Als Amalia Altergot zum ersten Mal sibirischen Boden betrat, war sie ein Sprößling von gerade einmal vier Jahren. Die Heimat der Familie Altergot – das Dorf Leninskoje. Bezirk engels, Gebiet Saratow, RSFSR. Im Jahre 1941, mit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, wurden die Wolgadeutschen mittels einer Sondermaßnahme aus dem Zentrum Rußlands ausgesiedelt. Nach Kasachstan, nach Sibirien ...
Somit wurde Amalia Genrichowna (Heinrichowna) Sutschkowa, geborene Altergot, das Dörfchen Nowonikolsk zur zweiten Heimat. Hierhin wurde die elterliche Familie verschleppt und gezwungen sich einzuleben.
In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts „schallte“ der Name der Frau, über die ich hier berichte, durch den ganzen Bezirk. Die Ehrentafeln und Ausstellungsstände der Sieger des sozialistischen Wettbewerbs – diese Galerien von Schwarzweiß-Fotos, auf denen auch Amalia Genrichownas Gesicht als Sinnbild selbstaufopfernder Arbeit zu sehen war – flößten den Menschen ein gehöriges Maß an Achtung gegenüber ihren Landsleuten ein.
In der Nischnoe- Sutschkowo-Straße, wie die Dorfbewohner sie nennen, trafen wir nach dem Mittagessen ein. Wir hatten uns vorher nicht mit Amalia Genrichowna verabredet. Aber, wie immer bei guten Menschen, empfing sie uns mit aller Herzlichkeit. Die Hausherrin begriff sofort, weshalb die Korrespondenten sie besuchen wollten. Früher war das eine Sache der Gewohnheit gewesen. In der Bezirkszeitung „Roter Stern“ hatten sie oft über die bekannte Melkerin der „Simonowskij“-Sowchose geschrieben.
Ich hatte mir einige Fragen für meine Gesprächspartnerin zurechtgelegt. Aber ich nahm davon Abstand soe zu stellen, nachdem sie ihren ersten Satz hervorgebracht hatte. Ihr Ehemann – Michail Iwanowitsch, mit dem Amailia Genrichowna wie ein Herz und eine Seele siebenundvierzig Jahre zusammengelebt hatte, war am Vorabend mit einer komplizierten Diagnose in eine der Nowosibirsker Kliniken eingeliefert worden. Und vom Beginn unseres Gespräches an, bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns verabschiedeten, sprach sie nur von ihm, von ihm, von ihm ...
- Also wie haben Sie Michail Iwanowitsch denn kennengelernt, liebe Amalia Genrichowna?
- Auf der Hochzeit meiner Freundin! Sie heiratete, und ich zählte zu ihrem Freundeskreis, und der Bräutigam war mit Michail Iwanowitsch befreundet. Wir sahen einander an, und das war’s ... Wir verliebten uns ineinander. EIn für allemal.
- Das heiß also, es gibt die Liebe auf den ersten Blick?
- Natürlich, mein Herzchen! Die wahre Liebe soll auch genau so sein. Nur lebten wir anfangs unter schwierigsten Umständen. Michail Iwanowitschs Eltern mochten mich nicht. Sogar wegen eines kleinen Stückchens Brot machten sie mir Vorwürfe. Denn für sie war ich eine Tochter des deutschen Volkes. Eine Feindin war ich. Besonders mein Schwiegervater konnte mich nicht ausstehen. Er war als Krüppel aus dem Krieg zurückgekehrt - ohne Beine. Und auch daran gab er mir die Schuld.
Mischa und ich fingen an dieses Haus hier zu bauen. Und nun wohnen wir schon beinahe ein halbes Jahrhundert darin. Wir haben sehr gute Kinder. Zwei Söhne und zwei Töchter. Sie leben alle in der Stadt: die Töchter in Krasnojarsk, die Söhne in Kemerowo und Nowosibirsk. Unser ältester Sohn war es auch, der Michail Iwanowitsch im Krankenhaus untergebracht hat. Er hat selbst eine Menge Geld dafür bezahlt. Unsere Kinder sind sehr fleißig und haben große Achtung vor uns. Sie lieben uns.
Von früh bis spät
- Und wann haben Sie angefangen zu arbeiten?
- Mein liebes Kind, mit vierzehn Jahren habe ich beim Kühemelken in Nowonikolskoje schon voll gearbeitet! Ich habe sowohl als Kälberhirtin – das war schon, als ich mit Michail zusammen in Sutschkowo lebte -, aber auch in Brigaden gearbeitet. Das heißt, ich habe verschiedene Hilfsarbeiten erledigt. Und dann bin ich auf die Farm gekommen und habe ganz selbständig gearbeitet, als ich meine eigene Gruppe Kühe hatte. Zweiundzwanzig Jahre lang habe ich meine „Grau-Braunen“ gemolken. In der ersten zeit wußten wir Melkerinnen überhaupt nicht, was Urlaub eigentlich ist. Später, als sie dann die Kolchose in eine Sowchose umbenannten, bekamen wir für unsere Arbeit auch Urlaub zugesprochen. In der Gruppe waren immer 30-33 Milchkühe. Solange es keine melkmaschine gab, mußten wir mit den Händen melken, aber später wurde es dann leichter. Als die Milch mit Elektrizität zu fließen begann ... da war das toll auf der Farm! Eine feine Sache. Es schien, als ob alles leichter und einfacher war. Aber als Melkerin arbeiten – das ist schwer. Besonders das morgendliche Aufwachen und der Gang zum Melken am frühen Morgen. Und das jeden Tag: morgens melken, abends melken, das Haus, vier Kinder, Kühe, Ferkel, Schafe, Hühner – das hatten wir alles auf unserem Bauernhof ... Ach, wie schwer war das! Aber wir hatten auch viel Freude. Die Kinder wuchsen heran, und die Liebe zwischen Michail Iwanowitsch und mir festigte sich noch mehr.
Der ältesten Tochter widerfuhr eine Menge Leid. Sie ließ ihr winziges Kind allein in der Wiege liegen. Frühmorgens rannte sie zum Melken, danach lief sie im Laufschritt nach Hause zurück, erledigte dort die ganze Hausarbeit, und gegen Abend - noch einmal zur Farm. Michail Iwanowitsch war der Chauffeur. Und im Herbst und Frühjahr holten sie ihn zur Arbeit auf dem Mähdrescher. Mein Mann gehörte auch zu den anerkannten Mähdrescherfahrern.
- Gab es unter all diesen alltäglichen Dingen, denn auch Feiertage für Sie, Amalia Genrichowna?
- Und ob! Mir hat trotzdem das althergebrachte Leben besser gefallen. Wieviel haben die jungen Leute in den Kolchosen und Sowchosen gearbeitet. Und was ist jetzt? Drogensucht und Alkoholismus. Das ist schrecklich. Für alle ist es schrecklich. Was kommt da noch alles auf uns zu?
Und für mich gab es einen großen Festtag im Herzen, als ich nach Moskau fuhr. Als Bestarbeiterin auf dem Gebiet der Tierzucht. Moskau hat mir damals gut gefallen. Alles so schön. Sie brachten uns im Hotel „Goldene Ähre“ unter. Und dann haben sie mit uns alle möglichen Rundfahrten und Exkursionen unternommen – zur Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft, zum Mausoleum, und in der Rüstkammer waren wir auch. Und an vielen anderen Orten. Die ganze Woche, die wir in Moskau verbrachten, war für mich wie ein Festtag. Ich hatte Geld gespart. Und als ich wieder zuhause ankam, da kaufte ich sofort einen Kühlschrank der Marke „Birjussa“ auf Kredit. Das war 1978, und das Kühlschränkchen funktioniert heute noch. Aus Moskau brachte ich den Kindern Schokoladen-Bonbons mit: „Belotschka“ („Eichhörnchen“; Anm. d. Übers.) und „Mischka na severe“ („Das Bärchen Mischka im Norden“; Anm. d. Übers.). Für alle teilten sie kleine Häufchen ein, und Vater und ich bekamen auch fünf Stück; Lena war die allerkleinste – sie konnte noch keine Bonbons essen. Und der ältesten Tochter habe ich auch noch ein Kleid aus der Hauptstadt mitgebracht.
In Moskau waren wir im Frühling. Und da ist mir trotzdem etwas ziemlich Negatives aufgefallen: die Stiefelchen waren vom Salz ganz zerfressen. Und dabei hatte ich sie erst neu gekauft, und sie waren nicht einfach zu beschaffen gewesen; schwer hatte ich jede Kopeke dafür erarbeitet. Ach, hat mir das um die schönen Stiefelchen leid getan ...
- Amalia Genrichowna, wenn Sie Rußlands Präsidenten begegnen würden, was würden Sie ihm dann wohl sagen?
- Daß ich mir um die Jugend Sorgen mache. Die jungen Leute sollen arbeiten. Wir haben auch keine Drogen genommen und sind betrunken herumgelaufen. Das würde ich ihm sagen. Ich habe vier Kinder, und sie arbeiten alle. Und zum Thema „Rente“ würde ich ihm auch noch was sagen. Wieviel haben Michail Iwanowitsch und ich gearbeitet, und zusammen haben wir jetzt nur ungefähr dreitausend (Rubel; Anm. d. Übers.). Das sind für jeden eintausendfünfhundert – ist das vielleicht viel? Allerdings bekomme ich als Repressionsopfer hundert Rubel zusätzlich. Hundert „deutsche“ ...
Wir können das Haus nicht rechtskräftig auf unseren namen eintragen lassen. Wieviel kostet der ganze Papierkram dafür? Teuer ist das – sehr, sehr teuer für Rentner, wie wir es sind. Es will mir nicht in den Kopf hinein, warum wir das Haus, was wir mit so viel Mühe gebaut haben, vom Staat kaufen sollen? Wer hat sich das ausgedacht?
Das Leben wie es ist
- Heben Sie sich niemals von den Russen beleidigt oder gekränkt gefühlt, daß damals durch den Willen der Staatsmächte Ihr heimisches Nest zerstört wurde?
- Wo denken Sie hin? Mit Russen bin ich groß geworden. Und ich habe nur Gutes von ihnen gehabt. Die anderen kenne ich nicht. Und ich will sie auch nicht kennenlernen. Auch an Sibirien habe ich mich gewöhnt. An was in meiner Heimat könnte ich mich heute noch erinnern? Ich war doch damals noch nicht einmal vier Jahre alt! Nein, ich bin auf niemanden böse. Ich kann auch kein Deutsch. Aber verstehen tue ich es schon. Meine älteste Schwester spricht Deutsch, aber ich nicht.
- Amalia Genrichowna, wenn Sie in Ihrer Jugend vor die Wahl gestellt worden wären: lieber in der Stadt zu leben und einen anderen Beruf zu haben ...
- Ja, damals hat die Kolchose keine Ausweise ausgestellt. Wo hätte ich denn ohne Papiere hingehen sollen? Na ja ... wenn ich mir vorstelle ... Ich hätte nichts anders gemacht. Das wäre ja ein ganz anderes Leben gewesen, ein ganz anderer Mensch.
N. Stefanenko
„Nachrichten“, N° 41 (1759), 08.10.2005