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Frieda und andere

Wir setzen die Erzählungen über das Schicksal unsere Landsleute fort, die die schrecklichen Jahre der politischen Verfolgungen unter Stalin durchmachen mußten. Unlängst waren wir in der Kreishauptstadt Norilsk zu Besuch. An der Spitze der Delegation stand Swetlana Fedorowna WELIGUROWA. Sie stammt aus einer Familie, die zu unrecht ihrer Freiheit beraubt wurde. Heute bekleidet sie nicht nur das Amt der stellvertretenden Leiterin der Bezirksverwaltung für die sozialen Belange der Bevölkerung, sondern ist auch stellvertretende Vorsitzende der dudinsker „Gesellschaft zum Schutz der Opfer ungesetzlicher politischer Verfolgungen“.

Aus kleinsten Bruchstücken versucht Swetlana Fedorowna die Geschichte ihrer Familie wiederhezustellen. Ihre Mutter, Frieda Romanowna, schied im vergangenen Sommer aus dem Leben – sie war für immer auf der Halbinsel Tajmyr geblieben. Und so hatte sie auch niemals den Entschluß gefaßt, wieder in ihr Heimatdorf Blumenfeld zurückzukehren, von wo ihre Familie, ebenso wie zahlreiche andere wolgadeutsche Familien, in Gefangenentransporten verschleppt worden waren ... Im ersten Kriegsjahr hausten sie zwei Monate lang unter elendigen bedingungen am Ufer des Jenisej, bevor man damit begann, sie in kleinen Gruppen mit Lastkähnen weiter in den Norden hinauf zu bringen und sie an allen möglichen Orten verstreut anzusiedeln.

Swetlana Fedorownas Großmuter kam mit ihren sechs Kindern in die Siedlung Nikolskoje. 1943 erfuhren sie, dass ihr Familienoberhaupt in der Trudarmee umgekommen war. Sie mußten sich selbst am kahlen Flußufer eine Erdhütte bauen. Sogleich wurden sie auch zum Fisch- und Rebhuhnfangen losgeschickt – sie sollten die Norm erfüllen. Aber bis dahin hatten die Verbannten in er Steppe gewohnt, so dass es für sie nun äußerst schwierig war, unter den ungewohnten Bedingungen am Leben zu bleiben. Der einzige Bruder von Swetlanas Mutter wurde bald darauf bei der Holzbeschaffung schwer verletzt ...

1948 beschloß die blutjunge Frieda, die nun 24 Jahre alt war, zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher über das Eis des Jenisej nach Dudinka zu gehen und dort eine Arbeit zu suchen.

So arbeitete sie ihre Haftstrafe ab – drei Jahre in der Lagerabteilung für Frauen. Während dieser Zeit lernte Swetlanas Mutter ihren zukünftigen Vater kennen ... Über ihn weiß Swetlana Fedorowna nicht besonders viel: er wurde gemäß § 58 verurteilt, nachdem die Rokossowskij-Armee, in der er diente, in eine Umzingelung hineingeraten war. Und daraus wurden dann 10 Jahre Freiheitsentzug, die er in Dudinka, jenseits des Polarkreises, verbüßen mußte, das Fedor dann auch nie wieder verlassen hat. Er starb vor 20 Jahren, und bis heute weiß die Familie nicht, ob er rehabilitiert worden ist, denn bis 1985 sprach man nicht über Repressionen. Bis dahin hatte Sswetlana nicht einmal die geringste Ahnung, dass ihre Eltern so etwas durchgemacht hatten! ... Später wurde viel über den GULAG geschrieben, ständig tauchten zuhause Journalisten auf, und Frieda begann sich zu erinnern ... daran, wie sie 1950, vor der ersten Geburt, vorzeitig entlassen wurde. Und daran, wie sie darauf gewartet hatte, dass ihr Ehemann aus der Haft zurückkam, wie sie auf der Schweinefarm gearbeitet hatte, und wie sie dann zusammen anfingen, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Nirgends konnten sie hinfahren. Fedor hatte in jenen Jahren den Kontakt zu seinen Verwandten verloren, obwohl seine Eltern und fünf Brüder noch am Leben waren, doch er sollte erst im Jahre 1960 zum ersten Mal mit seiner Familie auf das Festland (das Gebiet, das sich nicht jenseits des Polarkreises befindet; Anm. d. Übers.) fahren.

Ich wollte von Swetlana Fedorowna wissen, ob sie in ihrer Kindheit beleidigt und beschimpft worden war, nachdem den Leuten bekannt war, dass sie aus einer Familie von „Volksfeinden“ stammte.

- Einige repressierte Deutsche erinnern sich daran, dass ma sie sehr gekränkt hat, aber ich selbst war davon nicht betroffen. In unserer Familie wurde kein Deutsch gesprochen; wenn Mama „auf ihre Weise“ reden wollte, ging sie zu den Verwandten. Aber meine Vettern – die wurden in der Schule als Faschisten beschimpft.

- Swetlana Fedorowna, ich habe schon längst gemerkt, dass Frauen, die Lagerhaft und Verbannung durchgemacht haben, viel kräftiger scheinen und länger leben als die Männer. Manchmal sind ihre Selbstbeherrschung, ihrer Ausdauer, die Fähigkeit durchzuhalten, ihr Streben Haltung zu bewahren einfach beneidenswert ...

-Wenn man einfach von der Anzahl ausgeht, so sind fast keine Männer aus dieser Altersgruppe übriggeblieben. Es sieht so aus, als ob die Frauen sich als seelisch stärker erwiesen haben. Und außerdem ... trinken die Frauen auch viel weniger. Denn viele Männer, die politische Verfolgung durchgemacht haben, sind an ihrer Alkoholsucht gestorben. Zahlreiche Kriegsteilnehmer sind auch viel zu früh von uns gegangen, weil sie Trinker waren. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, daß das, was sie durchgemacht haben, dem Körper eine derartige Abhärtung verschafft hat, dass viele von ihnen trotzdem sehr lange leben. Einer der Rehabilitierten hier ist Walter Jewgenewitsch SCHMIDT, geboren 1925. Er ist der einzige von denen geblieben, er als kleine Jungen in der Trudarmee waren. Insgesamt gibt es in Dudinka, Kinder mitgerechnet, 250 Personen, die Opfer politischer Verfolgungen waren, aber mit jedem Jahr wird ihre Zahl weniger ... Früher existierte ein deutscher Liederchor, meine Mutter hat dort begeistert mitgesungen. Diese Verbindung, dieser Umgang mit den anderen hat auch dazu beigetragen, das Leben zu verlängern. Menschen meines Alters kennen die Sprache schon so gut wie gar nicht mehr, und es besteht auch nicht der Wunsch dazu: wir sind russifiziert. Wahrscheinlich ist das nicht richtig. Ich war nie in Deutschland, fühle mich nicht einmal zur Hälfte als Deutsche, und ich fühle mich hundert Prozent als Russin ...

- Und wie halten Sie es in Dudinka mit dem Gedenken an die Verstorbenen?

- Es gibt eine besondere Stelle auf dem alten Friedhof. Dort stehen zwei Kreuze – ein deutsches und ein finnisches. Gewöhnlich waren wir am Tag der Erinnerung mit einer kleinen Delegation betagter Menschen dorthin, legen Kränze nieder, zünden Kerzen an und die Frauen lesen Gebete in deutscher Sprache zun Gedenken an die Toten. Wir bestellen auch extra einen Gottesdienst in der orthodoxen Kirche. Leider haben wir kein Denkmal, obwohl darüber bereits gesprochen wird. Wir legen Blumen an einem Steinnieder, der bereits 1992 aufgestellt wurde – zum Zeichen dafür, dass hier ein Denkmal zu Ehren der Opfer politischer Repressionen aufgestellt werden soll; die Stelle befindet sich im Zentrum, gegenüber vom Museumsbau. Irgndwann einmal hat Chloponin 100.000 Rubel für das Denkmal zugeteilt, die Menschen haben zusätzlich 25.000 gesammelt, aber ein Entwurf läßt sich bislang nirgends finden – es ist wohl zu teuer. Vor drei Jahren war diese Frage recht aktuell, aber niemand hat an der Ausschreibung für dieses Projekt teilgenommen, und so ist das Ganze im Sande verlaufen. Vielleicht ist auch unser gesellschaftlicher Zusammenhalt daran schuld, dass man nicht genügend Initiative ergriffen hat.

- Arbeiten Sie auch mit Kindern und Jugendlichen?

- Praktisch tun wir das nicht, und ich weiß auch nicht, ob sie so etwas in der Schule anbieten –

denn .... die Kriegsteilnehmer ... Wir haben hauptsächlich Kurse für die sozialer Unterstützung alter Menschen belegt. Die älteste Frau unter den hiesigen Repressionsopfern ist 1916 geboren. Sie hat ihre Haftstrafe in einem der Lager auf dem „Festland“ verbüßt – aria Pawlowna Miroschnitschenko. Sie hat erst vor einem Jahr Lesen gelernt. Sie war Analphabetin, gebürtig aus der Ukraine. Vor zehn Jahren kam sie zu den Kindern auf die Tajmyrhalbinsel. In unserer Gesellschaft befinden sich beinahe 90 Prozent Umsiedler, Menschen deutscher Nationalität.

- Und was findet man an eurer dudinsker Gesellschaft in Norilsk so anziehend?

- Die Erfahrung in der Arbeit eurer gesellschaftlichen Organisation mit Elisabeta Josifowna OBST an der Spitze. Wir besitzen nicht solche kraftvollen Initiativen. Es ist gut, dass ihr ständig gemeinsam mit der Verwaltung und dem Kombinat zusammenarbeitet. Die geplante Schaffung eines Denkmals, einer Gedenkstätte spricht doch schon für sich. Bei ihrer Ankunft waren unsere „jungen“ Repressionsopfer, insgesamt 20 an der Zahl, zum ersten Mal an der Gedenkstätte „Norilsker Golgatha“, im Museum und in der Künstlergalerie. Ich glaube, dass dass dank der Unterstützung unseres Gouverneurs Oleg Budargin, der Organisationen „Frauen-Initiative“, und„Vereintes Rußland“, eures Museums und allen, die uns verstehen, diese Freundschaft erhalten bleiben wird. Wissen Sie, wir sind alle in der Sowjetzeit groß geworden, und ich denke mit Dankbarkeit an sie zurück. Ich persönlich will keinen Nutzen aus der Tatsache ziehen, dass ich aus einer Familie von Repressierten stamme. Aber meinen Eltern steht das zu – darüber gibt es keine Zweifel. Deswegen möchte ich den Alten, die noch unter uns weilen, so gerne helfen. Ich meine, dass mein Schicksal in Dudinka sich ganz normal gestaltet hat. Meine Eltern konnten mir eine höhere Schulbildung ermöglichen, die damals noch kein Geld kostete; der Wunsch zu einer solchen Ausbildung genügte. Auch mit der Arbeit läuft alles normal. Ich halte mich für einen glücklichen Menschen. Meine Tochter hat kürzlich ihr Studium an der Nord-West Akademie in Sankt Petersburg begonnen. Sie weiß alles über die Vergangenheit unserer Familie. Als kleines Mädchen ging sie mit der Oma zum Chor und las deutsche Gebete. Die Oma brachte ihr stricken und zeichnen bei. Wenngleich sie nur vier Klassen der deutschen Schule besuchte, war sie doch reich an Lebenserfahrung und ein verantwortungsvoller Mensch. Wir können noch sehr viel von den Menschen dieser Generation lernen. Der Stadt hat sich zweifellos bemüht, für sie etwas zu tun, irgendwelche Schulden wiedergutzumachen. Aber in letzter Zeit haben sie durch die Monetisierung und die Abschaffung von Vergünstigungen auch viele reale Zuschüsse wieder verloren. Wir haben nicht nur einmal einen Antrag auf Unterstützung bei den örtlichen Behörden gestellt, und so lange sie noch darüber nachdenken, wie die Entscheidung ausfallen soll, bemühen wir uns, so gut es geht, sie zu trösten und aufzumuntern. Wie die leiblichen Eltern weilen viele von ihnen schon nicht mehr unter uns.

Gespräch: Irina DANILENKO
Foto: Sergej MANGALOW
„Zapolnjarnaja Prawda“, 03.11.2005


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