Im August 1949 landete am Ufer des Jenissei, im Bezirk Atamanowo, der erste Trupp von Bauarbeitern an. Ein Jahr später beginnt hier auf Anweisung Josef Stalins der grandiose Bau eines Rüstungsbetriebs für die Aufarbeitung von Plutonium in Industrie-Reaktoren (heute Bergbau- und Chemie-Kombinat). Zur Sicherheit und zum Schutz vor möglichen Atomschlägen aus der Luft ("der Kalte Krieg" war in vollem Gange) wurde beschlossen, die Fabrik tief unter die Erde, in die Felsen, hineinzubauen. Das einzigartige, höchstgeheime Unternehmen wurde, ebenso wie die Neun (die Stadt Schelesnogorsk) nicht nur von militärischen und zivilen Bauarbeitern, sondern auch von tausenden Gefangenen errichtet.
In den fünfziger Jahren hätten die Krasnojarsker nicht geargwöhnt, dass sich nur knapp 100 km vom Regionszentrum entfernt in dem dicken Bergmassiv, in einer Tiefe von 200 m eine einzigartige und gefährliche Atom-Produktion vor sich ging. Erst nach dem Zerfall der Union und der Tragödie von Tschernobyl fing man an, über das Bergbau- und Chemie-Kombinat als «Pulverfass» zu reden.
Damals wurden in den Felsen sogenannte Zyklopen-Arbeiten durchgeführt ( 8in der Art der Cheops-Pyramiden). Jede war 72 m hoch (vergleichbar mit der Höhe eines 25-geschossigen Hauses), 20 m breit und 105 m lang. Ursprünglich war geplant, unterirdisch eine komplette Stadt unterzubringen. Aber nach einem Besuch von Generalsekretär Chruschtschow, dem das Projekt zu teuer erschien, nahm man von der Idee Abstand.
Was für Legenden damals nur über den Bau des Bauprojekts im Umlauf waren. Darüber, dass aufgrund der unmenschlichen Bedingungen im Lager eine grausame hohe Sterblichkeitsrate herrschte, und man die Leichen einfach in den Sumpf warf; dass man die Häftlings-«Experten» nicht in die Freiheit entließ, sondern sie ebenfalls vernichtete, damit sie keine geheimen Informationen nach außen durchsickern ließen; dass das «Atom-GULAG» mehr Menschenleben forderte, als die Atombomben-Abwürfe über Hiroshima und Nagasaki.
Ein Korrespondent von «Argumente und Fakten am Jenissei» traf sich mit dem stellvertretenden Direktor des Museums- und Ausstellungszentrums in Schelesnogorsk, Sergej Kutschin. Er ist Autor zweier Bücher, die ausschließlich auf Archiv-Dokumenten und den Erinnerungen basieren. Außerdem arbeitete er selber 7 Jahre lang mit Gefangenen beim Bergbau. Er berichtete auch darüber, was tatsächlich geschah. Innerhalb des Lagers gab es zehn Abteilungen, zwei waren beim Bau des Gas- und Chemie-Komplexes und im Wohnungsbau tätig, die anderen – in der Holzfällerei, in der Ziegelfabrik in Sykowo, der Asbest-Zement-Fabrik in Krasnojarsk. Unter den Gefangenen gab es auch Frauen; sie wurden zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen.
Ende 1952 und Angang 1953 erreichte die Zahl der Häftlinge den Höchststand von 27000. 1953 gingen aufgrund einer Amnestie, die mit dem Tode Stalins im Zusammenhang stand, gleichzeitig 17000 Gefangene in die Freiheit. In den 1960er Jahren setzte nach und nach eine Reduzierung der Lager-Abteilungen ein. Und bereits 1964 gab es auf dem Territorium der Stadt praktisch keine Häftlinge mehr.
Der Hauptanreiz für die hohe Arbeitsproduktivität der Häftlinge war das sogenannte Anrechnungssystem. Jeder wünschte sich, an Stelle von drei Tagen seines Strafmaßes nur einen zu erhalten. Insgesamt saß ein zu 10 Jahren verurteilter Mensch dann lediglich 3,5 Jahre ab. Die Arbeit wurde nach einheitlichen Tarif- sätzen und offiziellen Gehältern bezahlt. Allerdings entfielen 33% des Verdienstes auf die Bewachung und Verpflegung, der Restbetrag wurde dem persönlichen Konto gutgeschrieben. Eine Zeit lang zahlte man das Geld bar auf die Hand aus, was negative Folgen nach sich zog: Kartenspiel mit Geldeinsatz, Korruption beim Abschluss von Aufträgen, Erpressung, Trunksucht, Drogenkonsum usw.
Selbst der Oberbuchhalter konnte sich nicht beherrschen: er beschloss zusätzliches Geld zu verdienen. Mit Gefangenen, die in Kürze frei gelassen werden sollten, schloss er Geschäfte ab, indem er ihnen Lohnzahlungen zuordnete, die Differenz sollten sie per Post an ihn schicken. Man deckte sein Handeln auf – er erhielt 10 Jahre, und saß in demselben Lager.
Übrigens, die Gefangenen wurden dreimal täglich verpflegt, täglich gehörten zum wechselnden Menu Fleisch, Fisch, verschieden Sorten Brei, Gemüse usw. Diejenigen, die Schwerstarbeiten leisten mussten, erhielten eine Zusatz-Ration. Und in den Baracken standen Fässer mit Trockenmilch und gesalzenem Buckellachs.
Die Häftlinge im Lager verbüßten Strafen wegen der unterschiedlichsten Verbrechen, hauptsächlich jedoch wegen des Diebstahls von staatlichem und gesellschaftlichem Eigentum, wegen Verletzung der Arbeitsdisziplin, kleinerer Diebstähle sowie Spekulation. Allerdings gab es auch gefährliche Wiederholungstäter, Mörder, Vergewaltiger und sogar Mitarbeit in Strafkommandos. Der Schutzmann Stritschka hatte während des Krieges im Gebiet Poltawa an der Erschießung von Partisanen, Kommunisten, Kriegsgefangenen und sogar an Verhaftungen und Vertreibungen seiner eigenen Dorfmitbewohner nach Deutschland teilgenommen. Während er seine Strafe verbüßte, verplapperte er sich und verriet einem Gehilfen, dass er seine Strafe unter einem falschen Nachnamen absaß. Anschließend töte er diesen, weil er fürchtete, enthüllt zu werden. Stritschka wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt.
Wegen Betrügerei verbüßte der Held der Sowjetunion I. Medwedjew, der mit der Tochter eines Generals verheiratet war und als Leiter der «Petrowsker Passage» in Moskau tätig war, eine Strafe. Nach der Gerichtsverhandlung sagten die hochgestellten Verwandten sich von ihm los. In den Ermittlungsunterlagen war er als reicher, gebildeter Moskauer Bürger vermerkt. Nachdem er seine Strafe «abgesessen» hatte, heiratete er eine Inspektorin der Sonder-Abteilung, die daraufhin wegen Beziehungen zu einem Gefangenen unverzüglich entlassen wurde.
Vor dem Hintergrund der heutigen Tatsachen sehen die Strafmaßnahmen der in jenen Jahren Verurteilten ungeheuerlich aus. So steckte beispielsweise eine Sibirjakin, die während des Krieges in der Kolchose arbeitete, ein wenig Weizen in den Ärmel, um ihren hungernden Kinder etwas zu essen zu geben. Man verurteilte sie zu 5 Jahren, die Kleinen blieben als Waisen zurück, denn der Vater befand sich zu der Zeit an der Front. In der Lagerzone verlor die Frau den Verstand.
Wie in jedem Lager gab es auch hier «Zubläser» (Denunzianten, die man aus Furcht vor Gewaltakten in getrennten Unterabteilungen unterbrachte), und Hitzköpfe, welche Krankheiten simulierten, zerstoßenes Glas aßen, sich die Venen durchtrennten, mit der Axt auf Begleitsoldaten losstürzten und Meutereien anzettelten...
Einmal wurde eine Kolonne Verurteilter nach der Arbeit ins Lager zurückgeführt. Zu der Zeit kam gerade General Sakussilo vorbei. Der betrunkene Sträfling Pitschuschkin (er hatte am Vorabend zusammen mit anderen einen Waggon mit Wein aufgebrochen) stürzte mit dem Schrei: «Verprügelt den General!» auf das Fahrzeug los. Mit dem Aufruf «Hinlegen!» begannen die Begleitsoldaten zu schießen. Die Häftlinge fielen in den Schnee, doch es war schon zu spät: unter ihnen gab es Getötete und Verwundete. Am Abend verübten die Gefangenen an dem Provokateur Selbstjustiz. Man entdeckte ihn tot neben der Baracke. Und am Morgen verkündete die Brigade den Streik und verlangte ein Treffen mit dem Staatsanwalt. Als Geiseln nahmen die Häftlinge einen Wachmann und zwei Aufseher. Auf dem Territorium der Lagerzone wurden Barrikaden errichtet. Nach einem zweistündigen Gespräch mit dem Staatsanwalt, der versprach, die erfolgten Erschießungen gerichtlich zu verfolgen (man sagt, dass er die Lagerzone mit ergrauten Schläfen verließ), gingen die Gefangenen zwei Tage nicht zur Arbeit.
Jedes Jahr versuchten 5-8 Lagerinsassen zu fliehen, doch das gestaltete sich keineswegs einfach: die Lagerabteilungen befanden sich innerhalb der Stadt- oder Industriebereiche, waren mit elektrischem Stacheldraht umgeben und wurden zudem bewacht.
Trotz der Isolationsbedingungen, wurde hier trotzdem geliebt, und es kamen auch Kinder zur Welt. Wegen ihrer Beziehungen zu Häftlingen wurden viele Arbeiterinnen der Lagerzone verfolgt oder vom Arbeitsplatz entlassen.
Einmal näherte sich eine Brigade inhaftierter Männer, die bei der Heumahd in Nowij Put arbeitete, ziemlich dicht der Frauenabteilung; ein paar nahe dem Tor befindlichen jungen Frauen überredeten die Wachleute, die Männer herein zu lassen oder ihnen selber die Möglichkeit zu geben, sich für ein Stündchen zu den Burschen zu begeben. Die Wachen zögerten, wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Zu dem Zeitpunkt kam General Zarewskij dort vorbei; nachdem er das Durcheinander am Tor bemerkt hatte, stoppte er das Fahrzeug und befahl der Wache dieses zu öffnen, um die Männer ins Frauenlager zu lassen. «Zier dich nicht! Ich übernehme die ganze Verantwortung, - sagte er zum Wachmann und warnte die Häftlinge, dass sie nichts Unerlaubtes tun sollten. Für die Begegnungen mit den Frauen gab er ihnen eineinhalb Stunden Zeit. Die Gefangenen untermauerten die Ermahnung auch nicht, sondern verließen ihre Liebsten exakt nach der festgesetzten Zeit.
Olga LOBSINA
In den 15 Jahren seiner Existenz durchliefen 80483 Häftlinge die
Lagerabteilungen des Poljansker Besserungs-/Arbeitslagers. In diesem Zeitraum
starben aus unterschiedlichen Gründen 436 Gefangene. Aufgrund von Krankheiten –
235, durch Unfälle bei der Arbeit - 75, durch Mord bei Schlägereien
untereinander, Erschießungen bei Fluchtversuchen - 110, durch Selbstmord - 16.
Im Besserungs-/Arbeitslager verbüßten Häftlinge unterschiedlicher Nationalität
ihre Strafe. Unter ihnen befanden sich: 231 Polen, 96 Deutsche, 21 Griechen, 10
Rumänen, 29 Bulgaren, 2 Finnen, 1 Farbiger, 1 Spanier.
Lebensmittelnorm der Gefangenen im Besserungs-/Arbeitslager (pro Pers. Und Tag in Gramm)
Lebensmittel | Norm ¹1 (Basis) | Íîðìà ¹2 für Häftl. auf Sonderbauten |
Brot aus Mehl einfachen Mahlgutes | 700 | 800 |
Weizenmehl | 10 | 10 |
Verschiedene Graupen | 110 | 130 |
Nudeln | 10 | 10 |
Fleisch | 20 | 40 |
Fisch | 60 | 120 |
Fett | 15 | 2 |
Zucker | 20 | 30 |
Salz | 20 | 24 |
Surrogat-Tee | 2 | 2 |
Tomatenpüree | 10 | 18 |
Pfeffer | 0,1 | 0,18 |
Lorbeerblätter | 0.1 | 0.18 |
Kartoffeln, Gemüse | 650 | 800 |
„Argumente und Fakten am Jenissei“, ¹ 34, 2004