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Der Norden lockt und wird auch in Zukunft diejenigen anlocken, die an das Böse keine Erinnerung haben

Der vierte Tag der Reise wurde richtig feierlich.Und das nicht nur deswegen, weil unsere kleinen Fundstücke zu einem ganzen Eisenbahnzug „anwuchsen“. Wir begegneten Menschen! Die Kinder aus Janow Stan kam zu dem Lager gelaufen, das wir aufgeschlagen hatten, als wir auf dem Turuchan nach Makowskaja gekommen waren; sie kletterten auf den Lokomotiven herum und beobachteten die alltäglichen Forschungsarbeiten der „Festländischen“.

Die Nachnamen der Jungchen - Arkadjew, Kusamin. Und sie begannen zu erzählen, wo sie geboren waren. Sie stammten aus der allernördlichsten „sterbenden“ turuchansker Siedlung Sowetskaja Retschka. Der Älteste,Jewegenij Kondratjew,ein sympathischer Halbwüchsiger, gab sich sehr würdevoll. Mücken und Kriebelmücken hafteten an seinem unbedeckten Kopf, flogen ihm in einem fort in den Mund, aber alle empfohlenen Schutzmaßnahmen,ohne die wir überhaupt nicht gewagt hätten, uns auf die Trasse hinaus zu begeben, lehnte der Junge höflich ab. Dafür bot er uns seine Dienste als Reiseführer und Begleiter mit unbeschreiblichem Vergnügen an. Er führte uns, die Journalisten, mit seiner Gruppe zu den Baracken und ging dann zurück, um die zurückgebliebenen Wissenschaftler zu holen, um diesen noch einmal mit derselben Freude die lokalen Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Da kannst du mal die Internatserziehung sehen (die nahegelegene Schule in der nationalen Siedlung der Selkupen – Farkowo)! „Sie Kinder aus den Moskauer Gymnasien gehen nicht so höflich und respektvoll mit fremden Leuten um“, - äußerte Professorin Taija Schepitko laut ihre Gedanken.

Die Schienen und Schwellen in diesem Abschnitt wurden von den Wissenschaftlern schon nicht mehr vermessen. Sie studierten nun die Lokomotiven, motorgetriebene Draisinen und alles, was von den Waggons noch übrig geblieben war. Aus irgendeinem Grunde hatte diese ganze Eisenbahnwirtschaft nicht funktioniert. Mal hatten sie so einen Befehl herausgegeben, daß das ganze Bauvorhaben plötzlich fallengelassen werden sollte, mal waren es tollkühne Touristen oder Ortsansässige gewesen, die auf den Schienen mit ihren Leiterwagen herumgefahren waren.

In der Tat bestätigt die Geschichte, daß dieses Bauprojekt genau so schnell fallen gelassen wurde, wie man es in Gang gebracht hatte. Nachdem man sich ausgerechnet hatte, daß für den Erhalt der Eisenbahnlinie fast noch mehr Geld nötig sein würde, als man ursprünglich für deren Bau ausgegeben hatte, da entachloß man sich ganz einfach die Sache aufzugeben. In Taiga und Tundra blieben 700 Kilometer vermodernder, faulender, rostender und mit Moos völlig überwachsener Schienen und Schwellen zurück, nicht eingerechnet die Abschnitte, die zu den Steinbrüchen führten sowie die Zwischenverbindungen und Abzweiger, Rohrleitungen, Brücken, Lokomotivendepots und die ganze Fahrzeug- und Traktorentechnik.
Nur wenige Dinge wurden abtransportiert und die Fähren verlegte man zur Straße von Kertsch (am Schwarzen Meer).

Verwunderlich ist die Tatsache, daß die Strecke ohne jegliche technische Planung und irgendwelchen geodäsischen Grundlagen verlegt wurde. Das Projekt wurde am 1. März 1952 zur Genehmigung vorgelegt – ein Jahr bevor es gestoppt wurde. Das Interesse an der Trasse war damals merklich erloschen. Sogar die Kostenvoranschläge der letzten Jahre wurden nicht mehr gebilligt.

Die Eisenbahnlinie in der Nähe von Janow Stan führte uns ins Lager. Wie du, lieber Leser, bereits begriffen hast, waren keine weiteren zivilen Einrichtungen, außer den Sondersiedlungen, hier zu sehen. Man nannte diese Siedlungen „Lagerpunkte“, “Lagerstädtchen“ und imAltagsgebrauch – Baukolonnen. Sie waren in typischer Bauweise errichtet worden: ein in Form eines Vierecks (200 x 200 Meter) verlegter Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen an den Ecken und einem Wachhäuschen mit Toren an derSeite, an der die Eisenbahnlinie vorbeiführte. Es ist bekannt, daß die vorrangige Aufgabe der wissenschaftlichen Forscher noch nicht einmal die Eisenbahnlinie selbst war, sondern vielmehr die Örtlichkeiten, an denen sich die Bautrupps aufhielten.

Bei Janow Stan entdeckten wir eine Frauensiedlung. Das ließ sich anhand der Brot-Backform erraten, die neben der Behausung zurückgelassen worden war. Die Baracken hatten sich gesenkt oder waren auseinander genommen worden, so daß von einigen nur noch der Dachboden erhalten war.

Ein kleiner Streckenabschnitt der Magistrale, der ans Lager grenzte, war Arbeitsrevier gewesen. Und ich fuhr den Jungs rollend hinterher (zwei Räder, die miteinander verbunden sind, werden auf die Schienen gestellt, mit den Füßen auf die Schwellen –und los geht’s!). Mit viel kindlicher Fantasie kann man sich wohl vorstellen, daß man hier auf einer richtigen Lok mitfährt. Wann haben die hier herumlungernden Kids den schon die Gelegenheit, mit einem richtigen Zug zu fahren!? Aufs „Festland“ fährt von insgesamt sechs Kindern nur Jewgenij, dessen Großmutter in Nowosibirsk wohnt.

Im Gegensatz dazu streben die „Festländer“ geradezu danach, in diese entlegenen Orte zu kommen. Und das nicht nur wegen der Jagd oder dem Fischfang, sondern insbesondere auch deswegen, weil sie sich in Raritäten und seltene Technik verliebt haben. Unlängst kamen ein paar Deutsche hierher geflogen. Sie bewerteten das allgemeine Ausmaß des Bauprojektes. Sie fotografierten einander neben den Lokomotiven. Und dann erzählen sie in der Heimat, wie die Leute in Rußland zum Kommunismus gekommen sind – mit hölzernen Spaten, Spitzhacken und Schubkarren. In eisigem Frost, bei Schneesturm, in der Schlammzeit und in glühender Sommerhitze mit gefräßigen Insekten. Aber sie gelangten weder zum Kommunismus noch bis nach Igarka. Eine funktionierende Maschinerie war plötzlich wieder ins Stocken geraten. Obwohl die Baikal-Amur-Magistrale, wenn auch mit erheblichem Verzug, doch irgendwann fertig übergeben wurde. Die Transpolartrasse blieb so lange in Vergessenheit, daß sie heute nur noch ein kümmerliches Bild denkbarer und undenkbarer Zerstörung bietet.

Um in der heutigen Zeit den einstigen Plan für die Errichtung eines Eisenbahnnetzes vom Ural über Sibirien bis nach Tschuchotka zu verwirklichen, würde man unvergleichlich höhere finanzielle Mittel benötigen. Nach allergröbsten Berechnungen von Professor Tai Schepitko belaufen sich die Kosten voraussichtlich auf 4-5 Millionen Dollar für jeden Kilometer der Großen Nördlichen Magistrale, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß diese Bahnstrecke nun schon von freien Menschen gebaut würde. Und sie werden nicht wegen des Nebels und des Geruchs der Taiga hierherkommen, wodurch sich in den siebziger Jahren die jungen Leute anlocken ließen, sondern um Geld zu verdienen.

Unmittelbar im Turuchansker Bezirk arbeiten kann man heute höchstens auf den Vankor-Erdölfeldern. Im Gebiet der Mündung des Flusses Makowskaja sahen wir ein vor fünfzig Jahren im Stich gelassenes Bohrloch. Vielleicht haben sie sich damals ausgerechnet, daß es keine Mittel geben würde, um das Öl später abzutransportieren. Aber wenn das Bauprojekt wieder aufgenommen wird, dann werden sich schon Leute finden, die sich hier mit der Förderung von Bodenschätzen befassen möchten. An diesen Orten gibt es reiche unterirdische Vorkommen...

Aber die Menschen sind arm. Dabei hatten diejenigen am wenigsten Glück, denen am meisten versprochen wurde – den Bewohnern von Igarka. Die grundlegenden Arbeiten am geheimen Objekt N° 503 entfalteten sich in der Stadt schon lange Zeit bevor die Verordnung des Ministerrates der UdSSR dasLicht der Welt erblickte. Zu jener Zeit verlief die Anfang der 1930er Jahre aufgekommene Idee von der Gewinnung von Nutzholz aus den Wäldgebieten um Igarka und im Süden bis nach Turuchansk, das Exportieren von Säge-und Schnittholz im Nichts, und die Einwohner von Igarka begannen sich zu überlegen, ob sie nicht aufs „Festland“ übersiedeln sollten.

Im Januar 1949 fand in Moskau eine Sitzung in Anwesenheit von Stalin, Berija und Frenkel dem Leiter der Hauptverwaltung für den Lager-Eisenbahnbau – statt, und es wurde der Beschluß zur Liquidierung des Bauprojektes auf der Halbinsel Jamal, der Verlegung des Haupthafens und anderer Objekte der Hauptverwaltung des Nordmeer-Seewegs, sowie der Verlegung der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka – Dudinka – Norilsk, verabschiedet, die sich auf ideale Weise in das erhabene Bild des zukünftigen gigantischen Bauvorhabens in Sibirien einfügt.

Die Einen neigen dazu, dieses Projekt als eines der großen Abenteuer Josef Wissarionowitschs zu beurteilen. Andere – als großartige Voraussicht.

Die Zeit verteilte alles an seinen Platz.Die neuen Menschen brauchten eine neuewirtschaftliche Formation und neue Transportmöglichkeiten. Den Gesprächen über eine mögliche Wiederherstellung der Transpolartrasse schloß sich auch die Jamal-Eisenbahn-Gesellschaft an, welche die jetzige Expedition von Wissenschaftler aus der Hauptstadt finanzierte. Und anscheinend ist man mit den Ergebnissen zufrieden,so daß unsere Freunde optimistische Prognosen für die Fortsetzung der wissenschaftlichen Untersuchungen stellen. Und die werden spätestens im kommenden Jahr stattfinden. Falls sich auch die Geschäftsleitung der Offenen Aktionärsgesellschaft „Russische Eisenbahnlinien“ aktiv an der Arbeit beteiligt, dann gibt es keine Zweifel, daß das ehemalige Bauvorhaben N° 503 zur N° 1 wird. Dem ersten Großbauprojekt des 21.Jahrhunderts.

Und wir, die Journalisten des „Krasnojarsker Arbeiters“, werden stolz darauf sein, daß uns der Wille des Schicksals zu den allerursprünglichsten Quellen des neuen alten Bauplatzes geführt hat. Meiner Ansicht nach sollte man die Eisenbahnstrecke nicht vollenden, sondern umgestalten, und vielleicht sogar, unter Berücksichtigung der heutigen Wirtschaftslage in den Regionen, ihre ursprüngliche Streckenführung ändern. Wenn sie beispielsweise, wie damals geplant, an Turuchansk vorbeiführt, dann erweist sich das als schädlich für die Bezirksstadt, die ja ein strategisch wichtiges Territorium darstellt.

Es ist wohl nur wenigen bekannt, daß die eigentliche Idee für das Verlegen der großen Magistrale Averall Harriman, ein dem ehemaligen US-Präsidenten Harry Truman nahestehender Mitkämpfer. Eben dieser Harriman war es, der seine Idee Stalin bei einem ihrer Treffen unterschob. Nach seinen Vorstellungen sollte die Eisenbahnmagistrale Alasska mit ... Workuta verbinden und deswegen unter der Behringstraße verlaufen (obwohl eine Bestätigung für ein solches Projekt in schriftlicher Form, also in Form von Dokumentenmaterial,nicht gefunden wurde).

Harrimans Plan wurde mit dem Beginn des „kalten Krieges“ zwischen Amerika und der Sowjetunion zerstört, aber insgesamt gesehen war Stalin dieser Idee gegenüber keineswegs abgeneigt.

Josef Wissarionowitsch,der den Turuchansker Bezirk aus seiner Kurejsker Verbannungszeit kannte, kontrollierte höchstpersönlich den Verlauf der Bauarbeiten. Und er erlaubte damals nur, ausschließlich Berichte über Erfolge bei diesem Schwerpunktbau zu veröffentlichen. Aus Zeitungen und Radiosendungen erfuhren die Menschen, wie in den tiefsten Tiefen der Waldtundra Bahnstationen errichtet, Rohrleitungen verlegt, Brücken gebaut wurden ... Wie hell leuchten hier die Verkehrsampeln, die den Weg in eine „klare Zukunft“ regeln.

Die Zukunft von gestern – das ist unsere Gegenwart. Die Stalin-Bahn hat sich in ein Museum unter freiem Himmel verwandelt,dessen seltenen Besucher sich darumbemühen, ein Maximum an Informationen über jene Zeit, jenes Regime, jenen wahnwitzigen Traum des Führers, der nach Projekten riesigen Ausmaßes und unmenschlichen Schwierigkeiten trachtete. Man konnte andere Menschen nur dazu zwingen, diese Schwierigkeiten zu bewältigen, indem die Lenkung durch den Staat „mit eiserner Hand“ geschah.

Im Sommer 1953 wurde das Sonderkontingent in aller Eile aus der Taiga fortgebracht, in dem Bemühen, in der kurzen Zeit, in denen die Flüsse schiffbar waren, möglichst schnell auf eines der Binnenschiffe zu gelangen. Vielleicht sahen sie, als sie auf den Flüssen Makowskaja, Turuchan und Jenisej dahinfuhren, ebenso wie wir auf dem glatten Wasserspiegel die schneeweißen, auf dem Kopfe stehenden Wolken, die dich von einem schrecklichen schwarzen Abgrund zu trennen scheinen. Das ist die Geschichte eines Staates mit „weißen“ Flecken. In zivilisierten Ländern kann und darf es keine Flecken in der Geschichte geben.

Tatjana Makogonowa
„Krasnojarsker Arbeiter“,06.08.2005


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