Repressionen, Strafmaßnahmen – das sind schreckliche Worte. Aber – das ist unsere Vergangenheit, die tragische Seite der Geschichte unseres Vaterlandes.
Unsere Region war nicht nur eine Gegend, in der Menschen aus politischen Beweggründen verhaftet wurden - und sie machten nach bescheidenen Berechnungen immerhin etwa 50.000 aus. Es war auch ein Ort der Verbannung, an dem Menschen eine unverdiente Strafe verbüßten. Und ihre Zahl liegt bei nicht weniger als einer halben Million Sonderumsiedler – enteignete Großbauern, falsch Angeschuldigte, Deportierte, Verschleppte.
Doch wie groß muss erst die Schuld vor dem Staat gewesen sein, um ein ganzes Volk zu bestrafen!
Eines dieser deportierten Völker waren die Russland-Deutschen. 1941 wurden sie aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen in verschiedene Regionen unseres Landes ausgesiedelt. In den Suchobusimsker Bezirk gerieten Familien aus Pallasowka, welches sich im heutigen Saratower Gebiet befindet. Meinen Großvater Samuel Genrichowitsch Maier schickten sie, zusammen mit Ehefrau Emilia Karlowna und den sechs Kindern (das jüngste war zu dem Zeitpunkt zwei Monate alt), nach Bolschoj Baltschug.
Muss man davon sprechen, auf welche Schicksalsherausforderungen sie stießen? In der ersten Hälfte des Krieges, als die Sowjettruppen sich flächendeckend zurückzogen und alles ziemlich unerträglich war, fiel es nicht schwer, Schuldige zu finden: da sind sie – direkt nebenan. War man Deutscher – war man Faschist. Aber es gab auch Menschen, welche die gewaltsam aus ihren Heimatorten Herausgerissenen bemitleideten und ihre Situation verstanden.
Bereits im Januar 1942 wurde damit begonnen, Männer und junge Leute aus den Reihen der Umsiedler in die Arbeitsarmee zu schicken. Aus der Familie des Großvaters wurde die siebzehnjährige Berta nach Chatanga abtransportiert – zum gewerblichen Fischfang. Ihr jüngerer Bruder Robert kam nach Igarka und Frieda, meine Mutter, geriet 1943 zusammen mit dem Großvater in die Schachtanlagen von Kemerowo. Bis zu ihrem Tod konnte Mama nicht die Tränen zurückhalten, wenn sie an diese Jahre zurückdachte. Die gesamte Familie kam erst 1947 wieder zusammen.
Im März 1956, nach dem bekannten 20. Parteitag, wurden die deportierten Deutschen in die Freiheit entlassen, allerdings ohne das Recht auf Rückkehr in die Heimat. Alle meine Tanten und Onkel ließen sich im Suchobusimsker Bezirk nieder und wurden wegen ihrer fleißigen Arbeit von den anderen Dorfbewohnern geachtet.
Heute sind Robert Samuilowitsch, Irma Samuilowna und Frieda Samuilowna schon nicht mehr am Leben. Berta Samuilowna reiste nach Deutschland aus, und nur die Jüngste – Elja – lebt in Krasnojarsk. Aber im Suchobusimsker Bezirk leben und arbeiten ihre Nachfahren. Ihre Vergangenheit und Gegenwart sind unmittelbar mit den vergangenen und tragischen Seiten des Lebens ihrer lieben Verwandten verbunden.
So lange wir unsere historische Erinnerung haben, versiegt die Trauer über die unverdient Verfolgten, Umgekommenen, Beschimpften nicht.
Tatjana Kalisljamowa, Dorf Kononowo
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje, 27.10.2006