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Kanaschel ist heimatlicher als Deutschland

Diese Sommer-Expedition des „Krasnojarsker Arbeiter“ war nicht nur wegen der Unterweisungen im Eisenbahn-Wesen und der Bekanntschaft mit der Geschichte unseresLandes interessant, sondern auch aufgrund von Entdeckungen ganz anderer Art.

Über eine Familie von verbannten Deutschen aus dem Dorf Goroschichi, die Sonderlinge Stuckert, die im Alter den Beschluß faßten, in vollständiger Harmonie mit sich und der Natur zu leben, bekamen wir in Turuchansk eine Menge zu hören. In der Bezirkshauptstadt, die man auf den Namen „Klein Berlin“ getauft hat, weil es hier so viele deutsche Nachnamen gibt, daß die Namen Iwanow und Petrow unter all den Beckers, Scheffers, Lintsches (Lindes?), Bros, Gorrs, Kaisers, Simons, Stiebens und Wagners fast schon irgendwie wild und rätselhaft klingen. Die Stuckerts sind genau richtig; alle sind an ihren Namen längst gewöhnt.

Das Gebiet Turuchansk war eine Region der Verbannten und Zwangsarbeiter. Und außerdem etlicher kleiner Urvölker. In der Blütezeit der Geologie kamen Bewohner aus dem Baltikum, Weißrussen und Ukrainer hierher,um Geld zu verdienen. Und irgendwie blieben sie dann hier. Sie gewöhnten sich ein, paßten sich an und wurden „Russen“, wie es früher in den Paß eingetragen worden war.

August Julizeowitsch und Lidia Aleksandrowna wurden an der Wolga geboren,im Bezirk Engels, Gebiet Saratow; 1941 wurden sie nach Sibirien zwangsverschickt. Das Dorf Kanaschel am Ufer des Jenisej war damals eine Barackensiedlung. Sogar im September war es in diesen provisorischen Behausungen kalt. Und der Hunger quälte die Menschen. Die Kinder sollten sich, ebenso wie die Erwachsenen, ihre Lebensmittel beschaffen. Im Wald,im Fluß ....

DieMöglichkeit zur Schule zu gehen, Lesen und Schreiben zu lernen, war den Verbannten-Kindern nicht beschieden. Man sagte ihnen: „Ihr seid Deutsche! Waswollt ihr schon lernen? Seht zu, daß ihr euch Skier unterschnallt, spannt Hundeschlitten davor, und dann fahrt zum Eishacken und Fallenaufstellen“. Im Alter von zwölf Jahren sollten die Jungs schon auf Jagd nach Bisamratten gehen.

Aufatmen konnten die Zwangsumsiedler erst nach Stalins Tod. Als August Julizeowitsch davon erfuhr, daß man dem Führer des Proletariats ein Denkmal errichten wollte, begann er heftig zu schimpfen. In Kurejka errichteten sie für Josef Wissarionowitsch ein Pantheon, und in Kanaschel waren sie nicht einmal in derLage, auch nur ein einziges solides Haus zu bauen.

Aber sie hielten durch und ertrugen es.Das erste Tauwetter bekamen die Stuckerts unter Malenkow zu spüren. Sie nennen auch noch Chruschtschow und Gorbatschow. Wie sie Putin bewerten sollen,wissen sie nicht.Ihn zu bewerten, fällt ihnen schwer.

Lida und August haben sich in Kanaschel kennengelernt.Dort haben sie auch geheiratet. Sie bereiten sich schon darauf vor, im kommenden Jahr ihre goldene Hochzeit zu feiern.

Ihr Leben, so sagen sie, ist trotz allem glücklich verlaufen. Ihre drei Kinder sind ihr ganzer Stolz. Tochter Mina arbeitet in der Bildungsabteilung der Turuchansker Bezirksverwaltung, Iraida leitet den Kindergarten in Goroschicha,Sohn Aleksander ist Vorsitzender des Gorochischinsker Dorfrates.Die Kinder haben ihnen sechs Enkel geschenkt, und die Enkel – auch schon Urenkel. Alle freuen sich, wenn sie Oma und Opa in der Taiga besuchen können.

Kanaschel selbst existiert schon beinahe ein halbes Jahrhundert nicht mehr. Alles, was von dem ehemaligen Dorf noch übriggeblieben ist, ist der Friedhof. Aber diese Stätten sind den Stuckerts heilig. Und sogar die Bären gehören zu den Ihren; sie sind handzahm. Ihre Erzählung darüber, daß sie mit den Potaps und Potapowitschs ganz ungezwungen und nachbarschaftlich umgehen,würde ein anderer Mensch überhaupt nicht glauben. Wie die Bären ganz verstohlen den Fisch entwenden oder was für eine gute Spürnase sie dafür haben, wenn die Waldbewohnern einen guten Fang hatten. Und sie schämen sich sogar für ihre Verbrechen – dann lassen sie den Kopf hängen und geben die Beute, die ihnen nicht gehört, anstandslos heraus. Und anschließend verstecken sie sich vor lauter Scham in ihrer Bärenhöhle.

Weder Lida noch August tut es um die Fische leid; sie wissen nur zu gut, daß man diese wilden Tiere niemals füttern darf. Dann legen sie sich auf die faule Haut, setzen nicht genügend Fett an, taumelm im Winter durch die Taiga und gehen womöglich, Gott bewahre, vor lauter Hunger auf einen Menschen los.

Die Taiga lebt nach ihren eigenen Gesetzen und gibt auf jeden ihrer Bewohner sorgsam acht. Die Ureinwohner wissen: nimm von der Natur nicht mehr als nötig – dann wirst du immer haben, was du unbedingt brauchst. Die Stuckerts halten die Vorschriften bedingungslos ein, genauso wie die Gebote der Bibel. Sie sind Lutheraner. In die Kirche gehen sie nicht, an Gott wenden sie sich ohne Vermittler.

Die Stuckerts sind in den 1990er Jahren von Goroschicha, wo sie ein sogenanntes warmes Eckchen besaßen und ein geregeltes Alltagsleben führten, nach Kanaschel umgezogen. An den neuen Wohnort nahmen sie nur das Allernötigste mit. Und inzwischen ist ihre Wirtschaft so groß geworden, daß es an der Zeit ist, sie zu „entkulakisieren“. Nicht umsonst halten sie sieben richtige,kräftige Hunde. Sie bewachen alles – auf Leben und Tod, sodaß wir nicht selbständig vom Kutter an Land gehen konnten. Die Hunde warteten erst ab, ob August Julizeowitsch uns passieren ließ.

Der nicht besonders große, hagere Mann fordert indessen die Gäste beharrlich auf sich nicht zu beeilen. Er erfuhr, wer sie waren und woher sie kamen. Danach wollte er wissen, was sie hierher geführt hatte und wohin sie wollten; vorsichtig und ein wenig zaghaft blickten sie auf unsere ansehnliche Ausrüstung und die Fotoapparate.

Wie sich später herausstellte, war die erhöhte Vorsicht, welche die Taigabewohner an den Tag legten, eine grundlegende Verhaltensweise. Was da nur immer für Leute kamen,um einen Blick in diese Abgeschiedenheit zu werfen. Vor vier Jahren waren Häftlinge hierher gekommen. Während die alten Leute in ihrem Gemüsegarten mit dem Aufhacken des Bodesns beschäftigt waren, hatten die Fremdlinge in ihrem Haus herumgeschnüffelt. Die Hunde fingen an zu bellen,und bald darauf führte August Julizeowitsch ein strenges Verhör mit ihnen: was soll das? Was wollt Ihr?

Die Besucher schleppten sich unter dem Waffenvisier des gestrengen August zum Fluß, schafften es jedoch nicht, vom Ufer abzulegen, als die Einwohner von Kanaschel im nahegelegenen Goroschicha Mitteilung über die verdächtigen Reisenden machten. Dort wurden siemit „ausgebreiteten Armen“ empfangen.

Um somehr,als einer der Passagiere bereits seit langem von den föderalen Ermittlern gesucht wurde. Die Wanderer hatten nicht damit gerechnet, daß bei den Stuckerts eine Razzia stattfinden würde.

Übrigens benutzen die Alten selten die vorhandene Telefonverbindung. Die Kinder und Enkel kommen auch so häufig zu Besuch. Sie bringen alles Notwendige mit. Und die Gesundheit hat sie bis jetzt auch noch nicht im Stich gelassen. Sie nehmen keine Tabletten, obwohl sie die 70 bereits überschritten haben.

Die Kanaschelzer haben auch gute Augen und ein gutes Gehör, sonst wären sie in der Taiga wohl auch verloren. Bei jedem Frost gehen sie auf Fischfang und auf die Jagd. Wenn Schnee liegt und die Sonne scheint, dann schimmert ihre kleine Waldlichtung fast wie Gold. Sogar die Hunde freuen sich über so eine märchenhafte Schönheit!

Übrigens haben die Stuckerts zu den Vierbeinern ein ganz besonderes Verhältnis. Sie behandeln sie wie Familienmitglieder.Und jedes Hundchen lebt in seinem eigenen Haus. Nicht in einer kleinen Hundehütte, sondern in einem richtigen Haus – nicht zu vergleichen mit den ehemaligen Kanaschelsker Baracken, die seinerzeit für die verbannten Deutschen errichtet wurden.

Sofort kamen uns mehrere Hunde entgegen. Mehr als die anderen scharwenzelte Ryschik um unsere Beine herum. August erzählte, daß er, wie alle Rothaarigen (sowohl Menschen, als auch Tiere) ganz pfiffig war. Einmal hatte er ihn vor einem Bären gerettet.Er hatte zufällig gesehen, daß sein Herr die Waffe zuhause vergessen hatte. Erlief dem tolpatschigen Bären hinterher, lenkte dessen Aufmerksamkeit auf sich ab und führte ihn dadurch immer weiter in den Wald, damit derMann ungefährdet in seine Behausung zurückkehren konnte.

Der schärfste Hund, der Anführer der Meute, war in seinem Häuschen sicher eingeschlossen. Mit den Worten August Julizeowitschs, ist er ein wahrer Schrecken, eine echte Bedrohung für fremde Menschen. Und die Hunde hören auf ihn. Würden sie erst einmal den Befehl zum Angriff bekommen, dann würden sie so kraftvoll losstürzen, daß selbst ihr Herr sie nicht mehr zurückhalten könnte. Aber so weit ist es bis jetzt noch nicht gekommen. Die Kanaschelzer sind friedliebende Leute,und wenn sie sehen, daß du nicht in böser Absicht kommst, dann sind sie sehr gastfreundlich.

Von Deutschen sind sie schon ein paarmal besucht worden. Nicht von Verbannten, sondern von jungen und freien Deutschen. Die haben ihn vom Leben und vom Alltag im Westen erzählt.August und Lida haben sie nur mit Müh verstehen können. Und beneidet haben sie sie auch nicht. Die leibliche Schwester lebt in ihrer historischen Heimat und schreibt, mit was für Problemen sie dort konfrontiert werden, wie begrenzt der Kreis ist, in dem sie verkehren.

Aber in Kanaschel, dem fast mystischen Kanaschel, geht es ihnen gut und sie sind frei. Wenngleich sich die sibirische Taiga durch die Mückenschwärme und die strengen Fröste auch von ihrer rauhen Seite zeigt, so ist sie doch auch gut, wie eine Mutter. Ein Vierteljahrhundert zuvor, der nicht enden wollenden Winter überdrüssig geworden, hatten die Stuckerts versucht, sich in Mittel-Asien einzuleben. Sie konnten es nicht.Nacht für Nacht träumten sie vom Jenisej und ... den Birken im heimatlichen Kanaschel.

Da hatten sie uns etwas eröffnet. Und das war nicht die einzige Entdeckung, die wirmachten. Viel mehr noch verblüffte uns die Tatsache, daß die Stuckerts schon seit vielen Jahren Abonnenten und Leser des „Krasnojarsker Arbeiters“ sind. Die frischen Ausgaben liefert ihnen ihr Sohn aus Goroschicha. Wir haben selbst die an die Wand des provisorischen Ofens geklebte Reportage von Erinat....... gesehen. Und die Wände des Hauses sind genauso mit dem „Krasnojarsker Arbeiter“ vollgeklebt,als ob es Tapeten wären. Die letzte Ausgabe haben wir selbst mit Neugier gelesen,denn sie war in der Reaktion ohne unsere Mitwirkung entstanden, während wir durch die Sümpfe des Turuchansker Bezirks streiften und die Stalinsche Eisenbahnlinie erforschten.

(Fortsetzung folgt)

Tatjana MAKOGONOWA
Fotos:Aleksander KUSNEZOW
„Krasnojarsker Arbeiter“, 10.09.05


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