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Die Wege, die wir wählen

In den drei Jahrzehnten siener tadellosen Fahrer-Tätigkeit könnte der Tacho seines Lastwagens ganz und gar von den Entfernungen, die er zurückgelegt hat und die den Strecken der 35 sibirischen Magistralen entsprechen, „aufgespult“ sein. Oder dreimal um den Äquator...

Man weiß nicht, wie Karl Bellers Arbeitsbio-graphie aussehen würde, wenn er nicht in die Zwinge völlig unbegründeter Anschuldigungen seitens des Brigadeführers – eines Verwandten seiner Frau – geraten wäre.

Es geschah während der Arbeitszeit, als der der übermüdete Karl für buchstäblich nur wenige Minuten das Pferd anband, um etwas zu essen. Die Arbeit eines Kolchosbauern ist schwer und bisweilen auch nicht ganz vernünftig. Du trittst den ganzen Tag auf der Stelle – keine Ruhezeit, keine Erholung, nicht einmal Arbeitsbücher wurden in den nun schon lange zurückliegenden 1950er Jahren ausgegeben. Карл, band nach diesen Streitereien wütend das Pferd los und machte sich auf den Weg ins Bezirkszentrum. Er öffnete die Tür der Getreide-Annahmestelle, wo man ihm eine Arbeit als Ladearbeiter anbot. Er kehrte nach Krasnij Lug zurück, packte seine Frau Tatjana und begab sich für immer nach Bolschoj Uluj...

- Und was war dann? Erzählen Sie, Karl Karlowitsch.

- In jenen Jahren wurden auf dem Tschulym verschiedene Frachten transportiert. Am Ufer war ein Förderband in Betrieb, das direkt von der Getreide-Annahmestelle zum Wasser hinunterführte, und darauf „lief“ die Fracht – mit Korn gefüllte Säcke. Unten nahm ich die Säcke bereits in Empfang und verstaute sie ihm Frachtraum. Der Tschulym war für Schiffe befahrbar, ständig kamen Kutter zur Anlegestelle.

Die Arbeit eines Verladearbeiters ist nicht leicht. Aber in meiner Situation musste man sich an jede beliebige Arbeit „hängen“. Ich hatte dem Leiter der Getreide-Annahmestelle damals selbst gesagt, dass ich jede beliebige Arbeit erledigen würde.

ZUERST...

- Und später? Wie wurden Sie Fahrer?

- Das ist eine lange Geschichte. Oder eine Angelegenheit meines ganzen Lebens. Meine Berufstätigkeit als Fahrer begann mit meinem Dienst in der Sowjet-Armee, genauer gesagt, 1958. Ich diente in der Region Primorje – im Fernen Osten, in Nowoneschino. Danach schickten sie mich ins Lehrkombinat der Stadt Wladiwostok, hier absolvierte ich Fahrer-Kurse – halbjährliche. Ich lernte recht gut. Irgendwie bestellt mich der Kommandeur zu sich und sagt, so und so, das gibt es wohl eine Möglichkeit, in Wladiwostok zu bleiben, und ich kann dich zu meinem Freund nach Sergejewka schicken. "Du bist ein guter Fahrer", - meinte der Kommandeur.

Ich fuhr nach Sergejewka.

Damals musste man drei Jahre in der Armee dienen. Mich zogen sie 1957 ein, und meinen Wehrdienst beendet ich 1959. Zu der Zeit war mein ältester Sohn Jura schon fast vier Jahre alt.

- Ihre drei Söhne sind auch in Vaters Fußstapfen getreten – sie sind auch Fahrer geworden...

- Ja, ich habe drei Söhne. Sie sind alle von Beruf Fahrer. Und die Enkel ebenfalls.

- Übrigens, Karl Karlowitsch, worin unterscheidet sich die Arbeit eines Fahrers von der eines Fahrzeugführers?

- Ein Fahrer ist sowohl Fahrzeugführer als auch Mechaniker – beides in einer Person. Ein professioneller Fahrer kennt sein Auto, wie die fünf Finger an seiner eigenen Hand. Außerdem fühlt und liebt er es. Wissen Sie, ich lag immer im Zeitplan, wenn ich nach Hause zurückkehrte. Weil ich mich auf meine Technik verlassen konnte, jedes einzelne Bauteil begriff – deswegen hat es mich nie im Stich gelassen.

"LANDWIRTSCHAFTSTECHNIK"- RIESIGE WERKSTÄTTEN!

1961 arbeitete ich bereits bei der Bolscheulujsker "Landwirtschaftstechnik". Der Garagenleiter, Fjodor Fjodorowitsch Bykow, holte mich dorthin. Die riesigen Werkstätten der "Landwirtschaftstechnik" machten natürlich Eindruck auf mich!

Alles drehte sich, alles funktionierte. Aus den Kolchosen und Sowchosen, aus allen Betrieben wurden Traktoren, Lastkraftwagen dorthin gebracht. Wenngleich der eigene Fuhrpark der Landwirtschaftstechnik nicht groß war. Na ja, damals waren 15 Fahrzeuge des Typs GAS-51 und drei Einheiten Kipper der Serie GAE-93 unterwegs.

Aber die "Landwirtschaftstechnik" war zahlenmäßig eines der größten Unternehmen im Bezirk.

- Straßen-Romantik – gibt es diesen Begriff bei den Berufsfahrern?

- Mir gefiel die Straße. Und ganz besonders Fernfahrten...

- Woran lag das, Karl Karlowitsch?

- Ich weiß nicht, wie ich antworten soll. Ich mochte Fernfahrten eben. Und schließlich hatte man damals ganz andere Automobile, und es gab auch keine Aufenthalte. Du fährst, und es kommt dir vor, als wärst du ganz allein unterwegs. Der GAS ist nicht ausgerüstet. Im Winter hältst du deinen Kringel beim Essen mit wärmenden Handschuhen fest - mit "Fäustlingen". Es kommt vor, dass dich unterwegs der Schlaf einholt, dann fährst du an den Straßenrand, nimmst für ein Stündchen eine Mütze voll Schlaf, trinkst ein wenig Tee aus der Thermoskanne, isst eine Kleinigkeit – und weiter geht’s.

Allein mit dem "Holzlaster" habe ich fünf Jahre lang Frachten abgeliefert. An jeden beliebigen Ort innerhalb der Region Krasnojarsk. Ich bin überall gewesen, bis zur Grenze unserer Region mit dem Gebiet Nowosibirsk, und ich bin durch ganz Chakassien gefahren. Immer mit schweren Lasten.

EINE LANGE REISE

- Karl Karlowitsch, erzählen Sie ein wenig über Ihre Kindheit. Sie sind schließlich als kleines Kind 1941 nach Sibirien geraten...

- Wir wohnten in der Stadt Engels, im Wolgagebiet. Der Krieg gegen Deutschland brach aus, und meine Eltern wurden mit ihren Kindern hierher ausgesiedelt. Ich war noch ein ganz kleiner Junge, und deswegen kann ich über die lange, schwierige Fahrt nach Sibirien nichts sagen. Aber das, woran ich mich erinnern kann, hat sich scharf ins Gedächtnis eingeprägt: ein lahmendes Pferd bringt uns über eine hölzerne Brücke, die den Fluss Ulijka quert. Ich weiß das wohl noch so genau, weil das Pferd gehinkt hat...

- Und wohin brachte dieses lahme Pferd ihre Familie?

- Nach Krasnij Lug. Dort begann auch im Alter von 14 Jahren meine Arbeitsbiographie, dort ging ich zur Schule und dort lernte ich auch Tatjana Petrowna, meine Frau, kennen. Mein ganzes Leben bin ich schon mit ihr zusammen.

Tatjana Aleksandrowna Karatajewa und ich besuchten die Schule bis zur vierten Klasse...

Und später lernten wir an der Schule von Bolschoj Uluj; ich wohnte in der Familie meiner ältesten Schwester. Uns Tanja – im Internat.

Meine älteren Schwestern leben schon lange in Deutschland. Sie kommen oft zu uns zu Besuch.

- Könnten Sie denn auch nach Deutschland ausreisen?

- Natürlich könnte ich das. Aber ich habe nie den Wunsch danach gehegt. Sie haben nach Straßenromantik, nach langen Fahrten gefragt. Ich weiß nicht genau, was ich darüber sagen soll, aber mir hat es gefallen, in mein Kollektiv zurückzukehren. Damals, bei der "Landwirtschaftstechnik" haben wir sehr, sehr freundschaftlich und mit Geschlossenheit zusammengearbeitet.

In diesem Unternehmen gab es ein rotes Buch der Erinnerung. Damit dein Name in diesem Buch verewigt wurde, musstest du sehr gut arbeiten. Ich habe aufrichtige Arbeit geleistet, mein Kollektiv und meine Arbeit als Fahrer geliebt. Auch mein Name findet sich in diesem Buch... Bei der Bolscheulujsker "Landwirtschaftstechnik" war ich von 1961 bis 1989 tätig, obwohl mein Berufsleben als Fahrer erst seit meinem Eintritt in den Armeedienst zählt.

IN DER SCHLACHT UMS LEBEN (vom Autor)

1989 wurde Karl Karlowitsch von einem Unfall heimgesucht. Neun, einem Unheil. Mit einem Wirbelsäulenbruch lag er über ein Jahr in einem Gipsverband und musste danach ein Spezialkorsett für Behinderte tragen. Der Neuchirurg aus der Krasnokarsker Regional-Klinik, der ihn operierte, sagte:

- Sie sind "im Hemd" geboren. Ihr Leben hing an einem dünnen Faden, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wenn die hauchdünne Nervenverbindung beim Sturz zerstört worden wäre, dann wäre auch Ihr Lebensfaden damals zerrissen. Karl Karlowitsch hielt durch. Er erduldete die endlos langen Monate, anfangs bewegungsunfähig, im Gips gefesselt, später zusammengeschnürt vom Korsett. Das war schon eine ungeheure Herausforderung des Schicksals...

Seitdem konnte er seiner geliebten Tätigkeit nicht mehr nachgehen, der er sein ganzes bisheriges Leben gewidmet hatte. Er hätte noch arbeiten können. Und nicht nur die zehn Jahre bis zur Rente, sondern so lange, wie er es gewollt hätte.

Im Kampf ums Leben ging Karl Karlowitsch als Sieger hervor. Heute ist er fast siebzig Jahre alt, aber äußerlich sieht er wie ein echter Lebenskämpfer aus, frisch und reinlich, am Gespräch interessiert. Nach all diesen Erfahrungen ist das schon – ein großes Glück.

N. STEFANENKO
„Nachrichten“, 29.10.2005


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