Meine Großmütter – Irma Johannesowna Feist und Emma Iwanowna Gawrilowa – wurden im Gebiet Saratow, Bezirk Lisanderhöh, Ortschaft Friedenheim, geboren.
An einem frühen Morgen im Jahr 1941 wurde den Dorfbewohnern während einer allgemeinen Versammlung die schreckliche Neuigkeit verkündigt: «Der Krieg ist ausgebrochen. Die Faschisten stürmen Richtung Moskau». Diese Nachricht war auch deswegen so schlimm, weil ihre Familien nun Repressalien ausgesetzt waren. Unverzüglich wurde die Familie aus dem eigenen Haus vertrieben. Sie mussten unter freiem Himmel ausharren. Schließlich brachte man sie, zusammen mit allen anderen Bewohnern, die umgesiedelt werden sollten, zum Bahnhof. Hier warteten sie eine ganze Woche lang auf die Abfahrt. Und dann endlich setzte sich der Zug aus sogenannten „Kälberwaggons“ in Bewegung. Die Fahrt gestaltete sich schwierig, – erinnert sich die Großmutter, – es befanden sich so viele Menschen im Waggon, der Kinderwagen mit dem sechs Monate alten Schwesterchen stand im Durchgang, der ständig von Leuten durchlaufen wurde. Es war schlimm, und jeder versuchte, sich, so gut es ging, irgendwie einzurichten».
Zehn Tage und Nächte waren sie unterwegs, völlig übermüdet und erschöpft, doch sie murrten nicht, denn sie wussten es herrschte Krieg. Endlich trafen sie in der Stadt Krasnojarsk ein, von dort ging es mit dem Schiff ins Dorf Juksejewo im Bolschemurtinsker Bezirk. Von dort aus wurden, gemäß dem Verteilungsplan, die fünf Familien Forotow, Pfeifer, Labs, Forotow und Dukwen ins Dorf Lakino geschickt.
Im Dorf trafen sie am Abend des 28. September ein. Die Familien wurden auf die Häuser aufgeteilt, in denen sie künftig leben sollten, aber die Bewohner wollten die Umsiedler nicht hineinlassen, weil sie sich vor ihnen fürchteten. Familie Dukwen wurde auf Betreiben des Kochos-Vorsitzenden im Haus von Barbara Martonik untergebracht, wo sie bis März wohnten. Danach ließen sie sich für längere Zeit in einem anderen Haus nieder, welches sie von der Kolchose zur Verfügung gestellt bekamen. Im selben Jahr holten sie den Vater an die Arbeitsfront, von wo er 1945 zurückkehrte.
Mit acht Jahren kam Irma Johannesowna in die Schule, absolvierte vier Klassen und half, wie alle Kinder damals, ihrer Mutter. Mit fünfzehn Jahren nahm sie ihre eigeneständige Arbeitstätigkeit auf. Sie arbeitete als Melkerin (1948-1962), anschließend als Kälberhüterin bis zum Rentenalter, wobei sie sich als verdiente Kolchosbäuerin hervortat.
Meine Großmutter besitzt zahlreiche Auszeichnungen. Ihre erste erhielt sie wegen hervorragender Arbeit – den Leninorden. Sie nahm auch die ersten Plätze in sozialen Wettbewerben ein, verfügt über Medaillen aufgrund ihrer Erfolge für die Volkswirtschaft der UdSSR. Für ihre glänzenden Arbeitsleistungen bekam sie als Prämie eine Reise zur Ausstellung der «Errungenschaften der Volkswirtschaft» in der Hauptstadt unseres Heimatlandes Moskau verliehen. Ferner besitzt sie das «Ehrenabzeichen», mit dem sie am 14. Dezember 1984 gewürdigt wurde.
Über meine Großmutter wurde oft in den Zeitungen geschrieben: «Wegen der 1977 erzielten Erfolge bei der Entwicklung der Viehzucht sowie Erfüllung der Voraussetzungen und Indikatoren für die Auswahl der Teilnehmer zur Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR in der Landwirtschaft wurden die Besten des Wettbewerbs mit Medaillen und wertvollen Geschenken ausgezeichnet. Eine Bronzemedaille und wertvolle Geschenke erhielten die Kälberhirtin der Kolchose «Sibirien» G.N. Pankowa und S.A. Matwienko, die Melkerin der Bolsche-Murtinsker Sowchose J.O. Perfilina sowie die Kälberhüterin der Kolchose «Erinnerung an Lenin» Irma Johannesowna Martonik. Im laufenden Jahr arbeiten die Medaillengewinner der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft ebenso überzeugend und erreichen eine hohe Produktivität».
Meine Großmutter schweigt stets bescheiden über all die Schwierigkeiten, denen sie während der Arbeit und auch zu Hause ausgesetzt war, darüber, wie schwierig es zu der damaligen Zeit gewesen ist, sechs Kinder zu ernähren und großzuziehen (sie besitzt eine Mutterschaftsmedaille).
Auch Irma Johannesowna hat am gesellschaftlichen Leben ihres Dorfes teilgenommen und wurde mehrfach zur Dorfratsdeputierten gewählt.
Meine zweite Großmutter -Emma Iwanowna – trat ebenfalls im Alter von vierzehn Jahren ins Arbeitsleben ein. Sie arbeitete im Geflügelstall und als Schweinehüterin und wurde mit fünfzehn Jahren Melkerin. Melken ist eine schwere Tätigkeit, die vor allem körperliche Kraft erfordert. «Bis zu Melkstation mussten wir zu Fuß gehen. Damals gab es noch keine Fahrzeuge, an ihrer Stelle wurden Ochsen eingespannt und die Milchkannen auf Leiterwagen transportiert. Wir arbeiteten einträchtig miteinander und waren fröhlich. Nach dem schweren Arbeitstag machten die müden Mädchen und Freundinnen (W.K. Kobjakowa, N.F. Nossowa, M.S. Kassatzkaja u.a.) sich immer Lieder singend auf den Weg nach Hause», – erinnert sich die Großmutter. Später tauchte in der Kolchose das erste Fahrzeug auf - «ein Eineinhalbtonner», damit brachten sie uns dann auch zur Melkstation.
Im April 1961 wurde die erste elektrische Melkmaschine in Betrieb genommen, und meine Großmutter erwirtschaftete als Erste 3500 Liter Milch von jeder Kuh.
Später nahm meine Großmutter eine Tätigkeit im Kindergarten auf, anschließen noch als Technikerin in einem Laden.
Großmutter war auch Blutspenderin. Einmal lag sie im Krankenhaus und wurde
gebeten, einem im Sterben liegenden einen Monat alten Säugling aus dem Dorf
Talowka Blut zu spenden. Zweimal spendete Emma Iwanowna für dieses Kind ihr Blut,
und es wurde wieder gesund. «Jetzt wird er wohl schon mehr als zwanzig Jahre alt
sein», – meint Großmutter.
Heute befinden sich meine Großmütter im wohlverdienten Ruhestand. Doch nach wie
vor kennen sie keine Ruhe: entweder nähen sie, stricken oder schauen nach dem
Vieh im Hof. Meine Großmütter wollen sich auf keinen Fall ausruhen. Sie sind
ständig mit irgendetwas beschäftigt. Danke, Omis, dafür, dass es euch gibt.
Nastja Martonik, Dorf Lakino.
„NEUE ZEIT“, ¹ 31-32, 5.03.2005.