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Das Drama mit den Archivakten

Unser Bericht handelt von der Abteilung für Sonderfonds und Rehabilitation der Opfer politischer Repressionen beim Informationszentrum der regionalen Staatlichen Behörde für innere Angelegenheiten. Bei der Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Bezug auf die Repressionsopfer der Stalinzeit kommt ihnen eine gewichtige Rolle zu.

Als diese Abteilung im Jahre 1992, nach der Verabschiedung eines entsprechenden Ukas des russischen Präsidenten, eingerichtet wurde, konnte sich kaum jemand den Umfang der bevorstehenden Arbeit vorstellen. „Wir dachten, dass wir, die drei dafür abgestellten „Rekruten“, allerhöchstens sieben Jahre brauchen würden, bis jede weitere Tätigkeit dieser Abteilung nicht mehr von Noten wäre“, - erzählt Tatjana Nikolajewna Kilina, die stellvertretende Abteilungsleiterin, lächelnd. – Aber nun sind bereits zwölf Jahre vergangen, die Anzahl der Mitarbeiter ist auf neunzehn angestiegen, und trotzdem wird die Arbeit nicht weniger“.

Auch die Zahl der Bürger, die sich mit der Bitte an die Abteilung wenden, ihnen entsprechende Bescheinigungen auszustellen oder ihre Verwandten ausfindig zu machen, deren Spuren sich in den Wirren der grausamen Geschichte verloren haben, nimmt nicht ab. In den letzten Jahren kommen auch immer mehr Briefe aus dem Ausland. Nun sind es bereits die Kinder und Enkelkinder die sich hierher wenden: die einen wollen versuchen ihren Familienstammbaum zu vervollständigen, andere sind dabei ein Famuilienarchiv zusammenzustellen. Alle hoffen hier auf Hilfe. Im Jahresdurchschnitt werdenn zwölftausend Anträge bearbeitet und für jeden von ihnen müssen mühselige und zeitraubende Nachforschungen angestellt werden.

Ungewöhnlich schwierig war es, die Sachverhalte bei den Zwangsenteigneten wiederherzustellen. 1955 wurde das Archiv für diese Kategorie der Sondersiedler vernichtet.

Übriggeblieben sind lediglich zwei Journale mit den Namenslisten von 11 667 Personen sowie 73 alte Aktenordner über Sondersiedler im Rybinsker Bezirk. Durch sie konnte ein Teil des „Enteigneten“-Archivbestands wiederhergestellt werden. Allerdings entdeckte man auch in den erhalten gebliebenen Akten zahlreiche Ungereimtheiten, die für viele Menschen, welche sich wegen der Rehabilitierung ans Gericht wandten, zum Stein des Anstoßes wurden.

Fast 58 000 macht der Bestand der repressierten Wolga-Deutschen, Krim-Griechen, Kalmücken und UONisten (Angehörige der ukrainischen Nationalisten) aus. „In jedem Fall steckt großes menschliches Leid, eine Familientragödie“, - sagt Tatjana Nikolajewna, die sich mit dem Fond gut auskennt. Die erste Akte, die ich aus dem Regal herausnahme, war die von Aleksander Mandschijewitsch Keweldschenow; sie veranschaulicht, wie aus jeder einzelnen Seite förmlich die Schreie herausdringen – genau die Schreie, die der Student des ersten Studienjahres am Astrachaner Lehrer-Institut wahrscheinlich vor lauter Verzweiflung und halb erfroren zwischen den Brettern des Waggons hervorstieß, der ihn am 31. Dezember 1942 aus der Ukraine nach Sibirien, in die Region Krasnojarsk, brachte. Die Schuld des 16-jährigen Burschen, einem Komsomolzen und Aktivisten, bestand lediglich darin, dass er Kalmücke war. Dafür mußte er auch in der Verbannung unvorstellbare Qualen und Strapazen auf sich nehmen, die schließlich mit seiner vollständigen Entkräftung und Erkrankung an Tuberkulose endeten.

Allerdings war eine Behandlung des Volksfeindes und Sondersiedlers durch die Organe nicht vorgesehen., und der Versuch, das Recht darauf zu erwirken, kostete Keweldschenow dann auch das Leben. In seiner Akte befinden sich Briefe an die Organe mit der verzweifelten Bitte, ihn im Sanatorium in Kansk zu behandeln. Und jedesmal erteilt man ihm eine Absage, und für seine eigenmächtige Abfahrt aus Uschur ins Krankenhaus, brummt man ihm auch noch eine Haftstrafe von fünf Tagen auf. Zu jener Zeit war er bereits Familienvater; 1950,1952 und 1953 wurden seine Söhne geboren. Am 11. Juli 1954 starb er, geschwächt von seiner Krankheit, an Tuberkulose. Bis zur Verabschiedung des rettenden Ukas über die Rehabilitierung schaffte er es nicht mehr. Das mit der menschlichen Seele fest verschweißte Leid schreit auch aus dem Brief von Aleksanders ältestem Sohn heraus, der den Beruf des Chirurgen ergriff, und derin dem Schreiben darum bittet, ihn über das Schicksal seines Vaters aufzuklären.

- Nachdem wir zum Arbeiten hierher gekommen waren, waren wir anfangs sehr niedergeschlagen von all dem unermeßlichen Kummer, den die „Gesamtheit des Sonderfonds“ in sich vereint. Was für eine schreckliche zeit hat das Land, unser Volk, durchgemacht, wie unbarmherzig war die Maschinerie des GULAG! – Irina Iwanowna Tumanowskaja und andere Mitarbeiterinnen geben zu, dass sie mitunter nicht die Tränen zurückhalten können, während sie sich mit den einzelnen Fällen vertraut machen. – Uns tun auch die inzwischen längst erwachsen gewordenen Kinder der Häftlinge und Sondersiedler leid.

Aber nicht weniger traurig ist es, wenn sie dann auch die ganze ungeschminkte Wahrheit über ihre Eltern erfahren. Ganz besonders betrifft dies ehemalige Wlassow-Anhänger. in der Regiongab es fünftausend davon, die nach eingehender Überprüfung in Filtrationslagern oder nachdem sie ihre Haftstrafen verbüßt hatten, in die Siedlung gelangten. Man muß dazusagen, dass nicht alle eine Haftstrafe bekamen, sondern nur diejenigen, bei denen sich beweisen ließ, dass sie gegenüber der Wehrmacht einen Eid geleistet hatten und der deutschen Armee beigetreten waren. Natürlich verheimlichten viele von ihnen das vor ihren Eltern; sie erzählten einfach, sie seien „in Kriegsgefangenschaft geraten“. Aber Fakten sind – eine unnachgiebige Angelegenheit.

So spielte sich einmal während einer Sprechstunde ein wahres Drama ab. Ein Vater war mit seiner Tochter gekommen, um die Ausstelling einer Rehabilitationsbescheinigung zu beantragen; ferner wollten sie sich mit allen Einzelheiten der Akte persönlich vertraut machen. Da man beiVorhandensein noch lebender Zeugen Kindern und Verwandten keine Akteneinsicht gewährt wird, und schon gar nicht wenn sie so pedantisch und beharrlich sind, rieten wir dem Antragsteller, sich allein in seine Akte einzulesen. Aber sowohl er als auch seine Tochter bestanden darauf, dies gemeinsam zu tun. „Vor meiner Tochter habe ich keine Geheimnisse“, - sagte er scharf; offenbar hegte er keinen Verdacht, welche Art Dokumente sich in seiner Akte befanden. Und darin lagen u.a. die Verhörprotokolle, sein eigenhändig unterschriebens Schuldbekenntnis, dass er auf die Hitler-Armee einen Eid geleistet hatte und ein deutscher Militärpaß – ausgestellt auf seinen Namen. Is gab auch noch eine ganze Reihe anderer unbestreitbarer Zeugenaussagen.

Erstaunt und verwirrt las seine Tochter das alles, eine schon etwas ältere Frau. „Papa, wie konntest du nur?!! Und dabei hab’ ich dir mein ganzes Leben lang vertraut!“ – stieß sie hervor und begann zu schluchzen. Natürlich, aus der Sicht unserer heutigen Tage ist es schwierig und sogar unmöglich, Menschen wegen längst vergangener Dinge zu verurteilen – wegen militärischer Wirrnisse, die noch nicht einmal von den Historikern endgültig geklärt werden konnten. Die Soldaten der Armee von General Wlassow lieferten sich keineswegs freiwillig aus, als sie auf die Seite der Deutschen überliefen. Jedermann hatte doch nur den einzigen Wunsch zu überleben. Es steht uns, die wir in der Jetztzeit leben, nicht zu sie zu verurteilen. Aber der Schmerz über die völlig verzerrten menschliche Schicksale wird dadurch nicht geringer.

Doch wie sehr freuen sich dafür die Mitarbeiter der Abteilung, wenn ihre Suche nach notwendigen Dokumenten schließlich irgend jemandem zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit geholfen hat. Darin sind sie unermüdlich. Als äußerst gewissenhafte, fleißige und wohlwollende Mensche äußert man sich über die Leiterin der Abteilung – Tatjana Dmitrijewna Atamanowa, ihre Stellvertreterin – Tatjana Nikolajewna Kilina, sowie über Galina Anatoljewna Potschekutowa, Marina Iwanowna Kostetskaja, Natalia Eduardowna Lagute, Walentina Iwanowna Smetanina und andere.

Die Arbeit der „Archiv-Miliz“, mit seinem weiblichen Liebreiz und all der Gutherzigkeit, wird häufig mit anerkennenden Briefen und Postkarten gewürdigt. Sie sind die Folge der verschickten Bescheinigungen und kommen aus allen Teilen des Landes, sogar aus dem Ausland. „Herzlichen Dank für das schnelle Auffinden der Dokumente“, - schreibt M. Lysakowskaja aus Jenisejsk. Warme Worte des Dankes finden sich auch in dem Brief von I.J. Kiseljowa aus Petersburg. „Ich habe meinen Vater nie gesehen, und die Dokumente mit seinen Fingerabdrücken waren für mich so, als ob er mich berührt. Ich bin zutiefst aufgewühlt und gerührt von Ihrer Güte. Ich danke Ihnen sehr herzlich“, schrieb B. Jegorow aus Rostow am Don. Gute Dinge sind es tatsächlich wert, mit guten Worten erwähnt zu werden.

Tatjana ALEKSEJEWITSCH.
„Krasnojarsker Arbeiter“, 28.01.2005


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