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Botschaft aus einer düsteren Epoche

30. Oktober – der Gedenttag an die Opfer politischer Repressionen

Er hieß Stepan Iwanowitsch Lopatin und war ein sehr weit entfernter Verwandter – ein Vetter

dritten Grades meines Großvaters. Stepan Iwanowitsch ist „einfach“ einer von Millionen, die in den schrecklichen Jahren der kommunistischen Macht Opfer von Repressionen wurden.

Geboren wurde er im Jahre 1910. Er arbeitete als Traktorist auf einer Kolchose. Zwei Monate vor seiner Verhaftung heiratete er. Am 10. Juli 1937 mußte seine Ehefrau am eigenen Leibe erfahren, was das „Recht auf freie Arbeit“ bedeutet. Und das kam so. Am Morgen erschien vor der Haustür der Brigadier Esin und befahl im Vorbeigehen: „Schurka, mach dich fertig! Du fährst für zwei Wochen zur Heumahd in die Nachbarkolchose!“ Stepan Iwanowitsch erwiderte: „Was fällt dir denn ein? Kommst ihr an und erteilst meiner Frau Befehle?“ Der Brigadeführer stampfte wütend mit den Füßen auf, sagte jedoch kein Wort. Stepan Iwanowitsch nahm sein Frühstück ein und begab sich zur Arbeit. Und während er auf dem Feld auf seinem Traktor saß, bemerkte er plötzlich, daß ein Auto herangefahren kam ...

Richter Pronow beschuldigte Lopatow, daß dieser bei der Ernte Getreide verloren hätte, und überredete ihn anschließend, sich mit der Anklage einverstanden zu erklären. Dabei erklärte er ihm, daß er bei Schuldanerkenntnis nicht mehr als fünf Jahre bekäme, von denen er auch nur die Hälfte absitzen müßte. Außerdem sagte er, daß es im Norden nicht genügend Menschen gäbe und daß er dort als Baggerführer arbeiten würde. Anschließend wurde der Kolchos-Buchhalter Polonskij ins Amtszimmer hereingeführt, der aussagte, daß Lopatin das Getreide absichtlich verloren habe.

Am 5. Dezember 1937 wurde Stepan Iwanowitsch nach Krasnojarsk gebracht. Erst 22 Jahre später erfuhr er aus seiner Rehabilitationsbescheinigung, daß ihn an eben jenem Tage eine mysteriöse, unbekannte „Trojka der NKWD-Verwaltung“ zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt hatte. Seine „Akte“ sowie die genaue Beschaffenheit seiner Anklageschrift bekam Stepan Iwanowitsch bis an sein Lebensende nicht zu sehen. Im Jahre 1999 las ich im Protokoll (Nr. 147?) über den Verurteilten Nr. 122 (?): „Lopatin, S.I., verbreitete bösartige Verleumdungen über den Kolchosaufbau und die materielle Lage der Kolchosbauern. Er lobte das faschistische Deutschland und redete schlecht über die Sowjet-Regierung. Bei der Arbeit verübte er Sabotageakte und Schädlingstätigkeiten: so beispielsweise bei der Getreideernte, in der Absicht, sowjetischen Mähdreschern Schaden zuzufügen, was der Kolchose einen Verlust in Höhe von 2.000 Rubel verursachte. Er gab dies nicht zu. Überführt wurde er durch die Zeugenaussagen von Jurtajew, Esin, Polonskij sowie bei einer direkten Gegenüberstellung mit Polonskij“.

Seine Haft verbüßte Stepan Iwanowitsch bei der Mine Tschajurja im Gebiet Magadan, wo er als Goldsucher arbeitete. Sie lebten dort in Zelten – jeweils mit mehreren hundert Mann. In der unmittelbaren Umgebung befanden sich unzählige Lager. Sie arbeiteten jeweils 11 Stunden täglich. Stepan Iwanowitsch blieb wie ein Wunder am Leben. Seine seelische Verfassung war grauenvoll. Seine Ehefrau schrieb ihm einen Brief ins Lager, daß sie nicht länger auf ihn warten würde: „10 Jahre – das ist eine viel zu lange Zeit!“

Er blieb von Anfang bis Ende in Haft, verbüßte die Haftzeit vollständig, und verließ das Lager 1947. Rehabilitiert wurde Lopatin im Jahre 1959, nachdem er selbst einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.

Stepan Iwanowitsch ist einer von Millionen Opfern politischer Repressionen. Viele verschwanden und blieben für immer verschollen. Ihre Gräber (falls man Massenbestattungen überhaupt so bezeichnen kann), sind mit Unkraut überwuchert, ihre Namen sind vergessen. Es ist nun Sache der neuen Generation Licht in die verschüttete Geschichte zu bringen und die Botschaften aus jener düsteren Epoche zu enträtseln.

Pawel LOPATIN,
Mitglied der Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“.
Heutige Zeitung. 29.10.05.


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