Dieser Tage erreichte das Igarsker Museum ein Brief des ehemaligen Polithäftlings Walter Ruge, der die Absicht hat, im Juni 2006 mit einer Gruppe westdeutscher Kinematographen eine Fahrt auf dem Jenisej zu machen, um die Siedlung Jermakowo - den Ort seiner Verbannung - zu besuchen. Was soll das Zentrum des GULAG-Bauprojektes No. 503 diesem Menschen, der die größte Sammlung an Fotografien von Jermakowo besitzt, nun antworten?
Ich selbst bin viele Male hier gewesen. Im Jahre 1997 habe ich zum Beispiel detaillierte Video- und Fotoaufnahmen aller Lokomotiven, zahlreicher Gebäude und aller möglichen sonstigen, erhalten gebliebenen Gegenstände gemacht. Das, was ich zusammen mit Mitarbeitern der Miliz am 4. August dieses Jahres hier sah, brachte Erschreckendes zutage. Die Siedlung war buchstäblich durchwühlt worden.
Am Ufer widersetzte sich eine zerzaust aussehende Lokomotive mit beschädigtem Äußeren hartnäckig ihrer Verladung. Die Feldwege waren von Raupenschleppern zerfurcht und verwüstet. Auch eine große Anzahl von Bäumen und Sträuchern war beschädigt. Eine Besichtigung des Geländes verdeutlichte, dass aus verschiedenen Bezirken Jermakowos alle großen Objekte aus Metall abtransportiert worden waren, darunter auch Schienen und diverse Ausrüstungsgegenstände. Von insgesamt vier Lokomotiven waren zwei übriggeblieben All das bezeugen Video-Aufnahmen.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine derartige Aktion mit wohlwollenden Absichten durchgeführt wurde – würde etwa jemand, der das Andenken an eine ganze geschichtliche Epoche, an jene, die hier unschuldig ums Leben kamen, wahren will, so etwas tun?
Ein halbes Jahrhundert lang herrschte in Jermakowo Ruhe, die bisweilen von ein paar Fischern, mit Dampfern herangebrachten Touristengruppen und allen möglichen Forschern gestört wurde. Wie soll man den Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen an diesen Ort streben, erklären, weshalb die Siedlung nun so öde und ausgestorben daliegt und warum es nicht gelingt, Profitgierige von ihr fernzuhalten. Als Museumsdirektor bekam ich sogar die Gelegenheit, mir die Vorwürfe derer anhören zu müssen, die die Lokomotive auf den Lastkahn verluden, dass nämlich sich das Museum angeblich nicht um die Erhaltung der Loks kümmert.
Übrigens liegt darin eigentlich nichts Verwunderliches – Initiative ist nie gefragt, sondern stets strafbar. Das Projekt über die Anordnung der Stadtverwaltung von Igarka, dass Jermakowo und die Lagerzonen in den Status einer „historisch-architektonischen Zone lokaler Bedeutung“ erhoben werden sollen, wurde von den Museumsmitarbeitern vorgeschlagen und erarbeitet, und obwohl die Kontrolle über ihre Ausführung den Angestellten der Verwaltung selbst obliegt, sind es nur die Museumsanhänger, denen bei dem Gedanken um die Erhaltung der Lagerzonen weh ums Herz wird.
Wir werden ständig von irgendwelchen Kinomachern und Liebhabern kommerzieller Sammlungen, die diese Gegenstände auf irgendwelchen Auktionen verkaufen wollen, dafür beschimpft, dass wir stets höflich darum bitten, die gesammelten Objekte an das Museum zu übergeben, anstatt sie in privaten Sammlungen zu belassen und damit auch noch Geschäfte zu machen. Es ist nicht ganz klar, wer das Oberhaupt des Kreises Turuchansk – S.G. Jurtschenko – in die Irre geführt hat, indem er dem „Krasnojarsker Arbeiter“ verkündete, dass die Lokomotiven „zu den Exponaten gehören, die Anfang der 1990er Jahre ins Museumsverzeichnis eingetragen wurden“. Das Igarsker Museum wurde am 1. Juli 1991 eröffnet, bis 1996 befaßte es sich noch nicht einmal mit einer Beschreibung Jermakowos.
Die Lokomotiven selbst, die in der historisch-architektonischen Zone stehen, sind prinzipiell niemals Museumsstücke gewesen – und sie können es auch gar nicht sein. Sie stellen einen Wert mit antiquarischem Charakter dar, der sich in einer geschichtlich besonders bedeutsamen Zone befindet. Und wegen ihrer Erhaltung tritt die staatlich-administrative Kontrollfunktion in Kraft. Die Leiter der Verladearbeiten, N.I. Kotow und P.F. Kusmenko, die nach ihren eigenen Worten auf Befehl des Direktors des kurejsker Wasserkraftwerks W.G. Bardjukow, nach Jermakowo geschickt wurden, unterstrichen in einem Gespräch mit uns, dass in ihnen das schwerewiegende Gefühl geblieben ist, sie würden „alles von einem Friedhof wegschleppen“; ständig würden sie hier von Unglücksfällen und defekter Technik verfolgt.
Im großen und ganzen haben diese Leute recht. In den Lagern sind tausende Häftlinge umgekommen, auf ihren Gräbern gibt es keine Grabsteine. In der Siedlung Jermakowo ist es jetzt praktisch nicht möglich, Begräbnisstätten zu finden, denn die Verbannten und Lagerhäftlinge wurden meist unverzüglich mit Nummern begraben, aber es wurden keine Grabsteine aufgestellt (dies wird durch Archivauskünfte aus dem Besserungsarbeitslager Workuta bestätigt). Die Jermakowsker Lokomotiven sind nicht nur ein Beispiel für die Technik zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, sondern sie stellen in ihrer Art auch symbolische Erinnerungsstücke dar, die in mahnender Weise an die Tragödie der Stalinzeit erinnern. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass in naher Zukunft nichts mehr an sie erinnern wird – Gebäude und Brücken werden endgültig zerstört, die verbliebenen Lokomotiven „mit unbekanntem Ziel“ abtransportiert.
M. Mischetschkina
Direktorin des Permafrost-Museums in Igarka.
„Krasnojarsker Arbeiter“, 24.08.2005