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Der kalte Herbst des Jahres 2005

Ein bitteres Datum
500000 Repressierte durchliefen die Verwaltungsregion Krasnojarsk
30. Oktober – Der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgungen

Am Sonntag fand in Krasnojarsk eine Gedenk-Versammlung statt

An jenem Tag schmolz zum ersten Mal das Eis auf den Skiern nicht. Und die Dunkelheit setzte eine ganze Stunde früher ein als sonst. Als wenn das irgendwie eine gewisse Symbolik anläßlich des Gedenktages in sich barg ...

Die Dirigentin des Konzerts im Kleinen Saal versprach sich:

- Wir kommen noch einmal auf das Thema unseres FESTTAGES zurück! – Und sie bemerkte es überhaupt nicht.

Dies geschah unmittelbar vor dem Erklingen des Liedes „Schwarzer Rabe“.

Aber vielleicht ist es auch richtig, daß das Programm leicht und hell war, daß kurze russische Volkslieder ertönten und mit den Absätzen geklappert wurde. Als die Solisten des Volkslied-Ensembles die in der ersten Reihe sitzenden Frauen bei „Mamas Walzer“ in Drehungen versetzte, war das eine ungewöhnliche und sehr anrührende Szene. Und das Lied „Mein Sonnenschein – die Großmama“ von Sergej Trusow stellte einen großen Liebesbeweis an alle Großmütter im Saal dar ...

Nach dem Konzert bewegte sich die ganze „Etappe“ zum Gedenkstein beim Zentrum für Kultur und Geschichte. Irgendwann wird es in Krasnojarsk ein richtiges Denkmal geben. Bis dahin – und das ist noch viel wichtiger – werden die Bücher der Erinnerung herausgegeben.

Der erste Band existiert bereits, in Kürze wird die Präsentation des zweiten stattfinden, der dritte ist bereits in Vorbereitung. Eine tiefe Verneigung vor den selbstlosen Kämpfern der Gesellschaft „Memorial“ für ihre jahrelange Arbeit und Mühe. Und dafür, daß es in unserer Stadt kein anderes Denkmal gibt – ein Stalin-Denkmal.

Der Chef von „Memorial“, Aleksej Babij, der die Versammlung eröffnete, sagte mit Bitterkeit in der Stimme:

- Fünfzig Prozent der befragten Bevölkerung waren nicht dagegen. Na ja, bei den Kommunisten kann man das noch verstehen, aber die anderen ... Was denn? Will unser Volk

denn den gleichen Fehler noch einmal machen? ...

Die Zahl derer, die das Jahr 1935 und die anderen Jahre miterlebt haben, wird immer kleiner. Hier, am Gedenkstein, haben sich hauptsächlich die Kinder politisch Verfolgter eingefunden (übrigens, die meisten von ihnen besitzen rechtsgültige Bescheinigungen, denn damals mußten auch Säuglinge und Kleinkinder regelmäßig bei der Kommandantur registriert werden!). Jeder in dieser Menge hat sein Leben, seine Geschichte, die Körper und Seele zerbrochen hat ...

Nichts haben sie vergessen

- Papa war ein bekannter Dirigent, er leitete das Orchester für Volksinstrumente, - erzählt Marina Georgiewna Wolkowa, seit 1988 Mitglied der Gesellschaft „Memorial“, Autorin der Artikel „Der bescholtene Glaube“, „Requiem für den geistigen Genofond“ und „Das ungeschehene Attentat“ im Buch der Erinnerungen. – Der Onkel, Michail Lisowskij verwaltete den Klub der Binnenschiffer und stand an der Spitze des Kollektivs „Haus des Lehrers“. Sie wurden im Herbst 1937 erschossen. Die Tante sperrten sie ein, ihre Kinder kamen in ein Kinderhaus, und mit mir flüchtete die Mama vor der Verhaftung nach Rostow-am-Don. Ende des Krieges kehrten wir nach Krasnojarsk zurück. 1948 legte ich meine Examensprüfungen zum Studium am Pädagogischen Institut mit Auszeichnung ab, aber sie nahmen mich auf. Sie besannen sich auf meinen Vater – einen Volksfeind, das Leben während der Besatzung ... Damals erlitt ich meinen ersten Herzanfall und wäre beinahe gelähmt geblieben. Später trat ich ins Forsttechnische Institut ein (dort wühlte man nicht so akribisch in den Daten des persönlichen Fragebogens herum) und war die einzige Nicht-Komsomolzin. Keine einzige Repressionswelle zog spurlos an uns vorrüber. Mama, von Beruf Maschinistin, wurde jedesmal von ihrer Arbeitsstelle entlassen, aber irgendwie mußte man doch leben. Überleben ...

- Den Vater, er arbeitete bei der Eisenbahen, verhafteten sie am 6. Februar 1938 – erinnert sich Valentina Nikolaewna Kapatschinskaja, - damals war ich 8 Jahre alt und kann mich an alles gut erinnern. Am 26. Februar wurde er erschossen, aber das habe ich erst kürzlich erfahren. Und als man mit den ersten Rehabilitationen anfing, schickte ich mehrere Gesuche an Molotow und bekam folgende Antwort: Ihr Vater starb 1949 an Nierenkrebs“. Wir lebten in dem Dorf Nowonikolsk, Mansker Kreis; dort gab es auch noch ein paar Polen. Sie wurden alle gleichzeitig verhaftet. Alle, deren Familienname auf „-skij“ endete.

- Mein Vater war Este, - erzählt Boris Heinowitsch Leet. – Er war Offizier, kam vor dem Krieg aus Frankreich ins bürgerliche Estland. Er diente in der Roten Armee. 1944 wurde er an die Angara verbannt, nach Keschma, „wegen seiner nationalistischen Überzeugungen“. Die Familie folgte ihm nicht. In Sibirien heiratete er, und dort wurde ich auch geboren. Von Kemscha zogen wir nach Krasnojarsk um, der Vater wurde hier begraben – im Jahre 1973. Ich trage stets seine Fotos bei mir. Auf ihnen sieht man das wahre Leben wahrer Menschen.

Nach der Versammlung drängten sich alle am Geländer der Uferstraße zusammen. Um 18.20h wurden Kerzen auf den Jenisej hinabgelassen. Und ein Trauerkranz zum Gedenken, der leider in der Dunkelheit nicht zu sehen war, aber die kleinen Kerzenfeuer leuchteten weit in die Nacht hinein. Fünfhundert Kerzen, weil eine halbe Million politisch Verfolgter die Region Krasnojarsk durchlief. Jedes Flämmchen – ein Symbol für tausend Menschen ...

Sofia Grigorewa

Die Krasnojarsker erinnern sich an die „Politischen“ und die Sonderansiedler

Unter ihnen befanden sich:

 „Augenzeuge. Knäuel“, No. 43, 01.11.2005


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