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Festtage

Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Und, egal wie sich unsere norilsker Schicksale auch gefügt haben mögen – aber die Freuden unserer Kindheit, die wir am Neujahrsfest empfanden, werden für immer unsere Herzen erwärmen. Ja und überhaupt – ist das alles nicht so einfach mit diesen Neujahrserinnerungen.

Anna

Anna Wasilewna Bigus, gebürtig „aus Kolomea“ (Stadt im Iwano-Frankowsker Gebiet, Ukraine; Anm. d. Übers.), lebt seit 58 Jahren im Norden. Von 1946 bis 1955 begrüßte sie, die junge politische Gefangene, das neue Jahr im NorilLag, in der 6.Lagerabteilung für Frauen.

Dass draußen ein Festtag begangen wurde, berechneten die Häftlinge anhand von Kalendern, die ihnen aus der Freiheitzugestellt wurden. Sie machten darin folgende Vermerke – „heißes Wasser getrunken und – ab auf die Pritschen“. Der arbeitsfreie Tag für die freien Arbeiter – war ebenfalls ein wahrer Gegenstand des winterlichen Festtags. Ein echter, mit Äpfeln geschmückter Tannenbaum (extra aus dem auf dem Dachboden lagernden Heu hergestellt!), Pfefferkuchen, kleine Spatzen-Vögelchen, die Mama gebacken hatte – all das ist in der wärmenden Kindheit zurückgeblieben. Nach dem Pflügen bei Frost in Unfreiheit konnte man davon auch schon nicht mehr träumen. In ihrer Baracke hat es niemals Tannennadeln oder irgendeine Form von festlichem Glanz gegeben …

Nach der Lagerhaft arbeitete Anna als Ober-Weichenstellerin an der 2. Ausweichstelle, leitete die mit Erzen beladenen Züge zur großen Aufbereitungsanlage um. Und sie war in einem Gemeinschaftswohnheim in Medweschka untergebracht, welches viele im Lager groß gewordene Menschen beherbergte. Sie kann sich nicht daran erinnern, dass im Wohnheim jemals ein Tannenbaum aufgestellt wurde, aber dort war eine recht gut, kreative Gesellschaft zusammengekommen. Und auch die Bewirtung war – ganz besonders. Mitte der 1950er Jahre sah der Neujahrsfesttisch der Werktätigen des Kombinats in Medweschka so aus – Makkaroni zu Schnaps und bestes Essen – eingeweichte, getrocknete Kartoffeln, Zwiebeln, Rüben mit Rindfleisch geschmort. Das Kombinat bevorratete sich damals mit Lebensmitteln auf 20 Jahre im Voraus; das Fleisch in den Eiskellern gefror sich „zu Tode“, und musste später tagelang aufgetaut werden.

Ein Tannenbaum tauchte in der Familie Bigus nach der Geburt des Töchterchens auf. Das Zimmer wurde mit selbstgemachten Papier-Girlanden geschmückt, Konfekt in Buntpapier gewickelt, um diese dann „am Öhrchen“ an die Tanne zu hängen. Irgendjemand schenkte ihnen sogar einmal einen seltenen „Engel“ – ein Engelchen; und ganz besonders hübsche Neujahrsspielsachen schickten den Nordbewohnern die Verwandten vom Festland. Bis heute ist in der Familie noch ein tannenbaumförmiger Wecker erhalten geblieben, der seiner Zeit aus schwerem Glas gegossen wurde, und ewig Mitternacht anzeigt.

Anna Wasilewna, eine selten gute Meisterin, nähte ihrem Töchterchen Natalia für die Neujahrsfeier festliche Kleidung ganz im Geiste der Zeit, - eine Friedenstaube, Roten Mohn; aber sie nähte sie nicht, wie es damals üblich war, aus gestärktem Mull, und ihre ganze Schöpfung verwandelte sich in Kinder-Ausgehkleidchen.

Ich fragte diese bemerkenswerte Frau mit den „silbrigen“ Jahren, was sie von Väterchen Frost erbeten hätte, wenn sie ihm doch plötzlich begegnet wäre. Vielleicht ein anderes Schicksal in ihrer Jugend? … „Das ist alles ein Märchen, - antwortete sie, - und es ist nicht nötig, ihn überhaupt um etwas zu bitten, denn wenn du nicht selber deine Schultern gerade machst, selber anpackst – dann wirst du auch nichts zustande bringen…“.

(Artikel in gekürzter Fassung)

Irina Danilenko

„Polar-Wahrheit“, 31.12.2004


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