Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Gedanken nach der Schlägerei

Sie haben nichts begriffen, nichts hinzugelernt, zeigen überhaupt keine Reue, - dachte ich bei mir, während ich auf unsere Opponenten blickte. Irgendwie war es früher niemals so weit gekommen, daß man mit den Kommunisten so unmittelbar und persönlich streiten mußte. Natürlich hatte ich sie mir als etwas Abstraktes vorgestellt, aber in Wirklichkeit vermitteln sie einen ganz besonderen Eindruck von sich.

Ihr erstes Charakteristikum – die von Natur aus bestehende Unfähigkeit, Verantwortung auf sich zu nehmen. Bei ihnen gibt es nur Siege und Verdienste. Na ja, wenn etwas schlecht gewesen war, dann war es auf jeden Fall nicht ihnen zuzuschreiben. Schuld sind die Intrigen der Feinde, die feindselige Umgebung, die komplizierte internationale Lage, die Jugend mit ihrer ganzen Unerfahrenheit, die historische Zeit und im äußersten Notfall sogar ungünstige Wetterbedingungen. «Das gegenwärtige Regime taugt nichts, es richtet sich gegen das Volk, die Menschen leiden, sterben ganz umsonst». Empfinden Ihr denn dafür überhaupt keine Schuld? Ist das denn nicht die Folge Eurer uneingeschränkten 70-jährigen Herrschaft? Jene Lumpen, die Ihr unermüdlich verflucht, - sind die Zöglinge der Pionier-Organisation des Kommunistischen Jugendverbandes und der Partei. Sie sind direkte Abkömmlinge der kommunistischen Epoche. Jelzin wuchs in den Korridoren Eures Politbüros auf. Und die Logik „Jelzin ist schlecht, demzufolge ist Stalin gut“ – funktioniert nicht. Wie es heißt, machen fremde Sünden uns auch nicht besser. Ich würde folgende Logik vorschlagen: die Menschen leiden, sterben ganz umsonst – das bedeutet also, daß das Regime gegen das Volk gerichtet ist. Und demzufolge war Stalin der Anführer eines gegen das Volk gerichteten Regimes. Die Kummer und Leiden, die wir unter Stalin durchgemacht haben, lassen sich sogar mit nichts anderem vergleichen.

„Fehler waren unvermeidbar, denn man hatte mit dem Aufbau des Sozialismus keinerlei Erfahrungen“. Und das kann man nicht durchgehen lassen. Nach 70 Jahren kommunistischer Diktatur hatte auch niemand Erfahrung im Aufbau der Demokratie, aber das entschuldigt die Reformatoren nicht. Oder vergebt Ihr vielleicht Fehler nur Euch selbst?

Das zweite, das einem ins Auge fällt – die totale Verachtung gegenüber dem Volk. Diese ihnen innewohnende Eigenschaft ist in gewisser Weise sogar vollkommen paradox, denn sie selbst sind doch ein Teil des Volkes. Als Menschen sind sie eigentlich ganz normal: sie lieben Kinder, haben Mitleid mit ihren Eltern, und sie leiden und weinen auch. Aber als Kommunisten stellen sie wahrlich Bewohner eines anderen Planeten dar. Das Volk ist etwas, das man verbraucht, der Preis spielt keine Rolle. Millionen Menschen wegen einer abstrakten Idee umzubringen – ohne nachdenklich zu werden, ohne in Entsetzen zu geraten, ohne Reue zu empfinden. Hier reicht es nicht aus, Eroberer eines Landes zu sein, man muß schon ein Zugewanderter, ein Fremder sein.

Außerdem sagen sie: „Es gab ja keine Alternative“. Doch – die gab es. Man hat immer die Möglichkeit der Wahl. Es gab auch unter den Kommunisten solche, die weniger blutrünstig waren. Aber alle gemäßigten Plattformen erlitten eine Niederlage, und die Partei wählte stets die grausamste und erbarmungsloseste Linie. Darin liegt der unzweifelhafte Verdienst Josef Wissarionowitschs.

„Unter Stalin haben wir so manches gebaut“. Ja, das haben sie. Sie haben Kanäle ausgehoben, Schinen verlegt, Wasserkraftwerke errichtet, Bäume gefällt, Kohlenschächte abgebaut, Erze gefördert ... Mit der Sklavenarbeit von Gefangenen. Ein äußerst unangenehmer Tatbestand, den man nicht gern zugeben möchte. Die Ausflüchte sind ganz verschiedener Art: es gab gar nicht so viele Häftlinge; die meisten von ihnen waren Straftäter; alle saßen zurecht; ja, man hat sie erschossen und eingesperrt, aber es waren nur wenige, es hätten mehr sein müssen! ...

Wie rief da ein Opponent von seinem Platz aus: „Die Zahl der Repressierten ist um das 125-fache zu hoch festgesetzt worden“! Bei ihm treten scharfe Unstimmigkeiten mit der Arithmetik zutage. Wenn heute im Lande nach offiziellen Angaben noch 770.000 Menschen leben, die Opfer von Repressionen waren und durch den Staat rehabilitiert worden sind, dann bestätigen die geheimnisvollen, unbekannten „Festsetzer“ offenbar, daß es derzeit 96 Millionen sind. Wenn nach den Angaben des regionalen Föderalen Sicherheitsdienstes in unserer Region 60.000 Personen rehabilitiert wurden, dann ist es nicht sonderlich schwierig, dies in eine einfache Proportion zur Bevölkerung der UdSSR zu setzen und ihre Gesamtzahl zu schätzen. Schließlich haben ja auch noch nicht alle, die unschuldig unter Repressionen leiden mußten, ihre Rehabilitation erhalten.

Man muß nicht denken, daß alle, die sie geschnappt haben, auch zu Volksfeinden erklärt wurden. Sie wurden vielmehr für Schwerstarbeit auserkoren. Alles war genau umgekehrt. Unserer Planwirtschaft waren Grenzen gesetzt. Man mußte aufpassen, wieviele man jeweils in die 1. Kategorie (Erschießung), die 2. Kategorie (Einsperren) und die 3. Kategorie (Verbannung) einstufte. Na, und dann konnte die NKWD-Maschinerie sich drehen! Mehr Menschen repressieren, als es der Plan bestimmt, darf man nicht – aber auch nicht weniger. Nun mußte man festlegen, wer zum Teufel gejagt werden und wem man eine polnisch-japanische Spionageaffäre anhängen sollte. Und schon kommen von den Aufbauten des Kommunismus neue Anforderungen: es heißt, daß es große Verluste gibt. Und irgendjemand summiert und definiert diese Anforderungen. Ein Märchen? Eine Erfindung? Nein, das ist die schreckliche Wahrheit.

Eine geniale Entscheidung des Führers: mit eiserner Hand jegliche Meinungsverschiedenheit im Keim zu ersticken, die Überlebenden einzuschüchtern und gleichzeitig Sklavenarbeiter für seine Projekte zu gewinnen. Einen Teil der Bevölkerung im Feuerraum der Lokomotive zu verbrennen und mit dieser Zugkraft in eine helle, klare Zukunft zu eilen.

Es herrschte auch Ordnung im Lande. Mit drakonischen Gesetzeserlassen, ähnlich dem Dekret vom 07.08.1932, wurde die strafrechtliche Verfolgung bei Mißachtung und Verletzung der Arbeitsdisziplin sowie kleineren Diebstählen eingeführt. Die Menschen wurden eingesperrt, wenn sie zu spät zur Arbeit kamen, aus dem Dorf in die Stadt fuhren, wenn sie

„3 Ähren“ vom Acker stahlen, damit sie nicht vor Hungers starben. Solchen Menschen stellten dann auch die Hauptmasse der „Verbrecher“ dar, kleine Bauern und Arbeiter, aber keineswegs Gewalttäter und Mörder. Und die Enteigneten – waren das etwa keine „Politischen“? Denn dafür verdammte die Parteipolitik sie zu Verbannung und Lager, aber keinesfalls wegen eines individuell begangenen Verbrechens. Unter einem anderen politischen System hätten sie Getreide angesät und ihr Land und die Welt damit ernährt. Und hier wurden sie bis zum erlaubten Limit enteignet.

Man hat nur wenige erschossen? Wollt Ihr nicht selbst einmal unter dem Gewicht einer Axt zum Bäumefällen gehen und Eure eigenen Kinder dorthin schicken? Stalin hat schließlich auch seine begeisterten Anhänger und Gefolgsleute schonungslos vernichtet. Und sie starben mit dem Ausruf „Es lebe der große Stalin! ...“

„50.000 saßen 1952 im Kraslag, worüber sollen wir da reden!“ – In Wirklichkeit gibt es hier nichts zu besprechen. 300.000 durchliefen das Norillag, und es gab auch noch den Jenisejstroj und andere Lager, die „Straße des Todes“ Salechard-Igarka ...

„Er hat Rußland mit dem Pflug übernommen und hinterließ es mit der Atombombe“. Na, so ein Lob! Er nahm Rußland mitsamt seinem ganzen Getreide entgegen und ließ es ohne Getreide zurück. Das ist ein schlimmerer Peitschenhieb, als „Kanonen statt Butter“. Das ist buchstäblich die „Bombe anstelle von Brot“. Um die Industrialisierung durchführen zu können, richteten sie die Bauernschaft zugrunde. Die ganzen fruchtbaren Gegenden mußten schreckliche Hunger zeiten durchmachen. In der Ukraine wurden nach niedrigsten Schätzungen 3 Millionen Menschen durch organisierten Hunger zu Tode gequält. Die Landwirtschaft sollte sich nie wieder richtig erholen. Dafür orientierte sich die Industrie ausschließlich am Krieg. Alles für Panzer und Kanonen, für Bomben und Flugzeuge, so gut wie nichts für das Volk und seine Bedürfnisse. Eine abstoßende, widersinnige, einseitig entwickelte Wirtschaft.

Und was ist dabei herausgekommen? Zehn Jahre, in denen die Menschen sich abschinden und in Blut baden mußten, bereitete sich das Land auf den Krieg vor. Und als der Krieg dann kam, zeigte es sich, daß wir überhaupt nicht darauf vorbereitet waren.. „Der Tapfere und Scharfsinnige“ hatte den Verrat seines Kampfgefährten im Ribbentrop-Molotow-Vertrag (Nichtangriffspakt; Anm. d. Übers.) nicht vorausgesehen, besaß keinen Verteidigungsplan, sprengte die Verteidigungsfestungen ohne neue zu bauen. Die Schmach und Schande der Niederlagen in den ersten Monaten und Jahren des Krieges, als fast sämtliche Angehörige n der Berufsarmee ums Leben kamen und der Feind bis nach Moskau und an die Wolga vordrang, Millionen von «Kesseln», Leiden und Nöten des Volkes in den besetzten Gebieten – wer trägt dafür die Verantwortung? Etwa die Generäle, die Stalin in großer Anzahl erschießen ließ? Oder die unglücklichen kleinen Soldaten, die Stalin in Gefangenschaft gehen ließ, zu Verrätern erklärte und dann nach dem Krieg aus den faschistischen Lagern geradewegs in die Lager der Sowjetunion sperrte?

Hat sie gut gekämpft - jene Armee, deren Verluste um das Fünffache höher lagen als die des Gegners? Die Menschen in seinem Lande bdeuteten Stalin nichts, die Soldaten zählten für ihn nicht. Ein Beispiel: die Einnahme Kiews am 7. November – auf Befehl Stalins, mit unermeßlichen, gänzlich unnötigen Verlusten. Aus purem Eigensinn und Despotismus. Ähnliche Beispiele könnte man in einer langen Reihe fortsetzen.

Aber ist es denn nun nach 60 Jahren nicht endlich an der Zeit, den Schuldigen zu benennen? Oder existieren und gelten für Euch in der russischen Sprache die Worte „Ich habe euch geführt, ich bin für alles verantwortlich“ nicht? Ein solcher Oberkommandierender verdient kein Berühmtsein und Gefeiertwerden, sondern ein Gerichtsverfahren und eine Verurteilung.

Welche Bilanz läßt sich aus Stalins Regierungszeit ziehen? Die Weltrevolution fand nicht statt, der Wettkampf mit dem Kapitalismus wurde schändlich verloren, das Imperium brach auseinander – es existierte noch nicht einmal 40 Jahre über seinen Tod hinaus. Das Volk wurde gedemütigt und von Stalin im Geiste der Sklaverei erzogen. Der Weg, auf dem er das Land geführt hat, erwies sich als Sackgasse. Die Werktätigen vieler anderer Länder erhielten sozialen Wohlstand und eine hohe Lebensqualität ohne jene unvorstellbaren Opfer und Leiden, durch die Stalin und seine Erben das Volk führten.

Stalin ist der Mit-Urheber eines grandiosen historischen Mißerfolgs. Ist er wirklich als historische Person so großartig? In gewissem Sinne – ja. Aber noch hat die Geschichte ihm ihr deutlich hörbares Urteil nicht verkündet. Noch ist seine Epoche nicht weit genug in die Ferne gerückt – im Rücken weht immer noch ein eisiger Wind.

Es fällt mir schwer, jene zu verstehen, die auf ihn bauen und ihr Vertrauen in ihn setzen. Was geht in ihren Köpfen vor? Die Weltrevolution? Breschnjews Paradies im Lande? Das große Imperium, auf Blut gebaut, und eine riesengroße Bombe? Der Traum von einem neuen Diktator, damit es niemandem so vorkommt, als ob es zu wenig davon gäbe? Was soll denn der junge Mensch ihrer Meinung und ihren Absichten nach erfahren, wenn er sich Stalins Denkmal ansieht? Den Drang zur Vergangenheit? Den Glauben an Stalins Rechtmäßigkeit und Unschuld?

Valerij Khvostenko, stellvertretender Vorsitzender der Krasnokarsker „Memorial“-Organisation, Teilnehmer an der TV-Diskussion „Ist es nötig , in Krasnojarsk ein Stalin-Denkmal zu errichten?“

Der Artikel war seinerzeit zur Veröffentlichung in der Presse gedacht, gelangte dann jedoch aufgrund bestimmter Erwägungen der Reaktion nicht in den Druck.


Zum Seitenanfang