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Große Enttäuschung über ein großes Bauprojekt

Was wußten wir über die große Nördliche Magistrale, als wir uns auf diese Expedition begaben? Sehr wenig. Und dabei hatten nicht nur wir, die Journalisten, sondern auch die Moskauer Wissenschaftler gehofft den Schienenweg zu sehen, und nicht einen Haufen Schienen und grüne Hügel anstelle von Eisenbahnschwellen. Woher sonst wäre irgendwelchen hellen Köpfen der närrische Gedanke über die Wiederherstellung der Bahnlinie in den Kopf gekommen?

Der Bahnkörper war (nach den Worten des ortsansässigen Jägers W. Netschajew) noch etwa bis 1972 in Betrieb. Jedenfalls ist das in Dokumenten hinterlegt. Nach dem, was wir sahen, kann man das unmöglich glauben. Obwohl tatsächlich ganz vereinzelt kleine Teilstücke erhalten geblieben sind – oder von Erdgasförderarbeitern (Nadym – Urengoj) bzw. Ortsansässigen wiederhergestellt wurden.

Man muß zugeben: unser Optimismus anläßlich der Wiederbelebung des Baus entlang des Polarkreises erlosch, als wir weiter in die Tiefen der Taiga vorstießen und unsere Marschroute sich immer schwieriger gestaltete. Am ersten Tag unserer Trassenbegehung kamen wir gut voran – mit einer Geschwindigkeit von 4,2 km pro Stunde. Und das unter Berücksichtigung des Tatbestandes, daß unsere Moskauer Gefährten Vermessungen der Bahnobjekte vornahmen, an den Schienen nach Markierungen suchten, Skizzen und Zeichnungen in ihren Notizbüchern sowie Video- und Fotoaufnahmen machten.

Wir wurden ebenfalls vom Eisenbahner- und Forscher-Spiel infiziert. Wladimir Pawlowskij war der Spitzenreiter, was die Anzahl unschätzbarer Fundstücke betraf. Er war nur sehr betrübt darüber, daß er nicht auf Schienen aus dem Herstellungsjahr 1905 stieß (dem gleichen Jahr, in dem die Zeitung erstmalig erschienen war). Obgleich die Schienen noch aus vorrevolutionärer Zeit stammten (beginnend mit dem Jahr 1901), lagen überall verstreut Schienen inländischeraber auch ausländischer Produktion herum. Wahrscheinlich waren sie in kleineren Partien von den zerstörten Bahnabschnitten hin– und hergefahren worden und dann in aller Eile mit der Hand in unterschiedlichen Längen und Breiten verlegt worden.

Wir entdeckten nur ein einziges unversehrt gebliebens Gleis, das ziemlich nahe an die Sandgrube heranreichte. Als Material für das Aufschütten des Bahnkörpers diente in der Regel feiner Staubsand. Auf dem östlichen Teil, der von uns erforscht wurde, war der Sand eher grobkörnig, also qualitativ besser.

Um beim Transport die Entfernungen zu verkürzen (nach Berechnungen nicht mehr als 3 Kilometer), wurden die Stein- und Sandbrüche nahe der Trasse abgebaut. Das Verladen ging häufig per Hand vonstatten.

In einem der großen Steinbrüche hielten wir uns lange Zeit auf. Die Forscher „gruben“ den Ort im wahrsten Sinne des Wortes mit den Augen „um“. Und ... wurden fündig. Aluminiumbecher mit Nummern. Diese Exponate, daran zweifele ich nicht, prangen heute in den Lehrstühlen der Universität, um die Studenten auf lyrische Weise einzustimmen.

In den 1940er und 1950er Jahren, herrschte nur wenig Romantik. Alle fünf Kilometer stand an der Trasse ein Lager. Insgesamt etwa dreißig an der Zahl. Alles gleichartige Bretterbaracken. Die Lagerleitung lebte unter etwas besseren Bedingungen, deswegen sind ihre Häuser noch erhalten geblieben. An den Wänden sieht man noch die ausgeblichenen Tapeten – mit Nägeln befestigt. Leim oder Kleister wurde nicht bis hierher transportiert.

Übrigens wies man den Häftlingen hier nicht nur „schwarze“ (schmutzige; Anm. d. Übers.) Arbeit zu. Man ernannte sie auch zu Leitern, Vorarbeitern, Gruppenleitern von Zehnerbrigaden, Brigadeführern und sogar zu Leitern großer Bauobjekte. Diejenigen, die nicht mehr ständig in Begleitung von Wachsoldaten herumlaufen mußten, arbeiteten in den Kontoren als Projektierer. Allerdings war die Arbeitsproduktivität der geschwächten und gepeinigten Menschen im Vergleich zu der der freien Arbeiter viel niedriger!

Die Abgabe der fertigen Objekte innerhalb allerkürzester Zeit – 120 Kilometer Schienenweg pro Jahr – ließ sich nur mit der Anzahl der hierher verschleppten Gefangenen erklären. Einigen Angaben zufolge befanden sich in den nahe der Trasse gelegenen Lagern ungefähr 200.000 Menschen. Hoffnung auf ihre Freilassung erhielten die meisten von ihnen erst nach dem Tode Stalins. Sehr, sehr schleppend wurde ihnen vom Führer die gewünschte Freiheit für heldenhafte Arbeit gegeben. Wir nehmen an, daß ein Maschinist, der hier als Pionier die Fahrt über das Eis bewerkstelligt hatte, mit einer derart großzügigen Geste von Seiten der Regierungsleute rechnen konnte. Aus diesen Orten fliehen war zwecklos, deswegen befanden sich vor den Barackenfenstern auch nur äußerst selten Gitter.

Sogar die Bahnlinie selbst scheint ins Nichts zu führen. Und sie taucht auch einfach so aus dem Nichts auf. Unsere Expedition bekam dies am zweiten Tag der Reise an der großen Magistrale zu spüren. Auf der anderen Seite des Flusses Makowskaja erschienen einem die deutlichen Konturen der Eisenbahnschwellen irgendwie einige hundert Meter lang zu sein.

Und weiter – Sumpf und Windbruch (Sturmholz; Anm. d. Übers.). Sich in diesem Geöande einen Weg zu bahnen wurde mit jedem Kilometer schwieriger. Das erste Hindernis unterwegs war eine kleine Brücke, die sich in einem trostlosen Zustand befand. Der Redakteur hätte aus Spaß vorgeschlagen, sie auf dem Rückweg zu verbrennen, damit niemand, Gott bewahre, sich hier verletzte.

Die morschen, tückischen Bretter knackten und gaben unter den Schritten nach, jeden Augenblick bereit, uns Wagehalse in den Bach hinunterstürzen zu lassen, aber sie hielten stand.

Ständig stießen wir auf kleine Bäche. Die Eskimohündin Damka, ein zuverlässiger Leibwächter, freute sich jedesmal wie ein Kind über die kühle Frische des Wassers und die Möglichkeit ihren Durst zu löschen, und auch wir trankten das warme, mineralhaltige, chakassische Quellwasser.

Für das Durchfließen der Bäche unter dem Bahndamm hindurch wurden seinerzeit Rohre gelegt. Rohre aus Brettern und Stämmen – einzigartige Vorrichtungen des vergangenen Jahrhunderts, aber vergäängliche, die mit einfachsten Konstruktionen zusammengenagelt wurden. Erstaunlich, daß sie ein halbes Jahrhundert lang standgehalten haben, obwohl sie inzwischen nicht wiederhergestellt wurden. Das Einrechen des Untergrunds aufgrund des inselförmigen ewigen Frostes und des hier sehr ausgeprägten Kontinentalklimas fällt sogar den Nicht-Spezialisten auf. Die Rohre ragen so weit aus dem Bahndamm heraus, daß man überhaupt nicht glauben kann, daß hier einmal eine Trasse entlangführte.

Und jetzt blüht direkt auf den Eisenbahnschwellen der Wacholder, man sieht die rötlich schimmernden Blätter der Preiselbeeren, es wachsen junge Birken, Fichten und Purpurweiden. Auf dieser Seite des Flußes Makowskaja wurden die Schienen fast überall entfernt und anscheinend teilweise abtransportiert. Es wäre interessant zu wissen wohin? In Turuchansk braucht niemand eine solche Wohltat, und sie ganz bis nach Krasnojarsk schleppen ist nicht nur äußerst unbequem, sondern auch noch unheimlich kostspielig. Dafür ist bekannt, daß Schienen von der Teilstrecke Igarka – Turuchansk in den 1960er Jahren vom Norilsker Bergbau- und Metallurgiekombinat als Einnahmen verbucht wurden.

Am zweiten Tag sollten wir nach den Berechnungen unserer Wissenschaftler an der Station Turuchan herauskommen. Als Orientierung dienten die passierten Brücken und Schornsteine der Häuser der ehemaligen Lagergebäude. Wir hatten sämtlich auf der Karte eingezeichneten markanten Punkte hinter uns gelassen, aber die Bahnstation fanden wir nicht. Der Gruppenleiter, Andrej Saizew, ließ sich zu der Vermutung hinreißen, daß von ihr nichts mehr übriggeblieben war und meinte wir sollten umkehren. Erst später wurden wir wachgerüttelt: von der Station hatten uns tatsächlich nur noch 4 oder 5 Kilometer getrennt. Aber wir gingen nicht noch einmal zurück. Ein schlimmes Vorzeichen. Und an Vorzeichen glaubt man in der Taiga – unbedingt.

Wenn du allerdings zum ersten mal in der Taiga bist, dann bemerkst du die drohende Gefahr nicht. Der erste Mann in der Turuchansker Bezirkshauptstadt teilte unserer Truppe nicht umsonst den erfahrenen Jäger Viktor Netschajew zu. Viktor, bewaffnet mit einem Karabiner, und Damka begleiteten uns während der gesamten Expedition. Er erwies sich als schweigsamer und etwas verdrießlicher Reisegeselle, aber wie sich herausstellte, gab es dafür auch Gründe.

Ich erinnere mich daran, wie Wladimir Pawlowskij beharrlich von ihm erfahren wollte: wer uns den Waldweg so ausgetreten hatte. Erst als wir uns Turuchansk näherten, erfuhren wir, daß es sich um ein Pfad handelte, auf dem wilde Tiere gelaufen waren. Er war von Elchen, Rentuieren, vielleicht Wildschweinen, aber hauptsächlich von den Herren der Taiga – den Bären – ausgetreten worden. Als wir aus der Taiga zum Kutter zurückkehrten, da entdeckte Viktor, daß uns ein neugieriges Bärchen verfolgte, um zu sehen, ob wir nicht auf seinem Territorium Unheil anrichteten.

(Fortsetzung folgt.)

Tatjana Makogonowa
Fotos: Aleksander KUSNEZOW.
„Krasnojarsker Arbeiter“, 30.07.2005


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