In Krasnojarsk sind Debatten darüber ausgebrochen, ob nun ein Stalin-Denkmal aufgestellt werden soll oder nicht. Bislang wurde die Entscheidung gefällt, zum Tag des Sieges eine Büste des Generalissimus und Marschall Schukows in einem geschlossenen Raum im Gedenk-Komplex des Sieges auftzustellen.
Meine persönliche Einstellung gegenüber Stalin hat sich bereits zu Sowjetzeiten herausgebildet, sie hat sich seitdem auch nicht geändert. Ich will nicht, dass in meiner Heimat Denkmäler für ihn errichtet werden. Ganz bewußt und entschieden will ich das nicht. Aber ... wenn die alten Veteranen es wollen – so muß man sie trotzdem achten. Man muß einfach. Insgesamt gesehen scheint mir eine solche Entscheidung richtig zu sein. Und ich veröffentliche hier den folgenden Brief nicht wegen der Argumente in diesem „monumentalen“ Streit, sondern weil es ein Appell an die Barmherzigkeit sein soll. Das ist immer ganz aktuell.
Liebe Redaktion, ich bitte Sie, diesen meinen Brief abzudrucken. Mögen sie gut darüber nachdenken, die leidenschaftlichen Befürworter und die Gegner der Errichtung eines I.W. Stalin-Denkmals in Krasnojarsk.
Hochachtungsvoll,
Iwan Semjonowitsch
In der dritten Klasse herrschte eine gespannte Atmosphäre. Die Kinder schrieben einen Aufsatz zum Thema „Mein Papa“. Eifrig schrieben sie, die zukünftigen Bauarbeiter, Getreidebauern, Seeleute, Flieger die Buchstaben auf das Papier. Wer von diesen schnaubenden, begriffsstutzigen Kindern wird wohl einen würdigen Platz im Leben einnehmen? Was würde aus jedem von ihnen werden? „Was ist ihnen wohl vorherbestimmt“, - dachte die Lehrerin. Ihre Gedanken wurden von einem Weinen unterbrochen. Die Tochter des Agronomen weinte. Sie hatte den Kopf mit den hellen Löckchen auf die Schulbank sinken lassen, schluchzte bitterlich und zuckte mit dem ganzen Körper. „Was ist mit die? Warum weinst du? Sag mir, bitte, was passiert ist?“ Nachdem das Mädchen sich ein wenig beruhigt hatte, sagte es: „Sie haben Papa heute Nacht zum NKWD gebracht. Mama weint auch“.
„Und du geh mal nach Hause und beruihige die Mama. Alles wird gut“, versuchte die Lehrerin sie zu überzeugen. Das war die letzte Unterrichtsstunde des armen Mädchens in unserer Klasse.
Das ganze Leben lang ist dieses weinende, mitleiderregende Mädchen, die unglückliche Natascha, in meinem Gedächtnis geblieben. Ihr hellrosa Kleidchen mit den blauen Kornblumen, der aufgesetzten Tasche, dem aufgenähten blauen Bändchen und den kleinen Gürtel-Schleifchen an dr Seite ... In den Händen hielt sie eine selbstgenähte Stofftasche mit Büchern. Sie ließ das Köpfchen hängen, die klaren blauen Augen wurden trübe. So ging sie von uns fort. In der Klasse entstand eine angespannte Stille. Die Lehrerin wandte sich zur Tafel umund drückte ein Taschentuch an ihre Augen. Wir, die Kinderlein, wußten schon recht gut, was das NKWD bedeutet. Ständig sprach man zu uns über Volksfeinde. Über die Kulaken-Unmenschen und konterrevolutionäre Verschwörungen. Vor unseren Augen kam so manche Mutter auf die spielende Kindergruppe zu, zof ihren Sohn fort und sagte, indem sie auf irgend jemanden zeigte: „Das ist kein Umgang für dich. Sein Vater ist ein Volksfeind“. Mit diesem Jungen freundeten sich nur die Allermutigsten an, denn die Freundschaft mit Kindern von Volksfeinden war unerwünscht. Diesen Fall in der Klasse hätte man vergessen können, ebenso wie viele andere, die ähnlich verliefen. Aber seine Folgen rufen bis zum heutigen Tag unfreiwillige Tränen hervor. Wenn du dich daran erinnerst, dann möchtest du herausschreien, dass alle es hören: „Menschen, seid doch barmherzig!“
Nataschas Familie – Vater Nikolaj und Mutter Vera – kamen als junge Spezialisten zu uns ins Dorf. Er war Agronom, sie Zootechnikerin. Das war im Vorkriegsjahr 1940. Die Familie ließ sich in einem kleinen Häuschen nieder. Mit ihrem Fleiß hatten sie es bald verwandelt. Es entstand ein schöner geräumiger Vorgarten, ein Blumenbeet, farbige Fensterverkleidungen und vieles mehr, was das Auge erfreute. Die Familie ging häufig am Flußufer spazieren. Es schien, als ob das Glück selbst in ihrem Häuschen Einzug gehalten hatte. So verging ein Jahr. Der Krieg begann. Im Sommer bekam Natascha einen Bruder. „Nun sind wir komplett“. – freute sich der junge Vater. Entweder aus Neid oder einfach aus Gehässigkeit wurde er denunziert, wurde der Mensch beschmutzt. Im Oktober verhafteten sie Nikolaj. Vera wurde häufig ins Kreis-NKWD bestellt, verhört, wieder entlassen – und das wiederholte siech viele Male. Das Mädchen erkrankte bald darauf am damals nicht ungewöhnlichen Scharlach. Man brachte sie ins Kreis-Krankenhaus. Dann wurde der kleine junge krank. Die Arme Mutter lief zwischen Krankenhaus, krankem Säugling und dem NKWD hin und her. Nicht entsprechend der Jahreszeit gekleidet, lief sie durch die Straßen und fragte die Vorübergehenden: „Wissen Sie nicht, ob man Kolja schon entlassen hat?“ Oder sie beklagte sich bei den Nachbarn: „Kolja ist schon so lange nicht mehr zum Essen gekommen“. Die Nachbarin, bei der sie immer Milch holte, war beunruhigt. Sie sagte: Ihr Sohn ist immer so ruhig, man hört ihn nie!“ Die arme Mutter fand das tote Kind. Vera legte sich auf die Bettstelle und drückte den längst verstorbenen Jungen an ihre Brust. Sie wurden zusammen begraben. Es waren nur wenige Leute auf der Beerdigung. Nur diejenigen, die das Grab aushoben, der Fuhrmann, der sie zum Friedhof brachte und ein paar alte Leute. Das Häuschen, das nun ohne Hausherren zurückblieb, blickte mit seinen zerbrochenen Fensterkreuzen in die Welt hinaus und erinnerte an das kurze Glück seiner Besitzer. Zum Frühjahr hin wurde das stark abgemagerte Mädchen aus dem Krankenhaus entlassen und ins Internat geschickt. Ganz kahl geschoren, mit faltigem Gesichtchen, als ob es eine alte Frau wäre, konnte sie sich kaum auf den geschwächten Beinen halten. Schlaff, kraftlos, allem gleichgültig gegenüberstehend fragte es nur immer wieder: „Warum kommt Mama nicht?“ Man sagte ihr nicht die Wahrheit, weil man das Schlimmste befürchtete. Aber auf irgendeine Weise erfuhr sie dann doch, was geschehen war. Ostern fiel in jenem Jahr auf den 20. April. Der Frühling war sehr kalt. Tagsüber erwärmte sich die Luft ein wenig, aber nachts gab es noch strengen Frost. In der Osterwoche verschwand das Mädchen aus dem Internat. Man suchte nicht lange nach ihr. Der Abschnittsbevollmächtigte befragte die Nachbarn und die Klassenkameraden, und damit war für ihn die Suche beendet. „Sie wird umherirren und irgendwann selbst zurückkommen“, entschieden die Machthaber. Man fand das Mädchen amTag der Eltern. Irgendeiner der mitleidigen Dorfbewohner wollte das Grab Veras und ihres Sohnes in Ordnung bringen. Natascha saß, mit der Schulter an das ungehobelte Kreuz gelehnt, als ob sie sich gerade zum Ausruhen niedergelassen hätte. Ihre Hände drückten einen Knospen treibenden Weidenzweig zusammen. Was hast du gedacht, als du auf schwachen Beinen zum Wiedersehenmit Mama und dem Brüderchen hierher gekommen bist? Wie hast du dir diese begegnung vorgestellt? Oder ist der Tod in deinem kindlichen bewußtsein nicht das Ende alles Seins? Auf was für ein Wunder hast du noch gehofft? Hast du den Weidenzweig in deinen Armen gehalten, um denen, die dir am nächsten standen, eine Freude zu bereiten? Du kleines, liebes Mädchen, du hast gewußt, das Wärme Leben bedeutet. Deswegen hast du den Zweig auch so sehr an deine Brust gepreßt - um sein Leben zu verlängern. Was hast du in den letzten Minuten geträumt? Vielleicht,dass deine Mutter dich mit ihren warmen, zärtlichen Armen umfaßt hat? Vielleicht, dass der Atem deines Vaters dich erwärmt hat und du eingeschlafen bist? Man sagt, dass ein Mensch der am Erfrieren ist, eine allumfassende Wärme empfindet. Wahrscheinlich ist deshalb auf deinem Gesicht auch so ein versöhnliches Lächeln erstarrt. Es war dir nicht vergönnt zu leben und die Welt zu erfreuen. Der schreckliche Stempel der Repressionen ließ einen unschuldigen Sproß verdorren. Durch den üblen Gestank menschlicher Niedertracht wurde die dich umgebende Welt vernichtet. Du hast nicht viel verlangt. Dir hätte ein wenig Anteilnahme schon genügt. Ein wenig von der Wärme, die alle Kinder brauchen.
Rette und behüte uns, Herrgott, und sei uns gnädig!
I.S. Bolotow, Krasnojarsk
„Komok“, No. 17, 03.05.2005