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GULAG: Tränen der Begeisterung

In den stalinistischen Lagern galt die Zwangsarbeit zusammen mit der Propaganda über „alle Vorzüge des sowjetischen Aufbaus“ als Grundlage für die „Umerziehung“ von Menschen. Gerade das war das Wichtigste innerhalb der Tätigkeit der Kultur- und Erziehungsabteilungen (KWOs) und –Einheiten (KWTsch), die dazu angehalten waren, massenpolitische, massenbetriebliche, Bibliotheks- und Sportpropaganda-Arbeit zu leisten, sich aber auch mit Kino- und Rundfunkbetreuung zu befasssen sowie das Theater- und Konzertschaffen der Häftlinge anzuregen und zu unterstützen.

Während der gesamten Existenzzeit des GULAG arbeiteten in den Lagern zwei Arten künstlerischer Kollektive. Erstens – die Kulturbrigaden der KWOs, in deren Orchestern und Theatern Gefangene spielten, die von allgemeinen körperlichen Arbeiten freigestellt waren. Zweitens – Laienspiel-Kollektive der KWTsch, in denen die Häftlinge nach der Tagesarbeit mitwirkten.

In verschiedenen Jahren traten in den Kulturbrigaden der KWO so bekannte Meister ihrer Kunst wie Wazlaw Dworschezkij, Boris Mordwinow, Walentina Tokarskaja, Tatjana Okunewskaja, Georgik Schschjonow, Aleksej Kapler, Valerij Frid, Kamil Ikramow, Eddi Rosner, Wadim Kosin, Lidia Ruslanowa ..... auf. Die Schauspieler hier besaßen keinerlei Rechte, und wenn irgendeinem etwas an ihnen nicht paßte, konnten sie jederzeit wieder zu schwerer körperlicher Arbeit herangezogen werden. Physische Arbeit im GULAG war schrecklich, und die Aufnahme in die Lagertruppe gab einem die Möglichkeit, sich davor zu bewahren, die Möglichkeit, sich mit „einer geliebten Sache zu beschäftigen und dabei tausenden Häftlingen zu helfen, die Stumpfsinnigkeit des Lagerlebens zu überwinden, ihre menschliche Würde zu wahren oder wiederzufinden und sich nicht eines Tages in wilde Tiere zu verwandeln“.

Die Laienspielkreise, welche die Inhaftierten nach getaner Arbeit in ihrer Freizeit besuchen durften, mußten von der KWTsch eines jeden Lagers organisiert werden. Entsprechend den Leitsätzen über die Kultur- und Erziehungsarbeit in den Arbeits- und Umerziehungslagern und –kolonien des NKWD, sollten die Gefangenen, die „sich bei der Arbeit und im Alltag mustergültig gezeigt“ hatten, in erster Linie durch Anspornen zum Mitmachen in diesen Kollektiven herangezogen werden.

In der Praxis gab es solche künstlerischen Laiengruppen bei weitem nicht in allen Lagern. Wenn wir beispielsweise über die Haftverbüßungsorte sprechen, die sich in der Angara-Gegend befanden, so werden in den Archivbeständen der politischen Lagerabteilungen der 1930er bis zum Beginn der 1950er Jahre lediglich vereinzelt Laien-Kollektive erwähnt. Wenn überhaupt von der Organisation theatralischen Schaffens gesprochen wird, so geschieht dies überwiegend in einem negativen Zusammenhang – es wird unterstrichen, dass diese Arbeit nur ganz zufällig und ohne vernünftiges System durchgeführt wird.

Charakteristisch ist ein Beispiel, das in einer der Direktiven für das Jahr 1947 vom Leiter der politischen Abteilung der Westlichen  Verwaltung des BAM-Baus beim NKWD, Major Tarasow, angeführt wird: „Die Laienspielkreise des Klubs von Tajschet, der 2. und 3. Lagerabteilung, des Holzkombinats u.a. wurden mehrmals geschaffen und sind jedesmal wieder auseinandergefallen, und in der ersten Bauabteilung wurde, trotz der dort vorhandenen Möglichkeiten, gar nicht erst der Versuch unternommen so einen Kreis zu schaffen“. Major Tarasow war, ebenso wie einige seiner Kollegen, der Meinung, dass wohl der Hauptanreiz für die Entwicklung der Lagerkunst Leistungsschauen und Wettbewerbe sein könnten – wenn es sie gäbe, dann würden auch die Amateurgruppen sich formieren und anlaufen. Aber die Gefangenen des GULAG sahen das Problem von einer ganz anderen Seite.

Für einige Häftlinge war die Wahl, ob sie einem Lagerkollektiv (entweder als Professionelle oder als Laien) beitreten sollten, aus seelisch-moralischen Beweggründen nicht einfach. So erinnerte sich Emmanuel Kotljar daran, dass es Leute gab, die aufrichtig der Ansicht waren: „Ein unschuldig Verurteilter, der seine Lagerhaft abgesessen hat, soll nichts dazu tun, keinerlei Maßnahmen dafür ergreifen, die bestehende Macht auch noch zu fördern. Und Menschen, die im Bereich der Kunst tätig sind, betrifft dies in zweifacher Weise. Es ist interessant, dass ganz unterschiedliche, gegensätzliche Häftlingskategorien einen solchen Standpunkt vertraten. Ein paar waren bis zum Schluß Monarchisten, streng Orthodoxe gewesen, andere - intolerante Mitglieder von Parteiorganisationen, und auch davon gab es nicht viele“. Manch einer wollte aus Prinzip nicht „in Laiengruppen singen und tanzen“ oder „von der Bühne agitatorische Verse verlesen“, andere, die zwar bei der Arbeit in der KWTsch mitwirkten, verbargen dennoch ihre feindselige Einstellung ihr gegenüber nicht.

Nicht selten wirkten nach einer Definition von Jacques Rossi auch „Privilegierte Lagerinsassen mit leichten Jobs oder Arbeiter, die sich dadurch eine Freistellung von der ungelernten, körperlichen Arbeit erhofften, zu Mitwirkenden in solchen Kreisen“. Im Unterschied zu den Schauspielern der zentralen Kulturbrigaden, wurden die Laienspieler von ihrer täglichen Hauptarbeit nicht befreit, aber in der Regel besaßen sie alle die Möglichkeit, ihr künstlerisches Schaffen mit einer leichteren Arbeit innerhalb des Lagers zu kombinieren. So erzählte beispielsweise der Gefangene des OserLag, Leonid Juchin, dass er während seines gesamten Lageraufenthalts nicht ein einziges Mal zu schweren Arbeiten herangezogen wurde, weil er stets an Laienspielkreisen beteiligt war: „Ich gehörte zur Feuerwehr, stand aber die meiste Zeit auf der Bühne“.

Viktoria Mironowa, Doktorin der Geschichtswissenschaften

„Heimat“, N° 1 - 2006 


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