Vor der Tür stand das harte und erbarmungslose Jahr 1941. Seine schrecklichste Seite war der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges und das Täuschungsmanöver, das mit diesem Krieg im Zusammenhang stand. Gemeint sind die Massen-Repressionen und die Deportationen verschiedener Völker aus ihren angestammten Wohnorten in die Tiefen Sibiriens und den Hohen Norden. Die Rede ist von Menschen deutscher Nationalität, die gemäß dem traurig-berühmten Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 aus dem Wolgagebiet und anderen Regionen ins endlos weite Sibirien und die nördlichen Gefilde ausgesiedelt wurden.
Zweifelsohne ist dies auch an der Region Krasnojarsk nicht vorübergegangen, die sich bis zum Nördlichen Eismeer erstreckt. Offiziell hörte sich das Dekret wie folgt an: «… die gesamte deutsche Bevölkerung auszusiedeln … in andere Landesbezirke, mit der Maßgabe, dass den Umzusiedelnden dort Grund und Boden zugeteilt und ihnen staatliche Hilfe bei der Eingewöhnung in die neuen Wohnorte gewährt wird». Doch das stand lediglich auf dem Papier. In Wirklichkeit verlief alles ganz anders. Laut Archivdokumenten vom 1. November 1941 trafen 77359 deutsche Umsiedler in der Region Krasnojarsk ein, «die in verschiedenen Zweigen der Volkswirtschaft untergebracht wurden, unter anderem in Kolchosen – 15037 Familien, in Sowchosen – 716, an den Maschinen- und Traktoren-Stationen – 25, in Bezirksämtern und -unternehmen – 1529 Familien».
Bevor man die Menschen in den sibirischen Norden, in die Bezirke Kasachstans und die Republiken Mittel-Asiens brachte, wurde der gesamte Besitz, Haus und Vieh, ohne jegliche Entschädigung konfisziert. Viele alte Leute, die damals im Kindesalter waren und sich heute im Rentenalter befinden, haben bis heute keine Wiedergutmachung erhalten, weder in Form von Geldmitteln noch durch Rückgabe ihres Eigentums.
Man verschickte die Umsiedler, dichtgedrängt, in überdachten Güterwaggons, und sie mussten in Regalen und auf dem Boden schlafen oder zusehen, wo sie ein Plätzchen fanden.
So erinnert sich die pflichtbewusste, fleißige Arbeiterin Olga Iwanowna Knaub aus der Ortschaft Meschowo im Bolsche-Murtinsker Bezirk, damals 14 Jahre alt, an die schicksalhaften Ereignisse. «Mit uns fuhren auch die Familien Bluschko, Heinz und andere, zuerst mit dem Zug in überdachten Güterwaggons bis nach Krasnojarsk und anschließend auf dem Fluss mit einem Lastkahn bis nach Juksejewo und zuguterletzt mit Pferden nach Meschowo».
Die Familie Knaub bestand aus 4 Personen: Mutter Olinda, zwei Schwestern -–Olga und Frieda – und Bruder Viktor, der später einen großen Bekanntheitsgrad erlangte, weil er im Folgenden, und das für den Rest seines Lebens, der erste Schmiede-Spezialist im Dorf wurde.
Die Familie Knaub stürzte sich nach ihrer Ankunft in der Ortschaft Meschowo sofort in den Arbeitsalltag, umso mehr, als der Herbst bereits vor der Tür stand. Anfangs arbeiteten alle in der Kolchose «Erinnerung an Iljitsch», Olinda (Olga) Knaub musste nicht länger lernen, Frieda war gerade 9 Jahre alt, Viktor 13, aber im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern erwartete Olga die Arbeitsarmee, wie man sie damals im Volk nannte. Sie erinnert sich daran mit Vorbehalt, – denn sie möchte nicht gern darauf eingehen, denn die bitteren Gedanken an jene 1940er bis 1950er Jahre übermannen die Seele wie ein beißender Nachgeschmack und pressen das Herz schmerzlich zusammen.
- Sie schickten mich in die Burjatische ASSR, in die Stadt «Gorodokê» (Städtchen; Anm. d. Übers.). Dort arbeitete ich in den Sowchosen ¹ 2 und ¹ 1. Wir waren viele, wir arbeiteten als Melkerinnen, trieben das Vieh». Gerade durch ihren Fleiß und ihre verantwortungsbewusste Haltung gegenüber ihren Pflichten konnte Olinda (Olga) Iwanowna, wenn man es so ausdrücken kann, schließlich das Vertrauen zu den örtlichen Behörden aufbauen, und man vertraute ihr als «Volksfeindin» sogar die Bewachung von Läden, Kantinen und anderen Objekten an, wo Goldgräber beschäftigt waren. Und das spielte sich in jenen rauen Jahren 1945-1947 ab, als es nach dem Krieg viele umherstreunende und obdachlose Menschen gab.
Mit dem Gewehr über der Schulter bewachten junge Mädchen, die sich zu dieser Zeit eigentlich verlieben und ein fröhlicheres Leben hätten führen sollen, mit Würde und Mut staatliches Eigentum, denn es gab nicht genügend Männer … Und sie hielten Stand, indem sie würdevoll ihr Schicksalskreuz und das Kreuz des Vaterlandes trugen!
Nach Kriegsende hatten die Behörden es nicht eilig die fleißigen Mädchen loszuwerden. Und so schickten sie Olinda (Olga) Knaub zum Arbeiten in die Kolchose ¹ 1, die ihre Felder und Viehzuchtbetriebe rund um das «Städtchen» verteilt hatte. Die Mädchen arbeiteten hart, und manche von ihnen wurden Mütter ihrer Kinder. Olga Iwanowna arbeitete in einem multinationalen Kollektiv von Melkerinnen.
Das Leben ist so aufgebaut, dass es den Menschen in seine Heimat zurückzieht. Olga Knaub wollte unbedingt wieder mit ihrer Familie, d. h. mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester, vereint werden. Aber die Jahre vergingen und alles war ungewiss. Und dann kam der Augenblick, und das geschah, nachdem der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27. März 1953 herausgekommen war, als ein Großteil der Deutschen amnestiert wurde.
Doch Olga Knaub betraf das nicht. Sie wurde hier, in der Burjatischen ASSR benötigt. Anständige und pflichtbewusste Arbeitnehmer waren schon immer Mangelware gewesen, und der Staatsapparat erdrückte sie. 1955 wurden die Beschränkungen bezüglich der Rechtslage der in Sonderansiedlung befindlichen Deutschen und ihrer Familienmitglieder abgeschafft. Allerdings entzog man den Deutschen, die unter administrativer Aufsicht standen, das Recht der freien Wohnortwahl.
Und dann, vielleicht zum ersten Mal seit vielen Jahren, lächelte Olga Knaub ein Glücksstern entgegen. Gemäß dem Antrag ihrer Mutter und der übrigen Familie entließ man sie in die Siedlung Meschowo im Bolschemurtinsker Bezirk. In ihrem Arbeitsbuch gibt es so gut wie nur einen einzigen Eintrag, und der ist nicht so sehr juristischer, sondern eher ideologisch-politischer Natur. Der Eintrag lautet: «… im 4. Monat des Jahres 1955 aufgenommen in die Kolchose «Erinnerung an Lenin» des Meschowsker Dorfrats, Bolschemurtinsker Bezirk, Region Krasnojarsk, durch Komsomolzen-Reiseschein zur Arbeit in der Viehzucht».
Natürlich wurden Sondersiedler nicht in die fortgeschrittene Jugendavantgarde
aufgenommen, weil sie mit dem Stigma, "Volksfeinde" behaftet waren, obwohl sie
hohe Leistungen erbrachten und diszipliniert arbeiteten, aber der dokumentierte
Stempel musste sein, und deswegen steht er im Arbeitsbuch, aber er entspricht
nicht der Realität, denn sie war keine Komsomolzin.
Anfangs arbeitete Olinda, so ihr Name laut Geburtsurkunde und gemäß Pass Olga
Iwanowna Knaub, mit gutem Wissen und großem Verantwortungsbewusstsein als
Melkerin und anschließend 12 Jahre lang als Buchhalterin der Ackerbaubrigade.
Von ihrer gewissenhaften Arbeit zeugen zahlreiche Ehrenurkunden,
Veröffentlichungen in der Bezirkszeitung und eine Medaille «Veteranin der Arbeit».
In ihrer Freizeit, wob und strickte Olga Iwanowna, die dies von ihrer Mutter gelernt hatte, zahlreiche Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, mit denen sie die Zeit zumindest ein wenig kreativ ausfüllen und den Alltag verschönern konnte.
Auch Olga Iwanownas rastloser Geist, der jahrzehntelang wie eine Quelle in ihrem Bewusstsein und ihrem Herzen saß, hat überlebt. Sie kann sich nicht damit abfinden, dass sie für all ihre Arbeit, Demütigung und "Unterwürfigkeit" mit einer so geringen Rente belohnt wurde.
Das Schicksal von Olga Knaub ist das Schicksal von Millionen von Menschen in der UdSSR, selbstlos für das Wohl des Staates arbeiteten und zuallerletzt an ihr eigenes Wohlergehen dachten.
N. Ganina
„NEUE ZEIT“, ¹ 56-57, 16.06.2006.