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Die Träume sind nicht zerronnen, sondern so lebendig wie eh und je

 

Während des Studiums der Stalin-Eisenbahnlinie,genauer gesagt-dessen, was davon übriggeblieben ist, zogen wir neben einer Reihe anderer Schlußfolgerungen auch diese: als man sich an die Ausführung des Befehls zu deren Bau machte, dachte niemand darüber nach, wozu in der zugewucherten, entlegenen Taiga, auf sumpfigem Boden und in ewigem Frost, Schienen und Schwellen verlegt werden sollten, einer Arbeit, die mit einem kolossalen Aufwand an Material und menschlichen Arbeitskräften verbunden war. Es war eben eine solche Zeit, die es einem nicht erlaubte, irgendwelche Überlegungen anzustellen.

Aber besaß der Mann, der, nach allem zu urteilen, den Umfang der von ihm unterzeichneten Projekte mit dem Ausmaß seiner Persönlichkeit gleichsetzte, eine Antwort darauf? Oder verbarg sich hinter den „lauten und glänzenden Worten“ nur der einzige Wunsch, sich irgendwie die risige Armee der GULAG-Häftlinge zunutze zu machen? Eine genaue Antwort hatte man noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert später gefunden.

Daß die Teilnehmer unserer Expedition,die in Turuchansk zuende war,nach einer kurzen rast auf einen anderen Kutter (mit weniger Personen) umstiegen und auf dem Jenisej weiter in Richtung Kurejka fuhren läßt sich teilweise daraus erklären, daß sie auf der Suche nach der Wahrheit waren, teilweise aber auch durch den trügerischen Wunsch, noch stärker den rauhen Geist der 1950er Jahre nachzuempfinden.

Weswegen ist diese Siedlung so berühmt? Beispielsweise deswegen, weil die Zarenregierung bedeutende Mitglieder der RSDRP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei; Anm. d. Übers.) hierher verbannte, Revolutionäre, unter denen sich auch Josef Dschugaschwili befunden hatte. Das kleine Holzhaus der Tarasejews, in dem Stalin während seiner Verbannung lebte,wurde später abgetragen und im Pavillon des J. Stalin-Museums aufgestellt, das in Kureika aus Geldern des NorilskerHüttenkombinats errichtet wurde; und für Anfisa Stepanowna Tarasejewa bauten sie ein neues, solides Haus.

Zum Sommer 1950 wurden aus Norilsk Häftlingsbrigaden mit erfahrenen Bauarbeitern,die alle nur ein geringes Strafmaß bekommen hatten, geschickt, insgesamt etwa 200 Mann. Auf eine zweihundertjährige Haltbarkeitsdauer waren auch die Lärchenholz-Pfähle berechnet, die sie unterhalb des Eisenbeton-Fundaments des Pavillons in den Boden einschlugen. Und die Fensterglas scheiben des Gebäudes waren so konstruiert, daß sie selbst bei grimmigstem Frost nicht zufroren.

Auf einem hohen Sockel vor dem Pavillon erhebt sich eine zehn Meter hohe Statue des Führers aus Eisenbeton (mit weißem Gips überzogen). Im Sommer 1952 wurde dieses großartige Bauprojekt vollendet,und gleich nebenan begann man mit einem neuen, großen, das ebenfalls untrennbar mit dem Namen des Führers verbunden war.

Im Herbst 1953 wurden in aller Eile Lager-Städtchen für den Bau der „Todesstrecke“ eingerichtet – dem Bahnstrecken-Friedhof. Wieviele Menschen dort begraben sind, hat niemand jemals gezählt. Nicht einmal die Grabhügel sind erhalten geblieben.

Die Transpolar-Trasse, deren Schienen im Nichts endeten, könnte sowohl zum Denkmal für die Opfer des GULAG,als auch für die Menschen werden, die hier verschollen sind. Fünf Jahre nachdem die Züge aufgehört hatten, über diese großartige Nördliche Magistrale zu rattern und der „Eisenbeton“-Führer mit einem Traktor von seinem Sockel gerissen und im Jenisej ertränkt worden war, wurde das Museum geschlossen, und die ganze Gegend begann ziemlich schnell zu verwildern und zu veröden –genauso wie der mit so viel Mühe mitten durch den Sumpf verlegte Bahnkörper.

Wir, der Chefredakteur Vladimir Pawlowskij, der Fotokorrespondent Aleksander Kusnezow sowie die Autorin dieser Zeilen, waren gezwungen, uns einen Weg zu dem zerstörten Bauwerk durch ein gigantisches Brennessel-Dickicht, ein dichtes Geflecht von Ästen und Zweigen und allem möglichen Gestrüpp zu bahnen, was schmerzhafte Spuren in unseren Gesichtern hinterließ, während unsere Beine zur gleichen Zeit in einer widerlich dreckigen Brühe versanken.

Schweigend gingen wir hintereinander, und jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach.

Ich erinnerte mich irgendwie an das Pantheon-Projekt des Architekten W. Pestowa, das er irgendwo gegen Ende des Krieges vorgeschlagen hatte. Auf dem Bild sah man eine mit Granit verkleidete Kaimauer und zwei einzelne, in der Ferne stehende, kleine Fichten. Und ER blickte von der Höhe seines Sockels herab und sah, somuß man wohl annehmen, dort hinten auch die Zukunft des Landes, die mit seiner eigenen untrennbar verbunden war.

Auf Fotografien aus dem Jahre 1953, als das Pantheon eröffnet wurde, sah alles viel bescheidener aus. Und unsere schöpferische Gruppe fand überhaupt nur eine einzige Ruine vor. Von der ganzen Kate waren gerade noch ein paar Wandstücke übriggeblieben. Jedenfalls wollte ich es nicht riskieren, mich ohne die Männer noch tiefer in das Gelände durchzuschlagen.

Ich dachte: entweder gehe ich dort verloren oder die Mücken, die an diesem „heiligen“ Ort scheinbar besonders bösartig waren, werden mich vollständig auffressen. Und warum hatten wir das Angebot des Jungen aus Kurejka abgelehnt, uns wie Touristen mit dem Traktor auf unserer Exkursion spazierenzufahren?

Unser Kutter hatte weit nach Mitternacht an der Anlegestelle in Kurejka festgemacht, aber auf der Straße war es taghell. Nur der Himmel schaute finster drein. Der schwarze Himmel erinnerte mich auch an Fotografien aus den längst vergangenen 1950er Jahren, an Bilder von Rjausow. Vielleicht ist dies der Stempel der Vergangenheit?

Die Siedlung, die einst beide Flußufer eingenommen hatte, ist jetzt auf eine Uferseite konzentriert. Auf der gegenüberliegenden Seite sind den Einwohnern noch ihre Verwandten geblieben - in den dort befindlichen Gräbern. Dortliegt auch Michail Bakaldins Urgroßmutter. Und Michails Großvater arbeitete als Leiter des Frauenlagers der Stalinischen Eisenbahnlinie.

Langweilig ist es dem Burschen in der Siedlung. Junge Leute kommen, wenn überhaupt, höchstens im Sommer. Es gibt keine Arbeit, die Menschen leben hier von der Naturalwirtschaft. Es gibt starke Farmer,solche wie Sinaida Nikolajewna Nagornaja. Ihre Beete im ewigen Frost hinter demPolarkreis könnten selbst die leidenschaftlichen Gemüsegärtner im Süden der Region vor Neid erblassen lassen. Aber wo sollman die herangezüchteten Produkte absetzen? Wo soll man sie zu Geld machen? Man könnte sie den Passagieren der vorbeikommenden Dampfer zum Kauf anbieten, aber wie viele kommen hier schon vorbei?

Kurejka, das kleine Kurejka, wurde zu Lebzeiten zur Legende, zu einerkleinen Seite in der Geschichte des Staates. Nach dem Pantheon-Projekt zu urteilen, so hätten im Laufe der Zeit Grünanlagen und Parks, Plätze und Boulevards angelegt werden sollen.Es war geplant, daß Dampfer dort vorüberschwimmen,Züge vorbeidonnern und „eiserne“ Vögel dorthin fliegen ...

Und ewig lachen die glücklichen Kinder.

Die Träume sind nicht zerronnen, sondern so lebendig wie eh und je. Über die Wiederherstellung der Transpolar-Trasse wird laut und mit aller Ernsthaftigkeit gesprochen. Sodaß also die Expedition des „Krasnojarsker Arbeiters“ entlang der Stalin-Eisenbahnlinie in Kurejka noch nicht beendet war. Vielleicht wird sie im nächsten Sommer fortgesetzt.

Tatjana MAKOGONOWA.

AUF DEN FOTOS: So stellte sich den Touristen damals Stalins Pantheon dar. Die Sommerferien möchte das Mädchen nach wie vor gern bei der Großmutter in Kurejka verbringen. Langweilig ist es Michail Bakaldin in der halb verlassenen Siedlung. Und das ist alles, was vom Pantheon nach dem Brand noch übrig geblieben ist.

Fotos: Aleksander KUSZEZOW.

„Krasnojarsker Arbeiter“, 24.09.2005


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