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Ohne Wasser auf dem Wasser

 

Und so verabschiedeten sich die Expeditionsteilnehmer von der „Republik Janow Stan“ und machten sich wieder auf den Weg, weiter den Turuchan flußabwärts. Für kurze Zeit machten sie am linken Ufer halt, um eine von Dickicht und Unkraut völlig zugewachsene technische Anlage der Stalin-Eisenbahnlinie to fotografieren – das heißt eine Brücke und ein Abflußgraben, genauer gesagt: das, was davon noch übriggeblieben war. Und das war in der Tat nur sehr wenig.

Wieder konnte man kaum glauben, dass hier irgendwann einmal, an diesen verwilderten und menschenleeren Orten, Lokomotiven und Waggons über die Verbindungsstellen der Schienen gedonenrt waren. Und schon ganz und gar unglaubwürdig schien es, dass ausgerechnet hier künftig wieder das Leben zu glimmen beginnen sollte.

Uns kam es so vor, als ob wir uns immer weiter von der „Straße des Todes“ entfernten und sie uns dennoch nicht loslassen wollte. Sogar in der altertümlichen Ortschaft Farkowo, wo die Gelehrten und Journalisten am frühen Morgen eintrafen, war ihr uneilverkündender Atem zu hören. Aber mehr dazu ein wenig später.

Das auf einem Hügel gelegene Dorf verblüffte uns sogleich dadurch, dass es hier keine Kriebelmücken und Asseln gab, jedoch eine unglaubliche Menge Brennholz. Dieses Brennholz lag dort in Gestalt von Stämmen, kleinen Holzklötzchen und Holzscheiten, die am gesamten Ufer überall verstreut herumlagen. Es schien, als reichte das nicht für einen Winter und auch nicht nur für diese eine Ortschaft, sondern als ob es ständig herangeschafft wurde.

Wladimir Roman (Betonung auf der ersten Silbe) ist einer von denen, die diesen Reichtum für die Dorfbewohner sicherstellen. Hier hat er sein Revier zum Spalten von Brennholz – unweit der Quelle.Er arbeitet eine Weile – trinkt das eiskalte Wässerchen, das er für besser hält als jedes Mineralwasser. Und er riet auch uns davon zu nehmen, was wir auch unbedingt taten, indem wir sämtliche leeren Behältnisse mit Wasser aus dem „Chan-Kul“ auffüllten.

Für einen Kubikmeter Brennholz zahlen sie Wladimir 300 Rubel. Wenn er das nur fürs Zersägen und Spalten bekäme, dann wäre er nach hiesigenVorstellungen unglaublich reich und besäße zudem auch noch Freizeit im Überfluß! Aber nein, die Beschaffung von brennholz gestaltet sich bedeutend schwieriger. Zuerst müssen die Bäume gefällt werden, anschließend muß man die Stämme nach Farkowo bringen, sie ans abschüssige Ufer ziehen und erst dort dann zersägen und kleinhacken. Außerdem muß man berücksichtigen, dass Wolodja nur eine Hand hat. Wie ein Invalide mit Schwerstarbeit fertig wird, das weiß nur er allein. Und natürlich seine Mutter Tamara Danilowna, mit der er seit vielen Jahren in der kleinen, baufälligen Hütte zusammenlebt.

Diese Hütte sieht überhaupt nicht unansehnlich aus, nichtsdestoweniger fällt sie einem sofort ins Auge. Eine Wasserableitungsvorrichtung aus verschiedenfarbigen Polyäthylenflaschen, am Staketenzaun – Puppen. Das alles spiegelt die Absonderlichkeit von Tamara Danilowna Roman, der ehemaligen Klub-Mitarbeiterin, wider. Ihr Mann leitete die Pflanzstätte der Kultur, seine Frau half ihm bei allen Dingen. Ihr Ehemann lebt schon lange nicht mehr, aber den Klub, der inzwischen fast vollkommen unbrauchbar geworden ist, bewacht sie immer noch, zumal er sich nur ganze hundert Meter weit von ihrem Haus entfernt befindet.. Reichtümer gibt es dort nicht, lediglich einen völlig veralteten Kinoprjektor, den kein Mensch braucht, aber trotzdem muß man doch darauf aufpassen. Die Hauptsache ist, dass in dem Gebäude nicht durch irgendeinen bösen Unfug ein Feuer ausbricht und die Funken womöglich auf das ganze Dorf überspringen.

Gerade Tamara Danilowna war es, die uns erzählte, dass kurz nach dem Krieg hinter der Dorfeinfriedung von Farkowo vorübergehend ein Lager errichtet wurde, in das im Sommer weibliche Häftlinge gebracht wurden. Alles war vorher genau festgelegt worden – bewaffnete Waffen, Hunde. Die Frauen beschafften Heu für die Wirtschaften, die zu jener Zeit von der im Bau befindlichen Eisenbahnlinie nicht weit entfernt lagen.

Tamara Danilowna erzählte uns auch noch, dass die Häftlinge der Stalin-Lager ständig fliehen wollten... so hart war ihr Los, so schwer ihr Schicksal. Aber wohin sollten sie schon laufen? Ringsumher gab es janichts als Taiga und Sümpfe. Der Fluß war ihnen auch kein geeigneter Helfer, denn auf dem glatten Wasserspiegel waren die Flüchtlinge nur allzu gut sichtbar. Es wurden hinterhältige Verstecke eingerichtet, diejenigen, die sie dann wieder aufgriffen und ins Lager zurückbrachten, die hatten wirklich kein süßes Leben mehr zu erwarten. Aber am Schlimmsten war etwas ganz anderes. Die Behörden verkündeten: ein Ortsansässiger, der einen Flüchtling ergreift, wird mit einem Sack Mehl belohnt. Übrigens, man brauchte ihn gar nicht unbedingt einfangen; es genügte ihn niederzuschießen und als Beweis ein Ohr von ihm abzuschneiden, das man dann bei bezeichneter Stelle ablieferte. Auch unter den Einwohnern von Farkowo und der anderen umliegenden Dörfer gab es Menschen, oder vielleicht – Unmenschen, die das Leben eines Gefangenen gegen einen runden Laib Brot einzutauschen bereit waren. Aber wer gibt das heute schon zu?

Heute sind die Zeiten zwar ärmlich, aber trotzdem anders – ohne diese besondere Angst, ohne den Zwang, einen anderen denunzieren zu müssen. Wenn die Erwachsenen einmal Meinungenauszutauschen haben, dann versammeln sie sich am hochgelegenen, vom Wind heftig umwehten Ufer. Und die jungen Leute zieht es abends ins gebäude der Dorf-Verwaltung –dort hat man ihnen einen besonderen Raum zugewiesen, in dem sie tanzen können – eine Diskothek. Farkowo – das ist ein Dorf für die Jugend. Wohl auch, weil es hier ein Internat gibt, wohin die Kinder aus den nahegelegenen Faktoreien gebracht werden. So kommen auch die Kinder aus Janow Stan, von denen wir uns am Vorabend verabschiedet haben, im Herbst eben hierher. Außer der taubstummen Polinka, die bislang noch nicht zugeordnet ist. Allerdings ist das Wort „nahegelegen“ hier nicht besonders angebracht – bis nach Sowjetskaja Retschka muß man viele Stunden auf dem Turuchan fahren. Eine andere Möglichkeit als den Weg über das Wasser gibt es in den hiesigen Gegenden nicht. Es sei denn den Luftweg, aber das ist heutzutage schrecklich teuer.

In der Farkowsker Internatsschule wohnen und lernen 115 Kinder.Darunter 89 ortsansässige, und diese Tatsache zeugt davon, daß das Dorf eine Zukunft besitzt. Und wenn es eine Zukunft gibt, dann soll soll das Dorf sie auch unterstützen. Leider gelingt dies bei weitem nicht in dem Maße, wie es erforderlich wäre. Selbst bei einer so durchschlagskräftigen Leiterin des Turuchansker Bezirks wie Simona Jurtschenko schafft man es nicht immer, obwohl es kaum ein Kabinett in der Region gibt, in das sie keinen Zutritt hat. Den Siedlungen im Norden wird leiderauch weiterhin sehr wenig Aufmeriksamkeit zuteil.

- Eine Reform der örtlichen Selbstverwaltung ist wohl eine notwendige Angelegenheit, nur bei uns immer alles irgendwie auf sehr merkwürdige Weise reformiert. Der Dorfratsvorsitzende, Viktor Bichert, beklagt sich noch nicht einmal, er konstatiert nur traurig die Tatsachen. – Sämtliche Funktionen hat man auf verschiedene Behörden verteilt und dabei auch noch die Finanzierung gekürzt. Ich trage scheinbar für alles in Farkowo die Verantwortung und gleichzeitig steht mir hier an notwendigen Mitteln gar nicht alles zur Verfügung. Die Sanitäts- und Hebammenstelle hat ihre eigene Unterstellung, die Bibliothek – ebenso, und das Internat – wieder eine andere. Jede Behörde plant irgendetwas, obwohl es sicher keine Sünde wäre, diese Pläne mit uns erst abzustimmen, denn wir wissen viel besser, was an Geld und Material gebraucht wird. Wir könnten sogar an Farbe für die Ausbesserungsarbeiten sparen, wenn wir sie für alle lokalen Einrichtungen auf einen Schlag kaufen würden. Aber nein! Sie wollen uns auch gar nicht immer anhören. Sie fragen beispielsweise, wozu der Heizer im Dorfrat an Samstagen und Sonntagen bezahlt werden soll – an diesen Tagen hat er sich auszuruhen. Aber darüber, daß es in Anwesenheit von Väterchen Frost, und das ganz besonders im Norden, im Winter überhaupt keine freien Tage gibt, darüber machen sie sich keine Gedanken.

Ich wiederhole noch einmal: Viktor Kondratewitsch beklagt sich nicht über das Leben, im Gegenteil- er lächelt sogar immer, aber er erzählt nichts davon, daß sich hier überall unerfreuliche Probleme abzeichnen. Sie, diese Probleme, sind auf den ersten Blick vielleicht auch nur Kleinigkeiten, allerdings nur für diejenigen, die in den Kreis- und Regionszentren leben. Nehmen wir beispielsweise das Inkontakttreten mit der Außenwelt.

Ein Farkowsker Paradox ist die Tatsache, daß es in der Schule eine Computerklasse und sogar einen Internet-Zugang gibt, aber eine Telefon-Verbindung ist nicht vorhanden. Der Apparat, der im Büro des Dorfrates steht, der steht da nur wegen der Wichtigkeit. Der Staub fällt schon von ihm herab, man kann sich an seinem Anblick weiden. Er hat einen wesentlichen Mangel – man kann mit ihm nicht telefonieren, denn die Vorrichtung der automatischen Telefenstation, die ungefähr in den dreißiger Jahren produziert wurde, ist durchgeschmort. In etwa dem gleichen Zustand befindet sich auch die Funkstation – nicht einmal mit der Stadtverwaltung kann man sich in Verbindung setzen, geschweige denn im Notfall jemanden erreichen.

Und so ein Dienst kann einem im unpassendsten Augenblick zustatten kommen. Es ist nämlich so, daß sich die Farkowsker Schule in einem schlimmen Zustand befindet. Die Wände werden wegen der Einsturzgefahr schon mit Bolzen zusammengehalten, aber das dient auch nur dazu, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Wenn die Schule einstürzt – dann wäre das eine Katastrophe. Sie haben Schojga einen Brief geschrieben, aber bisher ist man mit dem Problem noch keinen einzigen Schritt vorangekommen. Die ganze Hoffnung setzen sie nun auf das Bezirksoberhaupt und die Gouvernementsbehörden – daß sie nämlich dieses wichtige Objekt im Regionsbudget für das kommende Jahr mit berücksichtigen. Man muß es schaffen,im Frühjahr die notwendigen Baumaterialien heranzuschaffen. Wenn das nicht sofort nach dem Ende des Eisgang geschieht, dann kommen schon keine Lastkähne mehr den Turuchan herauf. Dann muß man das Lebend er Kinder noch ein weiteres Jahr riskieren.

Verspätete Entscheidungen sorgen für Verstimmung unter den Einwohnern von Farkowo. Einst versprach man ihnen ein Sägewerk, nur wurde es leider nicht im Frühling verladen, sondern erst im Herbst. Infolgedessen kam der Lastkahn gar nicht mehr bis an seinen Bestimmungsort,und die Sägevorrichtung wurde in einem anderen Dorf abgeliefert. Natürlich freuen wir uns für unsere Nachbarn, aber was sollen wir denn ohne Balken und Bretter machen?

Noch ein akutes problem, das seit Jahren ungelöst ist – die Wasserversorgung. Irgendwie haben sie hier ein Loch gebohrt; anstatt 180 m sind sie insgesamt nur etwa 130 m tief vorgestoßen. Und damit war ihre Arbeit auch schon beendet. Das Pumpenhaus steht – aber Wasser gibt es nicht.

Die Bewohner von Farkowo leben hauptsächlich auf Kosten der Budget-Organisationen. Eine andere Arbeit gibt es eben nicht. Früher haben sie Fischfang betrieben und die Fische abgeliefert – jetzt braucht der Staat keinen Fisch mehr. Bleibt also nur die Jagd; gut, daß der Unternehmer Viktor Nowgorodow die Jäger mit allemNotwendigen versorgt und ihnen sogar Waren auf Pump überläßt –im Tausch gegen einen künftigen Pelz. Sonst hätten die Männer hier überhaupt keine Beschäftigung.

Am Tag unserer Ankunft war allerdings die Hälfte aller Männer mit Arbeiten beschäftigt – sie beluden am Ufer einen Karren mit Kohle, der anschließend mit dem Traktor bis zum Heizkessel der Schule gebracht wurde. Früher hatte man dafür einen Gabelstapler benutzt, aber dann war es irgendeinem aus der oberen Etage des kommunalen Wohnungswesens in den Kopf geschossen ihn zu entfernen. Und genau das war auch geschehen. Jetzt hantieren die Männer vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit Schaufeln herum. Eine schwere, schmutzige und staubige Arbeit, aber man bezahlt sie dafür. Eine herzliches Dankeschön, wie es heißt, an die Beamten des Wohnungswesens, die allem Anschein nach schon lange keine körperliche Arbeit mehr geleistet haben.

Und so leben die Bewohner von Farkowo – einem sehr sympathischen Dorf, das an einem malerischen Ort im Hohen Norden liegt. Sie arbeiten, wie es ihre Kräfte und Möglichkeiten zulassen, lernen. lesen Zeitungen und Bücher, die mitunter in die örtliche Bibliothek geraten und schauen sich das einzig verfügbare Fernsehprogramm an ... Vom Bau der Eisenbahnlinie träumen sie hier nicht, obwohl vielleicht nur sie in der Lage wäre, den Alltag der Menschen hier ein wenig lebendiger zu gestalten.

(Fortsetzung folgt).
Wladimir PAWLOSKIJ.

AUF DEN FOTOS: Viktor Bichert – hier der Zar und Gott, wenngleich er weder dem einen noch dem anderen ähnelt, denn Verpflichtungen hat er als Oberhaupt viele, aber um die Möglichkeiten dazu ist es traurig bestellt. Farkowo ist ein kleines Dorf, aber Sorgen haben die Mitarbeiter des Dorfrates genug, genauso wie die Bewohner sich über wenig Probleme nicht beklagen können. Wladimir Romans Arbeitstag unterliegt keinen festgelegten Normen. Er legt selber fest, wann er mit dem Spalten des Brennholzes beginnt und wann er aufhört. Tamara Danilowna schmückt den Staketenzaun mit Puppen, dami der Alltag nicht ganz so grau aussieht. Und auch, damit es den anderen Dorfbewohner, wenn sie vorbeigehen, ein Lächeln entlockt. Die Männer ersetzen nicht zum ersten Mal den Gabelstapler, indem sie von früh bis spät Kohle in den Traktoranhänger werfen. Natürlich ist es keine leichte Beschäftigung, aber es ist auch schwierig, während des Sommers etwas anderes zu finden. Vor der Arbeit muß man sich zuallererst mit Teer einschmieren, damit die Kriebelmücken einen nicht so sher piesacken. Mit einem guten Fang darf man nicht immer rechnen – manchmal reichen die Fische allenfalls zum Füttern der Hunde.

Fotos: Aleksander KUSNEZOW
„Krasnojarsker Arbeiter“, 20.08.2005


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