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Aleksej Babij: „Ich hasse den Kommunismus“

„Es gibt unserer viele. Nur sind die einen am Leben,
die anderen – tot“

„Das sibirische Straflager“ - ein solcher Ruhm hat die Region Krasnojarsk bereits seit vorrevolutionären Zeiten verfolgt. Und in den 1930er Jahren ging sie mit in das „Dreigespann“ der „Führer“-Regionen ein, in die Gefangene aus der gesamten UdSSR mit Häftlingstransporten gebracht wurden.

Die Zahlen sind erschreckend: mehr als 500.000 Sonderansiedler, von denen die Hälfte in sibirischer Erde begraben liegt. An den Verfolgungen litten 60.000 Krasnojarsker , die aufgrund erlogener Beschuldigungen verurteilt wurden. Allein zwischen Sommer 1937 und Sommer 1938 wurden über 12.000 Menschen erschossen.

Enthusiasten haben sich an die Wiederherstellung der rechtschaffenen Namen gemacht. In Kürze wird der vierte Band des Buches der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk herausgebracht. Darüber berichtete der Vorsitzende der Krasnojarsker Organisation „Memorial“, Aleksej Babij, der Zeitung „Argumente und Fakten am Jenisej“.

- Aleksej Andrejewitsch, Millionen sowjetischer Menschen gerieten zwischen die Mahlsteine politischer Repressionen. Viele von ihnen sind heute rehabilitiert, aber Sie sind immer noch auf der Suche nach Opfern der stalinistischen Epoche. Was veranlaßte Sie,sich mit dieser Arbeit zu befassen?

- Das ist eine klassische Geschichte. Anfangs interessierte ich mich für die Geschichte meiner Familie. Mama wuchs ab ihrem 6. Lebensjahr im Kinderheim auf, aber sie erzählte uns nie, aufgrund welcher Umstände sie dorthin geraten war. Später kam heraus: ihre Eltern hatten sich in Charbin bei der Ost-Chinesischen Eisenbahn gekennengelernt. 1937 wurden sie erschossen. Damals gab es einen Befehl des NKWD: alle „Charbinzer“ – „zur Höchststrafe verurteilen!“

Als ich Wolodja Birger kennenlernte, meinte er: Du hast das Schicksal der Deinen geklärt, aber es gibt noch eine Million andere“. Und in Krasnojarsk wurde eine Gesellschaft organisiert (übrigens eine der ersten im Lande), die sich „Menschenschicksale“ nannte. Das allrussische „Memorial“ wurde später gegründet.

- Sie bekommen häufig Ihren Teil weg, sowohl von den „Linken“ als auch von den „Rechten“. Weshalb?

- Unsere Aufgabe beschränkt sich nicht nur auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Bezug auf die Opfer politischer Repressionen. Das Wichtigste ist, keine Wiederholung eines totalitären Regimes im Lande zuzulassen.

Das Proletariat und die Lumpen-Intelligenz mögen uns nicht, weil wir gegen eine erneute Stalinisierung eintreten. Und der föderalen Macht sind wir nicht recht, weil wir gegen jeglicheVersuche eintreten, das Modell einer totalitären Regierung zu errichten.

Bandera-Anhänger – rehabilitieren

- Welche Stellung nehmen Sie gegenüber den vereinzelt auftretenden Äußerungen ehemaliger Tschekisten und Lager-Mitarbeiter ein, die davon überzeugt sind, daß es unter den Verbannten und Häftlingen nicht wenige Verbrecher und Verräter gab ...

- Es gibt einen umstrittenen Paragraphen – den § 58, Absatz 1 „Vaterlandsverrat“. Niemand leugnet, daß nach diesem Paragraphen auch Straftäter verurteilt wurden. Aber darunter fielen doch jene, die sich auf besetztem Gebiet befanden oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Fragwürdig sind auch die Absätze 1a und 1b, nach denen Urteile über die sogenannten „Waldbrüder“ und „Bandera-Anhänger“ verhängt wurden. Ich bin der Meinung, daß sie rehabilitiert werden sollten, denn sie haben für die Unabhängigkeit ihrer Heimat gekämpft –sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Deutschen.

- Der Kampf für die nationale Befreiung endete damit, daß heute in jenem Baltikum Nazisten auf den Hauptstraßen marschieren und sowjetische Soldaten für Besatzungstruppen gehalten werden. Und der Staat erteilt seinen „Segen“ dazu.

- Auf staatlicher Ebene wird diese Ideologie nicht unterstützt. Am 4. November marschierten die Faschisten durch Moskau. Das heißt, daß unser Staat auch Faschisten unterstützt? In Estland ist man tatsächlich der Meinung, daß Hitler sie befreit hat. Und sie davon zu überzeugen, daß ein Rettich nicht süßer als Meerrettich schmeckt, ist sinnlos. Und als man aus Litauen einen großen Teil der Bevölkerung nach Sibirien verschleppte, da wurde dem Genofond ein Schlag versetzt. So etwas zu verzeihen fällt schwer.

- Nicht nur das Baltikum hat damals seinen Teil abbekommen. Und wieviele Erschießungsopfer und Repressierte gibt es in Rußland? Sie haben selbst gesagt, daß es allein in der Region Krasnojarsk eine halbe Million Verbannter gibt.

- Heute schweigt man darüber, daß auch in Rußland anfangs viele der Meinung waren, daß Hitler sie von Stalin befreit hätte. Das fiel ihnen erst später wie Schuppen von den Augen. Bis zu welchem Punkt mußte man das Land führen, damit sie den eingefallenen Gegner mit Brot und Salz empfangen! Das waren doch alles Menschen, die den Hunger, die Entkulakisierung, das Jahr 1937 ... durchgemacht hatten. Sie verstehen ganz richtig: ich erkläre sie nicht für unschuldig, aber ich verurteile sie auch nicht.

- Gibt es Schicksale, die sich besonders tief in der Seele eingeprägt haben?

- Eine reale Geschichte, die ich in der Erzählung „Bach – der Volksfeind“ beschrieben habe. Der Soldat mit dem „musikalischen“ deutschen Namen trocknete seine Fußlappen auf einem Gebüsch, und wurde daraufhin beschuldigt, er habe auf diese Weise den Faschisten irgendwelche Zeichen gegeben. Das Ermittlungsverfahren dauerte lange.

Jedenfalls wurde er dann zur Gegenüberstellung mit einem Soldaten-Zeugen bestellt. Der Untersuchungsrichter hatte an der Wand seines Arbeitszimmers ein ganzes Arsenal verschiedenartiger Reitpeitschen und Schläuche hängen, mit denen er aus den Häftlingen Geständnisse herauszuprügeln pflegte. Als der Zeuge das sah, sprang der Zeuge vor Schreck aus dem Fenster und versuchte zu fliehen. Natürlich stürzten alle ihm nach.

Inzwischen sah unser in der Untersuchungshaft halb verhungerte Held auf dem Tisch des Ermittlungsrichters das Mittagessen stehen – Erbsensuppe und Buchweizengrütze mit geschmortem Fleisch. Und während die Wachmannschaften dem Ukrainer hinterher rannten, ihn totschlugen und verscharrten, aß er das gesamte Essen des Untersuchungsrichters auf. Und später, als er schon satt war, erklärte er sich damit einverstanden, alle an den Haaren herbeigezogenen Aussagen zu unterschreiben. Sie „klebten“ ihm 10 Jahre ein. Derartige Geschichten könnte ich stundenlang erzählen.

- In der geschlossenenn Stadt Schelesnogorsk befanden sich in den 1950er Jahren auch Lager. Bis heute wird darüber gestritten, ob es dort auch Politische gab.

- Im wesentlichen saßen dort „Nicht-Politische“. Wenngleich sich dort auch sogenannte „Verurteilte auf Anordnung“ befanden, die eine Haftstrafe aufgebrummt bekommen hatten, weil sie 15 Minuten zu spät zur Arbeit erschienen waren oder wegen der berühmten Sache mit den Kornähren. Die Zeit ist noch nicht gekommen, um ernsthaft eine Rehabilitation aufgrund dieser Anordnung zu erwägen. Ich denke, wenn wir irgendwann einmal einen normalen Staat haben, dann werden wir auf sie zurückkommen, und dann werden es noch viel mehr „Politische“ werden. Wir haben zum Beispiel gesehen, wer im NorilLag einsaß: 50% - politische Gefangene, 30-35% - „Verurteilte auf Anordnung“ und nur 10-25% - Straftäter.

Die drei Farben des Hasses

- In der Erzählung „Die drei Farben des Hasses“ unterteilen sie den Haß in roten, schwarzen und weißen Haß. Wie sind sie auf diese Unterteilung gekommen?

-Schwarzer und roter Haß sind auf konkrete Menschen ausgerichtet. Der weiße – auf eine Erscheinung.

- Ist Ihnen dieses Gefühl bekannt?

- Natürlich. Ich hasse, zum Beispiel, den Kommunismus. Das ist – weißer Haß.

- Aber die Kommunisten verkünden doch auch edelmütige Ideen – über Gleichheit und Brüderlichkeit; einen Teil ihrer Ideen haben sie sogar aus der Bibel übernommen.

- Aber gerade in der Bibel heißt es: urteilt nach ihren taten, nicht nach ihren Worten. Und bei den Kommunisten, das wissen Sie selbst, ist alles mit Blut vermengt. Aber mein Haß überträgt sich nicht auf jene unglückseligen Großmütterchen und Großväterchen, die mit Portraits des Führers in den Händen zu den Versammlungen gehen. Ihnen hat man irgendwann einmal die Idee des Kommunismus eingebleut, und sie können sich davon nicht befreien. Ich habe einfach nur Mitleid mit ihnen.

- Kürzlich haben Sie sich äußerst scharf gegen die Errichtung eines Pantheons zur Erinnerung an die Stalinsche Verbannung in Kurejka geäußert, und sogleich hat man Sie der Prostitution beschuldigt. Fühlen Sie sich nicht beleidigt?

- Ich habe bereits gesagt: wenn das Geschäftemacherei ist, dann ist dieses Geschäft unsittlich. Wenn man sich schon auf diese Art und Weise daran macht, „Geschäfte zu machen“, warum verdienen sie es sich dann nicht durch Prostitution oder Rauschgift-Handel? Na ja, und Jewgenij Paschtschenko hat darauf auf seine Art reagiert, indem er meine Arbeit Prostitution nannte. Es heißt, der Babij sitzt in seinem warmen Arbeitszimmer und verdient sein Geld damit, daß er alles Gute verurteilt. Nein, ich bin ihm nicht böse. Er hat da einfach im Eifer des Gefechts eine unbedachte Bemerkung gemacht.

- Haben Sie es nie bedauert, daß Sie sich diese Last aufgebürdet haben? Wenn man so viele schreckliche Schicksale an sich vorüberziehen läßt, dann braucht man doch sicher einen ziemlich starken Charakter?

- Ich habe ein sehr dickes Fell. Aber wenn Sie Leute, wie den Leiter des Minusinsker operativen Sektors – Aleksejew – meinen, der persönlich Gefangene erschoß und den Befehl erteilte, Verwundete mit Brechstangen zu verprügeln, um nicht unnütz Patronen zu verschwenden, dann läuft es einem in der Tat eiskalt den Rücken herunter. Und in solchen Augenblicken wächst mein weißer Haß.

- „Memorial“ existiert seit fast 20 Jahren. 14 Mitarbeiter sind dort tätig – hauptsächlich Rentner. Sie arbeiten selbstaufopfernd. Aber der Umgang mit dieser Tätigkeit gibt Kraft, weil wir wissen: wir sind nicht allein. Es sind unser viele – nur sind die einen noch am Leben, die anderen bereits tot.

Gespräch Olga LOBSINA
Foto Mira AGAJEWA
„Argumente und Fakten am Jenisej“ 11.05.06


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