Vonmeinem „Gemüsegarten“ sammelte ich eine Handvoll Erde in der Tundra ein und nahm sie in meinem Rucksack mit. Jedes Frühjahr werde ich an einem kleinen Plätzchen unter dem Fenster Dill und Radieschen aussäen, Zwiebeln und Knoblauch pflanzen. An meinem Zaun entlang wachsen kleine, grüne Lärchen und rote Johannisbeer-Sträucher, und Sumpfporst, Weide und Kamille fanden sich dort ganz von selbst ein.
Großvater Saposchok (wörtl.: Stiefelchen; Anm. d. Übers.) steht einen Meter von mir entfernthinter dem Drahtzaun, pafft schweigend seine Pfeife und schaut zu, wie ich das Beet bearbeite. Ich sehe seine zittrigen Hände und weiß, was er von mir braucht, aber ich schweige ebenfalls.
- Was gräbst du denn da? – hört man ihn schließlich fragen. Um mein Lachen zu verbergen, bücke ich mich ganz zum Boden hinunter. Die Situation erinnerte mich sehr an die, die in der berühmten Erzählung von Marta Larna erzählt wird.
- Jene Deutschen haben das auch so gemacht. Du erntest nur einmal, aber jene haben dreimal geerntet. Die kannten sich schnell aus mit dem Boden. Kartoffeln haben die auch gepflanzt, und Rüben und Kohl ...
Ich weiß inzwschen schon, daß „jene“ die verbannten Wolga-Deutschen sind, die von hier vor mehr als einem Vierteljahrhundert „nach Hause“ abgereist sind, kurz nach dem Ukas über die Rehabilitationen im Jahre 1964. Diese Siedlung, Schdanicha, wurde von ihnen 1942 gegründet. Später dann, als es hier bereits die Diesel-Trafostation und die Schule gab, kamen die Nomaden vom Volk der Dolganen aus der ganzen Umgebung hierher gefahren. Heute ist es eine Dolganen-Siedlung. Die Verbannten haben hier, auf dem 72. Breitengrad, Kartoffeln und andere Gemüsesorten angebaut, und Radieschen konnten sie in jeder Saison gleich dreimal ernten. Das Kartoffelpflanzen habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben – die Kinder ziehen sie sowieso aus lauter Neugier heraus, aber die Radieschen wachsen auch bei mir gut, sie werden groß, aber ernten kann man sie nur einmal. Ich beende meine Arbeit auf dem Beet und bitten den Alten ins Haus:
- Kommen Sie herein, Konon Jewdokimowitsch.
Großvater Stiefelchen hat diesen Spitznamen wegen seiner kleinen Schuhgröße erhalten, und damit endet seine Ähnlichkeit mit dem römischen Imperator Caligula auch schon. Er ist 63 Jahre alt, und nach hiesigem Verständnis ist das eine ganze Menge – „ganz schön alt“. Die Dolganen-Siedlungen sind voller Witwen und betagter Frauen, aber alte Männer kann man an den Fingern abzählen. Jedes Jahr sterben junge, kräftige Männer in der Tundra oder auf dem Wasser, sie kommen ums Leben – und das hauptsächlich wegen ihrer Trunksucht. Die Zahl der Witwen steigt, die Kinder wachsen ohne Väter auf...
- Na, der Sander, der hat es gemacht. – Stiefelchen stellt einen Teekessel aus dickem weißen Blech und einer bronzefarbenen Pfeife am Schnabel auf den Tisch. Nach dem ersten Gläschen wird der Großvater etwas lebhafter und fängt zu meiner Verwunderung an, die gegenstände im Zimmer und auf dem Tisch auf Deutsch zu benennen: Becher, Glas, Flint, Uhr, Brot, Wasser, der Waschbecken... Ich nehme den Teekessel in die Hand. Es ist ein schönes, altes, haltbares Stück. Der obere Teil ist mit einer Vielzahl kleiner Nieten an den Boden angenietet und angelötet. Der Griff ist aus Rentierhorn. Die Pfeife ist mit einer massiven Kupferkette am Schnabel angebracht, die in all den Jahren nicht ein einziges Mal gerissen ist. Den Kessel hat eine Kugel schräg durchschlagen, aber die Austrittsöffnung ist sorgfältig bearbeitet worden, und beide Löcher sind mit hölzernen Stöpseln verschlossen. Jedenfalls ist der Teekessel tauglich.
- Wieso hat er einen Einschuß? – frage ich mit Bedauern.
- Na, der Bruder war betrunken. Gib ihn her, sagt er, er pfeift. Du kriegst ihn nicht, sage ich. Na, gib ihn schon her. Ich geb ihn dir nicht, sage ich. Dann bekommt ihn eben niemand, sagt er, nimmt den Karabiner und ... Ein Dummkopf, wenn er trinkt. Am Morgen aber tat es ihm schrecklich leid – er weinte. Na, was soll man da schon machen ...
Ich nicke mit dem Kopf. Verständlich: wer dedauert nicht am nächsten Morgen, was er am Abend zuvor angerichtet hat?!
In der Siedlung ist die Bäckerei nicht in Betrieb, deswegen habe ich selbst einen Teig in Vorbereitung. Ich stelle mich an den Backofen, und schon bald darauf lege ich dem Großvater einen kleinen Stoß heißer Pfannkuchen auf den Teller. Und dazu gieße ich ihm einen kräftigen Tundra-Tee in den Krug. Ich freue mich immer über den gebrechlichen, ruhigen, kleingewachsenen Alten. Einmal schimpfte er mich aus, weil ich die Fischnetzte nicht richtig ausgelegt hatte. Dabei erklärte er: „Fische – das sind doch auch Menschen!“ – Er lehrte mich, wie man das Gewehr mit heißem Wasser und den Karabiner mit einem Bindfaden reinigt. Von ihm lernte ich auch, wie man einen Tag im voraus das Wetter bestimmt, wie man ganz geschickt einfache Fischerknoten macht, wie man Schrot selber herstellt, und wie man in einem wegen der Mäuseschwemme schlechten Tundra-Jahr, wenn der Polarfuchs nicht an den Köder geht, diese verspielten, weißen Füchschen mit einem Fetzen Rentierfell fängt. Ich höre dem Großvater zu, und ihm rinnt von dem heißen Tee bereits der Schweiß in drei kleinen Bächlein von der Stirn herab.
Viele wissen, daß die Wolgadeutschen 1941 nach Sibirien und Kasachstan verschleppt und dort verstreut in Städten und entlegenen Ortschaften angesiedelt wurden, damit sie nirgends eine Bevölkerungsmehrheit bilden konnten. Es ist ebenfalls bekannt, daß auch weiter flußabwärts am Jenisej, fast bis nach Dickson, Siedler verschleppt wurden. Sie wurden direkt am kahlen Ufer abgesetzt: Nun seht zu, wie ihr euch hier zurechtfindet und einlebt, fangt Fisch und erfüllt das Plansoll!
Auch hierher, in die unvorstellbaren Weiten, ans Ostufer des Taijmyr-Flusses, wurden Wolgadeutsche verschleppt, und später auch Kalmücken. Anfang 1942 bahnten Eisbrecher mehreren, mit Häftlingen beladenen, Lastkähnen den Weg durch die mit dickem Eis versperrte Wilkizker Meerenge. Die erste Partie gelangte in die Fischfabrik von Chatanga – dort gab es wenigstens ein paar Baracken, wo sie unterkommen konnten. Die übrigen wurden verstreut in Jägersiedlungen, Fischfangstationen oder einfach am leeren Ufer abgesetzt und zurückgelassen.
- Alles Frauen und kleine Kinder. Nur viel zu wenig Männer, die eine Axt halten konnten. Sie gruben sich Höhlen, wie die Wölfe, und der Boden war doch gefroren. Es taut – es taut, es ist naß, rutschig – aber eines ist ganz schlimm: sie husten stark, viele sind gestorben ...
In Unkenntnis über die Eigenschaften des ewigen Frostes machten die Menschen den Fehler, sich in den Erdhöhlen vor dem Frost zu verkriechen. Im zweiten Jahr begannen die Überlebenden „Häuser“ aus dem Holz der umliegenden Wälder zu bauen, aus den Lärchen der Wald-Tundra. Die maximale Stärke solcher Stämme betrug 15-17 Zentimeter. Tisch und Stühle aus Rundhölzern, der Ofen aus einem Eisenfaß und Bänke an den Wänden – und darin bestanddie ganze Ausstattung einer solchen Kate. Und dann sollten sie auch noch die ihnen vorgegebenen Fischfangquoten sowie das Plansoll für die Rebhuhnjagd und die Beschaffung von Pelzwaren erfüllen. Sie taten, was sie konnten, um die Kinder großzuziehen und sie Gutes zu lehren.
- Neben jeder Grube stand ein NKWD-Mitarbeiter, zählte die Fische und schrieb alles in ein Büchlein. Aber er hat uns auch etwas gegeben! Nimm ein paar – 2 oder 3 – für dich und deine Familie. Aber der Deutsche durfte das nicht! Und der Kalmück – auch nicht! Ganz egal! Aber wir haben trotzdem ein bißchen eingesteckt. Den Deutsche was gegeben, den Kalmücken was gegeben. Und so haben sie überlebt! Damals kam ein wildes Ren in den Ort Awam, aber es ergab nur ganz wenig Fleisch. Damals fingen sie Rebhühner, die Schlingen hatten sie aus Frauenhaar angefertigt. Die alte Maria-Lisa aß nichts davon; sie sagte, daß Gott ohr nicht befohlen hätte, das Fleisch von strangulierten Tieren zu essen… Ihre beiden Kinder aßen, sie blieben am Leben. Sie selbst verstarb im Frühjahr
Fünftausend Dolganen leben in den neun Siedlungen des Bezirks Chatanga, und fast in jedem gab es verbannte Deutsche. Und ihnen allen halfen die Nomaden zu überleben, indem sie sich respektvoll gegenüber meinen fleißigen Landsleuten, ihrem geistigen Reichtum, der Zuverlässigkeit ihrer Worte und ihrer immerwährenden Hilfsbereitschaft verhielten.
Heutzutage sind die verwilderten Verbannten-Siedlungen nahe Wolotschanka, in Cheta, Kresty und Kasatschka, in NowoLetowja, Taba-Aryta, in Starorybnaja, Malaja Balachna und Syndassko entvölkert. Unversehrt ist den Menschen noch die Siedlung Schdanicha erhalten geblieben. Sie liegt ganz gemütlich an dem gleichnamigen Flüßchen; vor dem grausamen Chius-Wind, einem scharfen Nordost-Wind, wird sie durch Berge geschützt, und der Wind, der aus Südwest kommt, ist sowieso nicht so stark ...
Außer einem Grabhügelchen, gibt es hier noch den „deutschen“ Speicher und einige „deutsche“ Häuser. Klein sind sie, diese Häuser, für 2-4 Familien, zusammengehauen aus hiesigem Holz, umgeben von hohen Erdaufwürfen; sie speichern hervorragend Wärme.Noch kein einziges davon hat sich im ewigen Frostboden abgesenkt, sie sind alle noch in gutem Zustand und den Menschen nützlich.
-Konon Jewdokimowitsch, - sagte ich zum Großvater, - laßt mir den Teekessel hier. Ich werde die Flicken herausschneiden, die Stellen verlöten, - er wird wieder wie neu!
Saposchok nickt erfreut, und man muß unwillkürlich über sein glückliches Gesicht lächeln: der Katzenjammer ist mit einem Schnäpschen vertrieben, der Teekessel wird in Ordnung gebracht und mit einem Menschen geredet hat er auch!
- Konon Jewdokimowitsch, hattet ihr denn keine starken Bindfäden, daß ihr damals die Fangschlingen für die Rebhühner aus Frauenhaar herstellen mußtet?
- Nicht nur die Schlingen, auch die Netze wurden aus haar gemacht! – blüht der Alte auf. – Es gab nur nicht so viel Haar! Aber weiche Tücher gab es damals, und dann hieß es: gib her! Hast du einen Wollrock oder ein Wollhemd? Her damit! Und einen Schal? Gib alles her! Sie haben Fäden herausgezogen und Netze geknüpft. Solche Netze waren ganz fein, aber stark. Die Fische sehen sie nicht, haben keine Angst und schwimmen in großer Zahl hinein!
Ich weiß, wie viel Mühe es kostet, mit der Hand ein ein feines, glattes und haltbares Netz aus einer Angelschnur zu knüpfen, und werde für einen Augenblick nachdenklich. Saposchok schiebt mir seinen leeren Krug zu, leise klirrt der Löffel. Seine schmalen Augen sind ganz dunkel von all den Erinnerungen.
- Die rote Fahne – aus der haben sie auch heimlich Fäden herausgezogen... Es lagen viele davon auf dem Speicher. Damals sagt der Leiter – das war eine Maus. Dann brauchen wir einen Kater. Die Haare wachsen wieder, aber wie soll die rote Fahne wieder wachsen?
Zufrieden lacht der Großvater, ganz leise, und schiebt dabei den Krug noch näher zu mir heran. Ich schenke ihm noch etwas ein und setze mich neben ihn. Heutzutage gibt es keine rote Fahne, das Volk hat eine bessere Verwendung für diesen haltbaren Stoff gefunden. Nur liegt der Schatten der Vergangenheit immer noch auf dem Land, auf den Schicksalen von Millionen Russen und ehemaligen Staatsbürgern des damals so riesigen Vielvölkerstaates.
Wladimir Eisner
Siedlung Schdanicha, 1993
Zeitschrift „Dudinka“ N° 4-6, April-Juni 2004