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Die Schamanen hier schon längst nicht mehr mit Turu und Turukanen zusammen

Die Siedlung Staroturuchansk (Alt-Turuchansk; Anm.d.Übers.) wurde zum letzten Zufluchtsort unserer Expedition auf dem Fluß Turuchan. Müde, aber glücklich, kehrten wir nach Turuchansk zurück, wo und die Vorzüge der Zivilisation erwarteten: ein Badehaus, sauberes Bettzeug und die Erlösung von der Mückenplage.

Bei dem heutigen Turuchansk handelt es sich eigentlich um die ehemalige Ortschaft Monastyrskoje. Die turuchansker Winterstraße wurde 1607 erbaut – 27 Werst vom Jenisej entfernt, am Ufer des Nikolsker Nebenarmes des Turuchan-Flußes. Angelegt wurde sie von den beiden Wojewoden Dawyd Scherebzow und Kurdjuk Davydow. In der Siedlung, die für Jahrhunderte ins Vergessen geriet und zudem einem furchtbaren Feuer zum Opfer fiel – ist sogar von der Kirche Nikolajs, des Wundertäters, längst nichts mehr übriggeblieben, aber wir, die Journalisten, wußten trotzdem, daß wir hier uralten, heiligen Boden betreten hatten. Den Boden des Neuen „goldkochenden“ Mangaseja...........

Alt-Mangaseja,die erste russische Stadt in Sibirien, wurde auf Befehl von Boris Godunow 200 km südlich der Mündung des Tas-Busens erbaut;seine Lage erwies sich jedoch für die Lieferung von Frachtgut als ungünstig.

Auf einer Zeichnung aus dem Jahre 1701 ist Nowaja Mangasej doppelt so groß wie der ursprüngliche Ort. Die neue Stadt war von 6 Meter hohen Festungsgemäuern umgeben, besaß fünf Wachtürme, von denen einer ungewöhnliche architektonische Merkmale aufwies und eine Höhe von 25 Metern erreichte.

Im 18. Jahrhundert blühten in Turuchansk (Nowaja Mangaseja oder Alt-Turuchansk) die Landwirtschaft und der Handel. Jedes Jahr wurden Märkte veranstaltet. Die Preise für Lebensmittel waren folgende: Mammutknochen (je Pud) – 1,5 Rubel, Brot (je Pud) – 1,5 Polarfuchsfelle, ein Riegel Tee – 2 Polarfuchsfelle, ein Pfund Machorka – 1 Polarfuchsfell, ein Pfund Roggen- oder Weizenzwieback – 2 Polarfuchspfoten oder 2 Schwänze.

Von 1826-1828 lebten in in Turuchansk die verbannten Dekabristen N. Bobrischtschew-Puschkin , F. Schachowskoj (ein entfernter Abkömmling des Gründers von Mangaseja – Miron Schachowskoj), S.Awramow,N. Lisowskij und S. Kriwzow und hinterließen hier angenehme Erinnerungen an sich. Fjodor Schachowskij brachte den Turuchanskern beispielsweise erste Fertigkeiten im Gemüseanbau bei. Er war es, der mit leichter Hand hier die ersten Kartoffeln züchtete.

Es ist nicht verwunderlich, daß die einzige Straße imheutigen Staroturuchansk (Alt-Turuchansk) „Straße der Dekabristen“ heißt. Übrigens ist sie dermaßen krumm und die Häuser auf ihr stehen mal weit auseinandergeworfen, mal dicht auf einen Haufen zusammengedrängt da, daß man sich der ehemalige Zentral-Prospekt hier nicht mehr auf Anhieb erraten läßt

Das Dorfratsgebäude in Staroturuchansk fanden wir nicht. Dafür zeigte man uns sofort das Haus des Vorsitzenden.Wenn Nikolaj Nikolajewitsch Machenko aus dem Fenster sieht,hat er einen schönen Blick auf den Tanzplatz, den Platz mit den kleinen Läden und dem Karrussel, das man aus einer Kartoffel-Erntemaschine gebaut hat. Das Oberhaupt bemüht sich, auf dem laufenden zu sein, was die Dorfjugend so treibt, obwohl ihm als musikalischem Leiter der örtlichen Massenkultur-Veranstaltungen (wo gibt es schon einen solchen Leiter?) sowieso alles bekannt ist. Das erste, von dem er anfing uns, den Krasnojarsker Journalisten, zu erzählen war - was hier für vielseitige Talente heranwuchsen!

Mit den Erfolgen seines eigenen Kindes prahlte Nikolaj Nikolajewitsch nicht besonders. Dafür erfuhren wir ausgerechnet von Marina Machenko, die mit ihren Schul-Referaten den Bezirkswettbewerg gewonnen und einen Reisegutschein nach Anapa gewonnen hatte, wie ruhmreich die Historie des Dorfes verlaufen war.

Bis zur Bezirksstadt gelangen die Staroturuchansker im Winter nur über das Eis, mit ihrem „Buran“ (Schneemobil; Anm.d.Übers.), während die Flüsse noch am Zufrieren sind - mit dem Hubschreiber, im Sommer mit Motorbooten über den Jenisej und den Turuchan. Übrigens, bei den Ortsansässigen gibt es eine Erklärung dafür,weshalb der Fluß Turuchan heißt.

Wir erfuhren auch alles über die Schamanen. An den hiesigen Orten gebührt es jedem Schamanen seinen eigenen „schesl“ (Stab;Anm. d. Übers.) oder „posoch“ (Stock; anm. d. Übers.) zu haben, auf dem ein Schamanenbaum (Weltenbaum, Baum des Lebens; Anm. d. Übers.) dargestellt ist. Dieser Stab wurde „turu“ genannt. Wenn der Schamane über nicht so viel Kraft verfügte, dann war auch sein Schamanenstab von geringer Größe – er trug dann die Bezeichnung „turukan“. Daher soll der Name des Flusses stammen. Er wurde von Mund zu Mund weitergegeben, und als dann die russischen Siedler hier lebten, klang anstelle von „turukan“ bereits die Bezeichnung „Turuchan“ an ihre Ohren.

Heute leben in Staroturuchansk 121 Menschen. Diemeisten von ihnen befassen sich mit derJagd, dem Fischfang und dem Sammeln wildwachsender Pflanzen. 43 Stück Hornvieh sind hier noch vorhanden. Die Milch wird abgefüllt und in die Bezirkshauptstadt geschickt – für die Kindergärten, Schulen und Internate. Staroturuchansk wird im Bezirk zu den führenden Mast- und Zuchtbetriebsorten gezählt. Die kleinen Selkupen aus Madujka erholen sich hier während der Sommerzeit so gut, daß die Erzieher sie hinterher fast nicht mehr wiedererkennen. Und nachdem sie schnell zu Kräften gekommen sind,fangen sie an zu singen, zu tanzen und Gedichte zu lesen.

Die Natur ist hier einzigartig. Wenn Madujka in der Zone des ewigen Frostes liegt, so blühen in Staroturuchansk auf den Beeten Rosen und reifen Wassermelonen heran. Betreten sie irgendein beliebiges Haus,und die Hausherren werden sich im Sommer ihrer großen und schönen Gemüsegärten rühmen,und im Winter – ihres breiten Sortiments an Eingekochtem und Eingesalzenem.

Das Volk ist hier fleißig und von kräftigem Körperbau. In der Sanitäts- und Hebammenstation, die aufgrund ihrer Sauberkeit an einen Operationssaal erinnert, wendet man sich nicht sehr häufig an Nina Borisowna Pokalo. Wenngleich aus Archivdokumenten hervorgeht, daß Nowaja Mangaseja wohl an einem langweiligen, entlegenen und ungesunden Ort gegründet wurde. Die Ortsbewohner wurden ständig durch den schmutzigen Schlamm belästigt, der nicht einmal bei großer Hitze vollständig trocknete. Die Tundra dampfte, und die Luft füllte sich mit schädlichen Dünsten, welche die Entwicklung von Krankheiten begünstigten.

Nikolaj Nikolajewitsch Machenko erinnert sich, daß es früher genauso war, so daß er den ganzen Sommer draußen herumlief, ohne die Gummischuhe auszuziehen. Und jetzt stapft er mit Hausschuhen durch den Dreck, begleitet uns zum Kutter – aber, egal, macht nichts, ertrunken ist er jedenfalls nicht.

Es war wie verhext! Als wir schon beinahe am Ufer waren, fing es an in Strömen zu regnen. Und wie! Wie unbedacht hatte unser Gesprächspartner seine Galoschen in dieallerhinterste Ecke geschoben.

Wir begaben uns nach Turuchansk. Hinter uns ließen wir die durchlaufenen Kilometer der Stalin- Eisenbahnlinie, Janow Stan, Werchnjaja Baicha (wo wir in aller Herrgottsfrühe eintrafen und die Ortsbewohner nicht stören wollten), Farkowo und schließlich Staroturuchansk. Es heißt, der Norden sei eben der Norden: immer dieselben Farben, dieselben Gesichter, dieselben Probleme.Stimmt nicht!. Der Norden ist so vielgesichtig und vielfältig, daß sich das Interesse daran mit jeder neuen Begegnung nur noch verstärkt.

Tatjana Makogonowa
Fotos: Aleksander Kusnetsow, Wladimir PAWLOWSKIJ

„Krasnojarsker Arbeiter“, 27.08.2005


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