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Wir sind alle Kinder Russlands

In den Schicksalen dieser beiden Menschen gibt es viele Gemeinsamkeiten, weil sie vor dem Krieg in Leningrad geboren wurden; beide sind deutscher Nationalität und gerieten deswegen ins Mahlwerk der Stalinistischen Verfolgungen.

Irma Petrowna Primatschuk, geborene Nussbaum, wurde 1941 fünf Jahre alt. Ihre große Familie – die Eltern hatten sechs Kinder – lebte drei Kilometer von Leningrad entfernt in einer Sowchose, wo Gemüse für die Stadt angebaut wurde. Vater und Mutter arbeiteten auf dem Hof, ernährten sich mit Mühe durch ihrer Hände Arbeit. Doch ihr geregeltes Leben nahm mit dem Ausbruch des Krieges ein jähes Ende. Als die Front näher an Leningrad heranrückte, holten sie Vater Pjotr Aleksandrowitsch in die Arbeitsarmee. Die kleine Irma erinnerte sich ihr Leben lang an die direkt in der Siedlung ausgehobenen Schützengräben.
Die unter Blockade stehenden Leningrader litten Hunger. Die Kinder rannten zu den Stellungen der Soldaten, die ihnen ihre letzten Brotstückchen gaben.

In der Familie Nussbaum starben vier Kinder an Erschöpfung, die Mutter erkrankte. 1942 wurden die noch lebenden Familienmitglieder aus Leningrad deportiert. Man transportierte sie in Güterwaggons ins ferne Sibirien. Unterwegs verstarb die Großmutter an Hunger. Sie gelangten in den Suchobusimsker Bezirk. Zunächst wurden sie in dem kleinen Taiga-Dörfchen Ust-Kann untergebracht, später verfrachtete man sie zur zweiten Abteilung der Sowchose „Tajoschnij“ – nach Bolschie Prudy, wo sie bis 1952 blieben. Irma absolvierte die örtliche Schule. Anschließend zog sie nach Suchobusimskoje.

Hier heiratete Irma Petrowna den Burschen Dnis Stepanowitsch Primatschuk, der sich in sie verliebt hatte. Eine Tochter und ein Sohn wurden geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann arbeitete sie zwanzig Jahre in der Bauabteilung der Sowchose „Suchobusimskij“, danach noch weitere sieben Jahre – bis zur Rente – in der kommunalen Wirtschaft. Ihr Mann starb vor 18 Jahren, und nun lebt Irma Petrowna allein in dem alten löchrigen Häuschen. Im Winter speichert es die Wärme nicht; egal, wie viel auch geheizt wird – der Boden ist vereist, so dass die Frau ihre Filzstiefel niemals auszieht. Und Brennholz ist heute teuer. Diesen Frühling erhielt Irma Petrowna eine Bescheinigung darüber, dass sie Einwohner Leningrads zur Zeit der Blockade war, und dazu bekam sie eine Anstecknadel. Außerdem gab es einen zusätzlichen Betrag zur Rente in Höhe von 283 Rubel, so dass sie jetzt 1669 Rubel bekommt. Von dieser Summe kannst du aber heutzutage nicht leben. Gut, dass die Kinder ihr auch noch helfen. Das Amt für Sozialfürsorge hat versprochen, ihr ein Zimmer im Haus der Veteranen zuzuweisen. Aber es heißt, dass sie auf die Einlösung dieses Versprechens wohl drei Jahre warten muss.

Der Einwohner von Suchobusimskij Leonid Michailowitsch Junker wurde 1938 in Leningrad in einer Familie Petersburger Nachfahren geboren. Er blickt auf ein Berufsleben von 46 Jahren zurück, ist Arbeitsveteran der Region Krasnojarsk. Bis zum Krieg lebte Lenja mit seinen beiden älteren Schwestern und den Eltern in der schönen Wohnung eines großen Hauses auf dem Newskij-Prospekt in Leningrad. Sein Vater Michail Iwanowitsch war Teilnehmer am Finnischen Krieg. Nachdem er zurück gekehrt war, arbeitete er als Ladearbeiter am Bahnhof. Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges berief man ihn in die Armee ein. Der Truppenteil war neben der Stadt stationiert; in Vorbereitung der Verteidigung hoben die Soldaten Schützengräben aus. Die Mutter fuhr oft mit den Kinderchen dorthin, um den Vater zu besuchen. Einmal sagte er: „Kommt nicht mehr her. Wir fahren an die vorderste Front“. Konnte er denn ahnen, dass seiner Familie ebenfalls eine lange und gefährliche Fahrt bevorstand – die Deportation nach Sibirien.

Im März 1942 ließ man die Deutschen aus Leningrad, die als Unzuverlässige galten, in einen Güterzug steigen, der in Richtung Osten fuhr. Sie waren lange unterwegs. An jeder Bahnstation wurden Leichen herausgetragen – Menschen, die während der Fahrt durch Erschöpfung und Krankheit gestorben waren. Galina Josifowna Junker gelangte ebenfalls mit den Kindern nach Ust-Kian. Alle Deportierten hausten in ausgegrabenen Erdhütten und halb mit Erdreich zugeschütteten Holzbuden. Die Frauen arbeiteten in der Taiga beim Holzeinschlag – sie fällten, zersägten, rodeten Bäume, - und vielen von der schweren Arbeit buchstäblich selber um.

- Nachts war es schrecklich, - erinnert sich Leonid Michailowitsch. – Mama ist auf der Arbeit. Schaust du aus dem Fensterchen, dann scheint es, als ob ein wildes Tier dich von draußen anstarrt.

1947 kehrte der Onkel aus der Arbeitsarmee zurück; er wurde wegen einer Augen-Verletzung entlassen. Er nahm uns und brachte uns nach Suchobusimskoje. Dort fanden Mama und meine Schwester Arbeit. Bis 1956 oder 1957, so lange sie noch unter der Kommandantur des NKWD standen, mussten sich alle Deportierten zweimal im Monat dort melden. Möge Gott verhindern, dass man sich dort um 12 Stunden verspätete – sie würden einen für drei Tage einsperren. Wir hatten kein Wahlrecht und wurden nicht in die Armee aufgenommen. Ich war der erste Deutsche, der zur Armee kam – das war 1958 im Alter von 20 Jahren. Zuvor hatte ich die mittlere technische Berufsfachschule für Kraftfahrer absolviert. Daher war ich als Fahrer in der Armee. Als ich ausgedient hatte, fand ich Arbeit als Fahrer in der Sowchose „Suchobusimskij“, anschließend als Chauffeur beim Bezirks-Exekutivkomitee. Ich war verheiratet; 1990 verwitwete ich. Ich habe zwei erwachsene Töchter, die Enkel wachsen heran. Beide Schwestern leben seit 1993 in Deutschland. Aber ich bin hier geblieben. Jetzt geben einem auch die ins Ausland gegangenen Angehörigen den guten Rat: „Bleib dort, wo du jetzt wohnst, Michailowitsch“. Wer wartet denn dort auf mich? Hier habe ich alles, und meine Frau ist hier begraben. Für mich ist Russland die einzige Heimat. Und wir alle, egal, welcher Nationalität wir auch angehören, sind Russen.

Ludmila Dubakowa

„Land-Leben“ (Suchobusimskoje, 30.10.2004


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