Krasnojarsk: Über die Umsiedlung der Nordländer in den Süden, die unter den stalinistischen Verfolgungen zu leiden hatten, soll im Rahmen der Realisierung des nationalen Projektes „Komfortable und erschwingliche Wohnmöglichkeiten für die Bürger Rußlands“ entschieden werden.
In Krasnojarsk hielt sich eine Delegation der gesellschaftlichen Vereinigung „Für den Schutz der Opfer politischer Repressionen“ aus Norilsk auf. Zum zweiten Mal bewältigten sie die mehrere hundert Werst lange Strecke auf dem Jenisej – diesmal allerdings auf einem richtigen Dampfer, der „Alexander Matrosow“, und von Norden nach Süden. Mitte des vergangenen Jahrhunderts befanden sich neun Frauen in der Zahl derer, die für nichts und wieder nichts einst verhaftet und zum Polarkreis geschickt worden waren, um dort ihre Haftzeit zu verbüßen.
„Damals konnten wir die ganze Schönheit des Jenisej nicht zu sehen bekommen“, - sagt Frieda Jakobi. – „Sie brachten uns ins Gefängnis. Sie verschleppten uns als vermeintliche Helfershelfer des nazistischen Deutschlands – uns, die Wolga-Deutschen. Ich war damals 14 Jahre alt. Mit uns fuhren auch Finnen aus Karelien. Sie setzten uns einfach am Ufer aus. Wir bauten Erdhütten, in denen wir dann auch lebten. Sie werden es nicht glauben, aber wir, die Minderjährigen, arbeiteten beim Fischfang. Ich kann mich noch an das Jahr 1942 erinnern.
Insgesamt 12 Leute zogen das riesige Fischernetz, und alle waren barfuß. Ich wollte so gern essen, aber sie erlaubten uns nicht, den gefangenen Fisch zu essen. Viele starben vor Hunger“.
An der Anlegestelle des krasnojarsker Flußbahnhofs wurde die Delegation von Mitgliedern der örtlichen Filiale der Gesellschaft „Memorial“, Beamten und Journalisten begrüßt. Nach den Worten der Vorsitzenden der gesellschaftlichen Vereinigung „Zum Schutz der Opfer politischer Repressionen“, Elisabeta Obst, „birgt der Besuch einen geschichtlichen Aufklärungscharakter in sich. „Die Menschen, in erster Linie die junge Generation, sollen sich an jene schrecklichen Zeiten erinnern, - sagte sie. – „ Niemals dürfen die vielen unschuldigen Opfer des totalitären Regimes in Vergessenheit geraten“.
Nach den Worten des Vorsitzenden der krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft für geschichtliche Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge, Alexej Babij, sind Organisationen, welche die Rehabilitierten miteinander vereinen, auf dem riesigen Territorium der Region sehr stark isoliert. „Wir müssen eine Verbindung herstellen, indem wir der jungen Generation gemeinsam von den Menschen erzählen, die in ungesetzlicher Weise verurteilt wurden und in den Lagern ums Leben kamen“.
„Die Region Krasnojarsk stellt eine verkleinerte Kopie unseres Landes dar“, - betonte der stellvertretende Gouverneur Sergej Kosatschenko währen des Treffens mit Mitgliedern der Delegation der Menschenrechtsvereinigung. – „Unsere Region hat mehr als eine halbe Million verurteilte und verbannte Repressionsopfer aufgenommen. Unter ihnen befanden sich sowohl herausragende Persönlichkeiten, als auch ganz einfache Menschen, die in die Mühlsteine des Regimes geraten waren. Zum Schutz der Rechte von Repressierten wurde in der Region das Gesetz „Über Maßnahmen zur sozialen Unterstützung rehabilitierter Personen sowie Personen, die Opfer politischer Repressionen waren“ ausgearbeitet und im Jahre 2004 verabschiedet.
„Das hat uns gerettet“, - sagt Elisabeta Obst, - „es hat uns die Vergünstigungen erhalten, die ein anderes Gesetz, das Gesetz über die Monetisierung, genommen hat. Alles, alles ist uns erhalten geblieben, sogar das Recht auf kostenlose Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Februar dieses Jahres nahmen wir am Forum der gesellschaftlichen Vereinigungen zum Schutz der Opfer politischer Repressionen und Gedenkstätten teil und fühlten uns dort wie weiße Raben: wir verstanden, daß uns hier, im Unterschied zu den anderen Regionen, gut geholfen wird. Auch sind wir dankbar dafür, daß man hier das Andenken an die Repressionsopfer bewahrt“.
In der Region Krasnojarsk wird das Buch zur Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen herausgebracht. Diese Veröffentlichung ist das Resultat der Zusammenarbeit zwischen der regionalen Archiv-Agentur, Experten auf dem Gebiet der Sozailfürsorge, der Regionsverwaltung des FSB der Russischen Föderation, der GUWD und der örtlichen „Memorial“-Filiale. Zwei Bände dieses Buches haben bereits das Licht der Welt erblickt. Der zweite enthält die Kurz-Biografien von etwa 6000 Krasnojarskern, deren Familiennamen mit den Buchstaben „W“ und „G“ beginnen, sowie Auskunftsmaterialien, wissenschaftliche und publizistische Artikel. Der erste Band mit Kurzbiografien von Personen, deren Nachnamen mit den Anfangsbuchstaben „A“ und „B“ begann, kam im Jahr 2004 heraus. Die Veröffentlichung weiterer Bände befindet sich in Vorbereitung.
In Norilsk leben derzeit mehrere hundert Repressierte und ihre Kinder, die einen rechtlichen Anspruch auf Vergünstigungen besitzen. Opfer des stalinistischen Regimes leben auch in anderen nördlichen Regionen, unter anderem im Autonomen Gebiet Taymyr. Natürlich träumen viele von ihnen davon, daß sie, nachdem sie bereits ein halbes Jahrhundert am Polarkreis gelebt haben, endlich eine Wohnung in einem Gebiet mit einem etwas milderen Klima erhalten. Wie Elisabeta Obst jedoch hervorhob, gilt für die Norilsker die Quotenregelung. Etwa 600 Menschen stehen auf der Warteliste. „Wir sind nicht aus freiem Willen hierhergeraten, aber wir haben den Norden liebgewonnen, sind selbst zu „Nordlichtern“ geworden – und trotzdem würden wir gern den Rest unseres Lebens dort verbringen, wo es ein wenig wärmer ist“.
Nach Kosatschenkos Worten soll diese Frage im Rahmen der Realisierung des nationalen Projektes „Komfortable und erschwingliche Wohnmöglichkeiten für die Bürger Rußlands“ entschieden werden.
In den Jahren des Personenkultes um Stalin verbüßten mehr als 500.000 Repressierte ihre Haftstrafe in der Region Krasnojarsk. Bei den örtlichen Wohlfahrtsorganen sind derzeit 24.000 rehabilitierte Bürger und etwa 1.100 Menschen registriert, die als Repressionsopfer anerkannt wurden. Gemäß Föderationsgesetz Nr. 122 „Über die Monetisierung von Vergünstigungen“ wurde die Sozialfürsorge für Repressionsopfer in den regionalen Zuständigkeitsbereich übertragen. Im Jahre 2005 wurden den Repressionsopfern aus dem Regionsbudget fast 31 Millionen Rubel für Vergünstigungen bereitgestellt. Im laufenden Jahr plant man für die soziale Unterstützung der ehemaligen Repressierten aus der Regionalkasse bereits eine Summe von 50 Millionen Rubel aufzuwenden.
Wjatscheslaw Korsun
Russische Zeitung, 08.08.06