anwenden. Aber das Leben erfordert die Kenntnis von immer mehr neuen Wörtern. Verstehen tue ich das, aber das Sprechen fällt mir schwer, ich traue mich nicht. Jedes Mal beim Deutschsprechen englische oder russische Begriffe mit hineinzubringen halte ich für unschön, und so versuche ich gar nicht erst etwas zu sagen. So habe ich mich, als der Botschafter hier war, mit ihm über eine Dolmetscherin unterhalten.
- Wie ist Ihre Einstellung gegenüber den Deutschen, die in ihre historische Heimat zurückgekehrt sind?
- Genauso, wie ich mich auch den Gläubigen gegenüber verhalte – mit Verständnis. Die Menschen glauben – das bedeutet, daß ihnen so das Leben leichter wird; genauso verhält es sich mit denen, die wehfahren – sie hoffen etwas im Leben zu gewinnen. Ich habe einen derartigen Versuch nicht unternommen, weil ich weiß, daß ich mich dort selbst nicht finden werde. Obwohl ich hier weniger verdiene, als ich dort an Rente bekommen würde.
Die Rußland-Deutschen haben sich in die russische Kultur eingelebt. Und ihre Sprache ist schon nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Deutschen in Deutschland verstehen sie nicht. Ich meine, daß es sinnlos ist, darauf zu hoffen, daß die Deutschen in Rußland ihre nationale Kultur bewahren können. Erstens ist das für den Staat nicht notwendig. Selbst der ehemalige russische Präsident Boris Jelzin, den die Masseninformationsmittel immer eifrig und sorgfältig als großen Demokraten hinstellten, antwortete auf die Frage einer Zeitung, wie es denn um die Möglichkeit bestellt sei, die Republik der Wolgadeutschen wiederherzustellen, mit einem Schmunzeln und sagte, daß man ihnen wohl den ehemaligen Truppenübungsplatz in Kapustin Jar am Unterlauf der Wolga zuteilen könnte – sollen sie doch den Ort von Minensplittern, Masut (Erdölrückstände; Anm. d. Übers.) und Diesel-Verschmutzungen säubern und sich dann dort niederlassen und einleben. Zweitens wird ihre Kultur in geschlossenen Enklaven ganz aussterben: es gibt keine lebendige Verbindung mit dem Volk, mit Deutschland.
Wir sind bereits keine Deutschen mehr. Etwas ist noch in unserer Seele zurückgeblieben, aber das sind nur irgendwelche Bruchstücke. Mir tun die Menschen leid, die von hier fortgegangen sind. Sie sind verloren. Sie geben zu, daß sie sich wegen der Kinder opfern. Aber ich verurteile sie nicht. Ich denke, daß unser Land nichts dadurch gewinnt, daß sie fortgehen. Es ist ein fleißiges, standhaftes und treues Volk. Es ist nicht ihre Schuld, daß sie Deutsche sind.
Irina DANILOWA
„Krasnojarskij Rabotschij, 09.10.2004