Wir leben in einer interessanten Zeit. Es kommt der nächste Wendepunkt der Epochen und die Vermischung von Begriffen. Der eine oder andere Fernsehkanal zeigt beinahe tagtäglich das Meisterwerk „Im ersten Kreis der Hölle “ sowie „das Meisterwerk“ über Spionage mit Pflastersteinen. Und das ist kein Pluralismus, ja nicht einmal Eklektik, die nur von den Philosophen als Eklektik bezeichnet und von Psychiatern ausschließlich Schizophrenie genannt wird. Die Kreise der stalinschen, jelzinschen, breschnjewschen, chruschtschowschen und putinschen Zeiten holen sich gegenseitig ein, und vor lauter Interferenzen flimmert es einem vor den Augen. Hier habe ich übrigens „putinschen“ in kleinen Buchstaben geschrieben, und in Nischniy Nowgorod haben sie deswegen vor einer Woche beinahe einen Mann ins Gefängnis gesteckt – er kam mit vier Jahren auf Bewährung davon. Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend.
Der Roman wurde zur Zeit der ersten Tauwetter-Periode verfaßt, der Film kam gegen Ende der zweiten heraus; gedreht wurde er über die Vergangenheit, mit einem auf die Gegenwart gerichteten Ziel, und gelangte geradewegs in die Zukunft. Aber in Wirklichkeit sind sowohl das Buch als auch der Film für die Ewigkeit gemacht. Das Lager, die „Scharaschka“, bildet nur den Hintergrund, aus der Kenntnis der Dinge heraus geschildert, basierend auf überlieferten Handlungsabläufen usw. Und die Rede ist von der sittlich-moralischen Wahl, was eigentlich auch die wahre Kunst nicht nur von billigen Fälschungen unterscheidet, sondern auch von qualitativer Belletristik.
Jeder Mensch ist in dem Maße frei, das er verdient und dessen er würdig ist. Jeder findet für sich einen Halt, eine Stütze – oder er findet sie nicht. Der Gefangene Nerschin ist frei, der Minister für Staatssicherheit Abakumow ist es nicht, und im Film wird das ganz hervorragend deutlich. Ich denke, daß auch Danilow in seiner Lagerzone in Gromadsk freier ist, als jene, die dafür gesorgt haben, daß er dort hinkommt. Die Freiheit liegt schließlich nicht darin, daß man tun und lassen kann, was man will, sondern vielmehr darin, daß niemand einen zwingen kann, das zu tun, was deiner innersten Überzeugung widerspricht. Etwas NICHT zu tun – das ist häufig eine TAT. Das Leben eines Menschen ist voller Situationen, in denen er in die Versuchung gebracht oder sogar gezwungen wird etwas zu tun. Oft stellt sich gegen Ende des Lebens heraus, daß das Wichtigste darin nicht das war, was der Mensch getan hat, sondern eben gerade das, was er nicht getan hat. Daß er beispielsweise nicht gestohlen, nicht getötet, nicht gelogen hat, usw.
Im GULAG waren das größte Problem für den Verwaltungsapparat die Bauern, unter ihnen vor allem die Altgläubigen. Keine Schläge, keine Prügel konnten sie dazu zwingen, an kirchlichen Feiertagen zu arbeiten, mit keinerlei Versprechungen waren sie dazu zu überreden, andere Menschen zu denunzieren. Sie sagten einfach „das darf, das kann ich nicht“. Und wenn man ihnen auch ein Brett vor den Kopf gehauen hätte - es half bei ihnen alles nichts, sie hätten sich nicht einmal dadurch von ihrer Ansicht abbringen lassen.
Die Gläubigen hatten es etwas leichter – Gott war mit ihnen. Bei den Atheisten verhielt es sich da bei weitem komplizierter, aber auch sie fanden einen Halt in sich selbst. Das gelingt nicht jedem – nicht umsonst spricht Solschenitzyn davon, daß man in sich selbst eine Seele heranerziehen muß. Wenn es eine Seele gibt – dann gibt es auch etwas, auf das man sich stützen kann, das einem Halt gibt. Wenn nicht, dann versinkt der Mensch im Schmutz seiner eigenen Kleinherzigkeit, egal auf welche Stufe der Vertikalen ihn die Mächte auch verschlagen haben mögen.
Aber kommen wir auf das Thema „Scharaschka“ zurück. Vielleicht wissen nicht alle, daß es eine solche „Scharaschka“ auch in Krasnojarsk gegeben hat – und zwar genau an der Stelle, wo (ob das nicht symbolisch zu verstehen ist?) heutzutage Juristen und Journalisten herangezüchtet werden – in der Majertschak-Straße 6; und früher hieß es das OTB-1 (technisches Sonderbüro Nr. 1; Anm. d. Übers.). Dort schlürften die hervorragendsten Kapazitäten der vaterländischen Geologie ihre Wassersuppe, und irgendwann entstand aus jener „Scharaschka“ das „Sibirsche Buntmetall-Forschungsinstitut“, das es mit dieser Seite seiner Biographie sehr schwer hatte. Seit vielen Jahren bemüht sich das krasnojarsker „Memorial“ an dem Gebäude eine Gedenktafel anzubringen – es ist zwecklos. Die Leute wollen sich an Siege erinnern, aber nicht an den Preis, den man für sie zahlen mußte. Und schon gar nicht wollen sie irgendwelcher Verbrechen gedenken. Im dritten Band der regionalen Ausgabe des Buches der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen werden sie, im Unterschied zu den ersten beiden Bänden, keinen einzigen Namen von NKWD-Ermittlungsrichtern finden. Die heutigen Tschekisten, auf deren Drängen diese Angaben aus dem Buch herausgestrichen wurden, sagen: „Nun, Sie verstehen, so war die Zeit damals eben: wenn sie nicht dafür gesorgt hätten, daß die Leute eingesperrt, daß sie erschossen wurden – dann wären sie selbst erschossen worden. Es gab einen Plan, und der mußte erfüllt werden“.
Übrigens befinden wir uns momentan auch nicht gerade in einer rosigen Zeit. Aber der Mensch hat immer die Wahl und die Möglichkeit etwas NICHT ZU TUN. So machte es Nerschin, so machte es Gerasimowitsch. Und so machten es auch einige Tschekisten der 1930er Jahre, indem sie sich einfach selbst eine Kugel in den Kopf schossen. Und es gab andere, die es nicht so machten. Insbesondere war da Arkadij Mamontow. Auch jetzt steht vor jedem die Frage im Raum – ob er das tun soll, was ihm die Zeit gebietet (und wir leben in einer größtenteils sehr niederträchtigen Zeit), oder ob er lieber das tun soll, was das Gewissen ihm befiehlt. Der Film hat diese Fragen aufgeworfen – gebe Gott, daß die Menschen nachdenklich gestimmt wurden – da kann man mal sehen, dass vielleicht einige standhaft bleiben und sich nicht zum Negativen hin entwickeln.
Und zum Schluß das, was einen am meisten betrübt. Wir arbeiteten mit einer Schülerin zusammen, schrieben ein Forschungsreferat über eben dieses OTB-1. Viel Material sammelten wir darüber, versuchten Einzelheiten zu ergründen und zu begreifen und die Atmosphäre nachzuempfinden. Wir machten die interessante Feststellung (die übrigens auch im Film widergespiegelt wurde), daß die Häftlinge in der „Scharaschka“ einigermaßen gut verpflegt wurden – es kam häufig vor, daß die Gefangenen ihr Kotelett, das sie zum Mittagessen bekommen hatten, nicht schafften. Zu dieser Zeit herrschte „an Bord“ echter Hunger, vor allem auf dem Lande (ebenso wie in den „gewöhnlichen“ Lagern). Törichterweise fragte ich das Mädchen: und wenn du nun die Wahl hättest – Hunger haben, aber frei sein, oder wohlgenährt im Gefängnis? Das Mädel sah mich an, als wenn sie einen Idioten vor sich hätte und meinte: natürlich wohlgenährt, auch wenn ich dann im Gefängnis wäre!
Hallo, junge, unbekannte Generation! Das Mädchen hat die Zeit der Sowjetmacht schon gar nicht mehr erlebt – es wurde später geboren.
Aleksej BABIJ, Vorsitzender der krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft.
AUF DEM FOTO: A. Solchenitzyn im Stolby-Nationalpark (1995). Irgendwo dort
drüben, in der Majertschak-Straße, befand sich seine „Scharaschka“.
Foto: W. Sokolenko
„Krasnojarsker Arbeiter“ 14.02.2006