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Mein Großvater – Sonderumsiedler aus dem Wolga-Gebiet

Mein Opa, Andrej Davidowitsch Christ, wurde am 16. Juni 1929 in der Ortschaft Schwed, Bezirk Krasnojar, Gebiet Saratow, geboren. Er wurde 1941, im Alter von 12 Jahren, zusammen mit den anderen Dorfbewohnern und der eigenen Familie nach Sibirien verschleppt. Auf die weite Reise schickten sie den Vater, David Friedrichowitsch, seine Mutter, Emilia (Emilie) Genrichowna (Heinrichowna), die Brüder David, Friedrich und Gottlieb sowie die Schwestern Amalia (Amalie) und Emma.

Grundlage für die Vertreibung war der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941 über die Liquidierung der autonomen Republik der Wolga-Deutschen. Darin hieß es: „Aus zuverlässigen, von den Militärbehörden übermittelten Informationen, wissen wir, daß sich unter der in den Wolga-Bezirken lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione befinden, die auf ein Signal aus Deutschland Sprengungen durchführen sollen...

Zur Verhinderung ernsthaften Blutvergießens hielt es das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR für erforderlich, die gesamte in den Wolga-Regionen lebende deutsche Bevölkerung umzusiedeln...“. Amalia Genrichowna Papst, Einwohnerin von Bolschoj Uluj, wurde auch in der Ortschaft Schwed geboren. Sie wurde ebenfalls in ihrer Kindheit, im Jahre 1941, gemeinsam mit meinem Großvater aus der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen nach Sibirien verschleppt. Nach ihren Erinnerungen wurden zunächst in allen Ortschaften militärische Einheiten stationiert. Zur Erholung – wie es angeblich hieß. Aber die Menschen hatten schon begriffen: hier ging etwas Schreckliches vor sich. Die Soldaten begannen ihnen zuzuflüstern: „ Sie schicken euch fort von hier; haltet euch bereit“. Die Leute glaubten das und – glaubten es auch wieder nicht. Und als dann genau bekannt wurde, daß die gesamte Bevölkerung verschickt werden sollte, da kam eine furchtbare Panik auf. Viele Kinder weinten´, weil sie nicht verstanden, was da vor sich ging, und weshalb alle sich eilig fertig-machten. Zum Packen standen in der Regel nicht mehr als 20 Minuten zur Verfügung, so daß der größte Teil des Besitzes im Stich gelassen werden mußte. Man erlaubte ihnen nur, ein paar Wertsachen sowie Lebensmittel für die Fahrt mitzunehmen. Hastig kleideten die Mütter ihre Kinder an, wobei sie ihnen soviel warme Kleidung wie nur möglich übereinander anzogen.

Der leidvolle Weg nach Sibirien

Am Bahnhof der Stadt Engels nahm die düstere Prozession den ganzen Weg ein, der zu den Bahngleisen führte.

Sie saßen unter freiem Himmel, es begann zu regnen, zu blitzen und zu donnern. Ein Mann kam heran, der irgendetwas auf Russisch sagte, aber niemand verstand ihn. Wahrscheinlich gab er das Kommando für die Verladung. Am 4. September 1941 wurden sie alle auf Viehwaggons verfrachtet. Die Waggons waren völlig überfüllt, Essen und Trinken waren nur in vollkommen unzureichender Menge vorhanden. Die Reise, die gewöhnlich nur ein paar Tage dauerte, zog sich über drei Wochen hin. Viele starben unterwegs and Hunger und Durst, andere ertrugen dn strengen sibirischen Winter nicht. Am 20. September 1941 erreichten sie Atschinsk. Die Christs und andere Familien wurden ausgeladen und anschließend mit Pferden in das Dorf Baschenowka gebracht.

In der ersten Zeit, nachdem sie gerade erst am bestimmungsort eingetroffen waren, litten sie Hunger,und die Kinder mußtenins Dorf gehen und um Almosen betteln. Die Ortsansässigen gegegneten den Umsiedlern mit gespannter Erwartung. Viele fügten ihnen Beleidigungen zu, erniedrigten sie und sagten, dass die Ankömmlinge Volksfeinde seien. Aber es gab auch Leute, die ihnen Verständnis entgegenbrachten und Mitleid zeigten.

Von Baschenowka nach Bolschoj Uluj

In Baschenowka lebte mein Großvater nicht lange. Nach einiger Zeit zog er nach Bolschoj Uluj um. Dort beendete er die 6-Klassen-Oberschule. Am 23. Dezember 1963 trat er in die landwirtschaftstechnische Berufsschule Nr. 7 ein, die er am 26. Dezember 1964 mit den Noten „4“ und „5“ (entspricht im deutschen Schulsystem den Noten „1“ und „2“; Anm. d. Übers.) abschloß. Er lebte mit seiner Frau, meiner Großmutter Anna in der Bolnichnaja-Straße in einem Haus, das sie mit ihren eigenen Händen erbaut hatten. Hier lebten auch ihre Kinder – Walentina, Andrej und mein Vater Wladimir.

Erinnerungen an den Großvater

Der Einwohner der Bezirksstadt und ehemalige Chef der Bolscheulujsker Dorfverwaltung – Alexander Christianowitsch Gorr, in dessen Familie der Bruder des Großvaters Fjodor und dessen Schwester Emma einige Zeit lebten, kannte meinen Großvater gut.

Sie arbeiteten zusammen mit ihm im Verband „Agrar-Industrie-Chemie“. Nach den Worten A.C. Gorrs „war Andrej Davidowitsch Christ auf den Traktoren-Modellen T-100 und T-130 tätig. Selbst bei Frost arbeitete er stets ohne Handschuhe. Er war fleißig, nicht launisch und immer ausgeglichen. Er kannte sich in seinem Arbeitsbereich gut aus und wußte, was er zu tun hatte“.

Erna Gottfriedowna Jekimowa hatte an der Wolga mit meinem Großvater in ein – und derselben Straße gewohnt, zwei Häuser weiter. Und ebenso wie er war auch sie als Kind mit ihrer Familie nach Sibirien zwangsumgesiedelt worden – in den Bolschulujsker Kreis, in das Dorf Nowonikolsk. Auch sie äußerte sich mit großem Respekt über meinen Opa und Oma Anna, an die ich mich nicht erinnern kann. E.G. Jekimowa meint, dass Großvater und seine Familie in jener schweren Zeit nicht nur „überlebt“ haben, sondern es auch verstanden, ihre Kultur und ihre menschliche Würde zu bewahren.

Nach ihren Worten war Opa Andrej arbeitsam und sorgte für seine Familie, seine Kinder. Und von Oma Anna weiß sie noch, dass sie herrliche Handarbeiten machen konnte und es verstand, die Kinder großzuziehen.Sie wurde von den anderen Dorfbewohnern sehr geschätzt. Aus einem Brief meiner Großmutter Emma Davidowna Jäger (Christ), die in Deutschland in der Stadt Lachnau-Atzbach wohnt, habe ich erfahren, dass der Großvater in seiner Kindheit in Baschenowka Kühe hütete und von früh bis spät in der Kolchose arbeitete. Emma Davidowna erinnert sich noch an die Einwohner von Baschenowka. Eine besonders gute Meinung hat sie von A.A. Sidorowaja.

Meine Tante Walja Asarapina (Christ), Großvaters älteste Tochter, lebt in der Stadt Omsk. In ihrem Brief erzählt sie von meinem Opa und seiner Kindheit. Sie schreibt: „Großvaters Familie traf vollzählig an der Station Atschinsk ein. Dort wurden sie sowie ein paar andere deutsche Familien zum weiteren Verbleib dem Dorf Baschenowka zugeteilt. Andrej Davidowitsch erinnerte sich noch gut an dieses Dorf. Er sagte, dass die Dorfbewohner die Umsiedler bemitleideten. Und in er ersten Zeit versuchten sie zu helfen, so gut es jeder eben konnte, obwohl sie selbst in rmut lebten“. Die Familie Christ hatte Glück. Sie erhielt als eine der ersten auf Anfrage eine Kuh zugesprochen.. (Im Wolgagebiet hatten sie ihre Vieh, Haus, Inventar, Lebensmittel-Vorräte zurückgelassen: Mehl, Honig und so weiter, und dafür hatte man ihnen eine Quittung ausgehändigt, in der der beschlagnahmte Besitz aufglistet war).

Er arbeitete von klein an

Um zu überleben, der Mutter irgendwie zu helfen und die kleinen Kinder zu retten, fing Andrej Christ im Alter von 12 Jahren an zu arbeiten und den Frauen behilflich zu sein, denn alle Männer waren an der Front.

Er hackte Brennholz, holte Wasser, sorgte anschließend mit Kolchospferden für die Bereitstellung von Brennholz für die anderen Dorfbewohner. Andrej war noch so jung; trotzdem arbeitete er bereits im Alter von vierzehn Jahren in Bolschoj Uluj als Hammerschmied in der Schmiede.

Tante Walja schreibt, dass der Großvater zuvor ein halbes Jahr lang im Gefängnis der Stadt Krasnojarsk saß.Man hatte ihn verdächtigt, Getreidekörner vom Feld gestohlen zu haben. Dort wäre er beinahe aufgrund von Unterernährung umgekommen, aber der Gefängnisdirektor hatte Mitleid mit ihm und schickte ihn zum Arbeiten in die Mühle. Dort aß er Mehl, das er mit Wassr hinunterspülte – und das rettete ihn vor dem Tod. Bald darauf wurde der Großvater wieder in die Freiheit entlassen, weil man ihm kein Verbrechen hatte nachweisen können.

Als ich diese Zeilen aus dem Brief las, da dankte ich Gott, dass er meinem damals vierzehnjährigen Opa vor dem wahren Tod rettete. Denn bereits ab 1935 konnten alle Strafmaßnahmen, darunter auch der Tod durch Erschießen, sogar auf Personen angewendet werden, die das 12. Lebensjahr vollendet hatten. Und 1943 war der Großvaterdoch schon 14.

Mein Opa, Andrej Davidowitsch Christ, war ein standhafter, widerstandsfähiger Mensch. Ich halte ihn, den einfachen Arbeiter, für einen Helden. Er hat ein schweres Leben durchgemacht, dabei aber niemals seine menschliche Würde verloren. Er war ein angesehener Mann und besaß Ehrenurkunden und Dankesschreiben aufgrund seiner guten und redlichen Arbeit.

1998 fuhr er zu Bruder und Schwester nach Deutschland, wo er 2001 verstarb. Über sein Todesdatum gibt eine zweisprachige Bescheinigung Auskunft – Deutsch und Russisch. Daraus kann man ableiten, dass der Großvater bis an sein Lebensende sowohl die deutsche als auch die russische Staatsangehörigkeit besaß.

Im August 2006 werden es 65 Jahre, seit die Familie meinesGroßvaters, ebenso wie auch andere Deutsche, gewaltsam aus dem Wolga-Gebiet verschleppt und in Sibirien zwangsangesiedelt wurden. In unserem Bezirk wohnen nicht wenige Menschen, die diese Tragödie miterleben mußten. Und ich denke, dass man in unserem zukünftigen Bezirksmuseum eine deutsche Kulturgesellschaft schaffen, Zusammenkünfte organisieren und Dokumentenmaterial über Zwangsumsiedler sammeln kann. Die Nachfahren der Repressionsopfer könnten neue, früher unbekannte Seiten in der Geschichte des Bezirks öffnen.

Jewgenij Christ,
Schüler der 11. Klasse an der Bolscheulujsker Oberschule,
Mitglied der heimatkundlichen Vereinigung im Haus der Kinderkultur
Zeitung „Westi“ („Nachrichten“), 04.03.2006


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