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Eine geeignete Kartoffel

„Womit bringst du das Jahr 1936 in Verbindung?“ – fragte ich meinen Bekannten. Er dachte nach, obwohl man eigentlich von einem Menschen, dessen Generation mit Geschichten über den GULAG aufgewachsen ist, vermuten kann, dass er darauf eine schnelle und eindeutige Antwort geben wird. Na ja, der Bekannte überlegte also und meinte dann: „1936 – da lief der erste „Volkswagen“ vom Band!“ Ehrlich gesagt – er erfreute mich damit. Wie ein Kind, dass in dritter Generation eine glückliche Kindheit verlebt hat. Mit kleinen Kuchen, Fausthandschuhen, gestrickt von einer fürsorglichen Großmama, und Reisen ans Schwarze Meer. Ohne die genetische Last der schweren historischen Vergangenheit.

Dem Einen – seine Suppe, dem Anderen – sein „Volkswagen“

Es ist nicht so, dass man die Geschichte vollkommen vergißt, aber das Maß an Pathetik sinkt. Die Akzente werden anders gesetzt. Ursprüngliche historische Assoziationen werden durch andere ersetzt. Ereignisse, die in die Vergangenheit gerückt sind, werden in einem größeren Maßstab gesehen. Das ist normal. Wenngleich sich Pseudomoralisten und Lügenpatrioten immer darüber aufregen. Das Jahr 1936 ist nicht mehr nur das Symbol für den Höhepunkt der stalinistischen Repressionen, sondern auch das Jahr, in dem Amerika es aus der Großen Depression herausschaffte und man in San Francisco den Bau der legendären „Golden Gate“-Brücke beendete.Und auch der „Volkswagen“ tauchte wieder auf. Weltweit wurden die ersten Fernsehgeräte verkauft. Wissenschaftler experimentieren mit dem unlängst entdeckten Penizillin – die Ära der Antibiotika ist im Vormarsch...

Übrigens, damals, hinter dem „Eisernen Vorhang“, hatten die sowjetischen Staatsbürger damit überhaupt nichts zu tun. Sie erinnerten sich an das Jahr 1936 als das sogenannte Jahr der Stalinschen Verfassung. „Der Vorhang liberaler Phrasen, welche die Guillotine verhüllten“, sagte darüber einer aus der oppositionellen Untergrund-Intelligenz. (Diese Konstitution war übrigens die dauerhafteste aller Verfassungen unseres Landes: sie existierte über einen Zeitraum von 40 Jahren). „Eine Freiheitscharta, die keine Menschlichkeit kannte“ (wie Aleksej Tolstoj es formulierte), hinderte niemanden daran, unschuldig Verurteilte zu den zahlreichen sozialistischen Bauprojekten zu verschleppen.

1936 war auch Norilsk ein solches sozialistisches Bauprojekt, ein Konzentrationslager. Es gab die Stadt noch nicht – lediglich eine Lagersiedlung. Auch Fabriken waren nicht vorhanden: die Hauptverwaltung für Buntmetalle und Gold hatte gerade erst beschlossen, hier ein Kombinat zu errichten.

Geheimhaltung aufgehoben!

Die Archivdokumente jener Zeit befanden sich lange Zeit unter strikter Geheimhaltung. Gedruckt sind sie auf billigem Papirossi-Papier: in puncto Papier, wie es auch mit vielen anderen Dingen der Fall war, herrschte im Lande eine Mangelsituation. Das spiegelt sich übrigens in einem der damaligen Befehle im Norillag wider:

Die Anordnungen des Leiters des Norillag erzählen einem viel mehr, als irgendein Lehrbuch der Geschichte. Es ist nicht verwunderlich, dass man aus ihnen das wahre Leben ersehen kann. Und sogar den lebhaften Sprachstil (die Grammatik haben wir traditionsgemäß bewahrt).

„... Angeführte Fakten beispielloser Verwendung von Papier, welches zum Schreiben oder für technische Zwecke geeignet ist. So hat beispielsweise der Genosse Scharkowskij, als er technische Skizzen und Zeichnungen aus dem Norillag nach Dudinka schickte, diese in Millimeter-Papier eingewickelt und dann ein zweites Mal mit Schreibpapier umhüllt. In beiden Fällen handelte es sich um sauberes, einwandfreies Papier... Wir könen am Ende vor dem Problem stehen, dass wir kein Papier mehr zur Verfügung haben. Leiter des norilsker Arbeits- und Erziehungslagers beim NKWD – Matwejew“.

Der Eine ist ein Einheimischer, der Andere ein Lagerinsasse

In jenen Jahren erfroren viele in der Tundra. In einem der Befehle wird ein Fall beschrieben, wie zwei Menschen in der Tundra in einen Schneesturm gerieten. Einer von ihnen erfror, den anderen lasen Einheimische eine Woche später, als er kaum noch am Leben war, auf und brachten ihn in die Siedlung. Der Leiter des Arbeits- und Erziehungslagers Norilsk beim NKWD, Matwejew, ordnete an: „Einzelpersonen sind nicht in die Tundra zu entsenden. Die Leute sollen ausschließlich in Gruppen gehen, und zwar selbstverständlich in warmer Kleidung, und im Troß sollen Lebensmittelvorräte in ausreichender Menge vorhanden sein“. Aber keine Sonderbefehle halfen: es fehlte sowohl an warmer Kleidung als auch an Verpflegung.

... Und der Hund – ist ein Feind

Aus einem Befehl des Leiters des norilsker Arbeits- und Erziehungslagers beim NKWD:

Es wurden bei den Leuten Bisse von tollwütigen Hunden registriert. Um künftig solche Gefahrensituationen für Menschenleben zu vermeiden, ordne ich an: 1. die Kadaver von getöteten Hunden, die auf dem Territorium der Siedlung Norilsk-1 herumgestreunt sind, einzusammeln und innerhalb von 24 Stunden zu verbrennen: 2. neu auftauchende herrenlose Hunde – unverzüglich zu vernichten; 3. Pferdeführern der Wagenzüge kategorisch zu verbieten, fremde Hunde aufzunehmen und von einer Siedlung in die andere zu locken“.

Gute Beziehungen zu Menschen und Gemüse

In Kenntnis der NKWD-Methoden und unter Berücksichtigung der Umstände, mutet einem der Befehl „Über hartherziges Verhalten gegenüber Lagerinsassen“ merkwürdig an. Er schien wie ein Vorzeige-Auftritt zu sein, denn Strohmatratzen und Bettwäsche reichten nicht für alle – in den Baracken schliefen sie auf schmutziger und zerrissener Wäsche, die sie auf den nackten Brettern ausgelegt hatten: „In der stationären Krankenabteilung wurde ein hartherziges Verhalten des Stationsleiters gegenüber einem kranken Lagerinsassen aufgedeckt, als es darum ging, diesen Erkrankten mit einer heubefüllten Matratze zu versorgen. Dies geschah nicht, so dass der an Ruhr erkrankte Mann 10 Tage und Nächte, praktisch ohne Unterlage, auf einer Pritsche liegen mußte, auf der lediglich zerfetzte und verschmutzte Wäsche lag“.

Oder hier: „Es hat sich ein empörender, beispielloser Fall ereignet, bei dem ein Muselmann Schweinefleisch zu essen bekam“. Was für eine Schmeichelei! – Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass etwa Spezialkleidung (Regenmäntel aus Zeltstoff und sumpfgeeignete Stiefel) nur mit Sondergenehmigung und auch nur an diejenigen ausgegeben wurde, die „im Industriebereich beschäftigt „waren – auf dem Bau, bei Bohrarbeiten und als Ladearbeiter.

Und das hier – das ist beinahe Majakowskij. Das ist fast schon Poesie. Der Befehl „Über kriminell-nachlässiges Verhalten gegenüber Gemüse“:

Auf der Pferdestation neben dem Schweinestall, in der Kiste für Küchenabfälle, die zur Weiterverarbeitung als Schweinefutter bestimmt sind, lagern vollkommen eßgeeignete Kartoffeln in gefrorener Form. Die Menge dieser Kartoffeln betrug 30 kg. Ein derart sorgloser Umgang, eine derartige Verwendung von frischem Gemüse kann man nur als böswillige Fahrlässigkeit seitens des Lager-Wirtschaftsleiters bewerten“.

Für sein „sorgloses Verhalten gegenüber den Kartoffeln“ kam der Wirtschaftsleiter übrigens für vier Monate ins zentrale Isoliergefängnis.

In der Tat wurde sehr streng verurteilt. So erhielt zum Beispiel ein gewisser Traktorist Kopylow wegen Benzin, das er aus dem Tank vergossen hatte, 15 Tage Haft; außerdem wurde ihm sein Lohn für das gesamte Quartal entzogen.

Es gab aber auch großzügige Belohnungen: „Über einen Zeitraum von mehreren Monaten hat der Veterinär, Genosse Schtscherbakow, aktiv an der Liquidierung der unter den Schweinen ausgebrochenen epidemischen Maul- und Klauen-Seuche mitgewirkt. In Anerkennung seiner gewissenhaften Arbeit als Tiermediziner überreiche ich dem Genossen Schtscherbakow eine Ürämie in Höhe von 300 Rubel und spreche ihm meinen Dank aus“. 300 Rubel waren indessen eine Menge Geld. Das war soviel wert, wie ein zweites Gehalt.

Oder hier noch ein anderer Befehl – über Prämienverleihungen zum 1. Mai:

Aufgrund der hohen Produktionskennziffern und ihrer aktiven Gemeinschaftsarbeit“ erhielten 16 Häftlinge des Norillag Uhren, 7 - Kleinkalibergewehre, 6 – Jagdflinten, 5 – Fotoapparate, 2 – Rundfunkempfänger. Ein nie dagewesener Luxus, selbst für freie Bürger. Ein Mann wurde mit einem Grammophon ausgezeichnet, einer mit einem Stück Stoff für einen Anzug, ein dritter erhielt ein Zigarettenetui.

Prämienverpflegung und Gemeinschaftskessel

Die Häftlinge des Norillag wurden aus einem sogenannten Gemeinschaftskessel verpflegt. Gemeinschaftsverpflegung – das bedeutete (pro Tag und Person): 100 gr Graupen, 160 gr gesalzenes Fleisch (an 10 Tagen im Monat) und 200 gr gesalzener Fisch (an 20 Tagen im Monat), 7 gr Pflanzenfett, 5 gr Tomatenpaste, 700 gr Gemüse (hauptsächlich waren das billige Kartoffeln), 5 gr Mossbeeren-Extrakt, Zucker und Brot. Alles in allem Essen für 2 Rubel und 86 Kopeken den Tag. Für Angehörige der militarisierten Wache lag die Norm ein wenig höher, für Straftäter und stationär behandelte Kranke – niedriger.

Diejenigen, die das Plansoll übererfüllten, besaßen das Recht auf ein Prämienverpflegung – etwas mehr als die Norm an Fleisch und Brot, plus – Nudelprodukte, die einst als Delikatessen galten. Bestarbeiter konnten zudem auf Sondermarken folgendes am Kiosk bekommen: je eine Dose Konserven und Büchsenmilch pro Monat sowie ein halbes Kilo Konfekt und 300 gr Machorka.

Pferdenamen

Automobile waren, ebenso wie Grammophone und Konserven – Luxus. Das Haupttransportmittel im Norillag waren Pferde. Sie waren in speziellen Listen eingetragen: „Pferd rotbrauner Wirbelwind, Stute graue Maschka, Stute rote Mucha, Pferd roter Bestarbeiter, Stute rote Komsomolzin ...“. Insgesamt standen etwa 100 Pferde auf der Liste. Gegenüber des jeweiligen Namens waren Gewicht, Gesundheitszustand und empfohlene Traglast vermerkt. Man muß dazu sagen, dass es nur wenige gesunde Tiere gab – genau wie bei den Menschen. Pferde und Menschen starben für die leuchtende kommunistische Zukunft.

Ich rühme mein Vaterland, so wie es ist

Seinerzeit empörte sich Michael Weller über Gajdars Erzählung „Die blaue Tasse“. Sie endete mit den Worten: „Aber das Leben, Genossen, war ganz in Ordnung“. – „Das Jahr 1936 steht vor der Tür, schöne Grüße an alle“, - entrüstete sich Weller.

Den Jahrestag für die Feierlichkeiten zum internationalen Tag der proletarischen Solidarität und der Parade der militärischen Streitkräfte des Proletariats werden wir, Genossen, angesichts des großartigen Sieges des Sozialismus in einem Sechstel der Welt begehen, wo sich im Verlauf von 18 Jahren nach dem Ergreifen der Staatsmacht durch das Proletariat dessen Hegemonie gefestigt und und uns an die Schwelle der klassenlosen Gesellschaft geführt hat! Es lebe der Erste Mai! Es lebe unser geliebter Volkskommissar, der Genosse Jagoda, und sein Mitstreiter – der Leiter des GULAG, Genosse Berman!“

Aber das Leben, Genossen, war ein Lagerleben - wie es im Buche steht.

Olga Litwinenko

„Polar-Wahrheit“, 19.01.2006


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