Sonder-Reportage
Der 30. Oktober ist der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. Einen Monat vor diesem Tag wurde dem Korrespondenten der „Polar-Wahrheit“ die Ehre zuteil, mit sechs Geistlichen des Tajmyrer Dekanats eine Missionsreise auf dem Jenisej zu unternehmen, dessen Ufer für viele unschuldige Menschen zum Ort ihrer Verbannung wurden. Die Norilsker beteten für die von der gottlosen Macht Verfolgten im Dorf Potapowo. Der kleinen orthodoxen Expedition gelang es auch, die verlassene Siedlung Plachino zu finden, wohin sie vor über achtzig Jahren den großartigen Chirurgen und Pastor – den Geweihten Luka (Bojno-Jasenezkij) schickten, um hier den sicheren Tod zu sterben. Unterwegs passierte mit den Wallfahrern nicht wenig Verwunderliches….
Am frühen Morgen des 28. September wurde die Straße für das Fahrzeug auf der Strecke von Norilsk nach Dudinka plötzlich zu einer äu0ßerst gefährlichen Strecke – blankes Eis, das mit feinem Schnee bedeckt war. Vater Daniil, der Prior der talnacher Heilig-Dreifaltigkeitskirche, vollbracht hinter dem Steuer ein Wunder nach dem anderen. Aber unsere Abfahrt aus dem Hafen mit dem Bugsierschiff „Wimpel“ verzögerte sich merklich … Für die hundert Kilometer flussaufwärts, bis nach Potapowo, vergingen mehr als sechs Stunden. Mit dem Dekan der Heiligen Wwedjensker Kirche in Dudinka, Vater Georgij, war ich bereits einmal hier gewesen – einige Jahre zuvor weihte er den Ort für den Bau einer Kapelle zu Ehren der Iwersker Ikone der Gottesmutter. Im vergangenen Jahr reiste ich erneut nach Potapowo, fing dort an Materialien über die lokale Geschichte zu sammeln, mich mit ehemaligen Verbannten zu treffen und besuchte den Friedhof, um mich im Gedenken an die Toten zu verneigen. In die Niederungen des Jenisej wurden in den schicksalhaften 1940er Jahren hunderte deutsche Familien aus dem Wolgagebiet verschleppt, um hier irgendwie zu überleben. Wie die Menschen damals mit ihren bloßen Händen Erdhöhlen aushoben, hungerten, im eisigen Wasser Fische für den Staatsbedarf fingen, ihre Angehörigen verloren … davon erzählte mir der Alteingesessene Alexander Genrichowitsch Schmal. Sein Nachname ist der bekannteste im Dorf, viele hiesige Berühmtheiten entstammen diesem Geschlecht, angefangen vom Leiter der Territorial-Behörde (so nennen sie heutzutage das Oberhaupt der örtlichen Verwaltung). Diesmal hatten wir für unseren Aufenthalt in Potapowo nur wenig Zeit zur Verfügung. Die Väterchen machten sich an ihre Pastoren-Pflichten, während es mit gelang bei der Dolganin Maria Nikolajewna Porotowa einige potapowsker Neuigkeiten zu erfragen – sie ist die wichtigste Spezialistin bei der Territorial-Behörde, die hier „für alles verantwortlich ist“. Im vergangenen Frühjahr feierte Potapowo, das zu Ehren eines alten, verbannten Revolutionärs benannt ist, sein 125-jähriges Bestehen. Die älteste Einwohnerin hier ist Maria Jakowlewna Schmal (die natürlich auch aus den Reihen der Verbannte4n stammt), die bald ihr 85. Lebensjahr vollendet; am Leben und gesund sind auch mein Alexander Genrichowitsch und Galina Jakowlewna Weimann. Hier ist es irgendwie nicht üblich, den 30. Oktober zu begehen. Die alten Leute, welche die Repressionen überlebt haben, halten dafür den Tag des alten Menschen und den 9. Mai in Ehren, bewirten sich gegenseitig mit Tee und vergessen nicht die materielle Hilfe …
In Potapowo leben derzeit ungefähr vierhundert Menschen, die insgesamt vierzehn Nationalitäten angehören. Sie führen ein schwieriges Leben und leben hauptsächlich von Fisch; aber sie ermutigen ihre Kinder, an den Universitäten auf dem Festland zu studieren, und sie finden, dass ihre Geburtenrate nicht schlecht ist – in diesem Jahr haben sechs Jungen das Licht der Welt erblickt und ein Dutzend Kleine werden noch erwartet. Potapowo befindet sich am Ufer des Jenisej in einer guten Lage; während der schiffbaren Zeit kann man für 300 Rubel immer auf einem vorbeifahrenden Motorschiff bis nach Dudinka gelangen; und im Winter gibt es eine Preisermäßigung für den Flug mit der AN-3 – zum halben Preis. Saubere Luft, jede Menge Beeren und Pilze, eine Zehn-Klassen-Schule, ein eigenes Krankenhaus und eigenes Brot (23 Rubel pro Laib). Leider ist von der berühmten Tierzuchtfarm nicht eine einzige Spur erhalten geblieben. Fünf hartnäckige Hirten hüten 900 Stück domestizierte Rentiere, aber mit Fleisch ist es in Potapowo schwierig: die Rohre der Gasversorgung versperrten den „wilden Tieren“ den Weg.
Bei meinen wenigen Aufenthalten in Potapowo habe ich diesen Ort liebgewonnen, an dem man so wunderbar atmen kann. Aber es ist bitter, dass das Volk es hier dennoch nicht die Arbeit und den Glauben vorzieht, sondern viel lieber „Schnaps“ trinkt. Den Bau einer Kapelle haben die Ortsbewohner nicht unterstützt, und was auf die Menschen von Potapowo noch alles zukommen wird, das weiß Gott allein … Maria Porotowa selber, die im Dorf 20 Jahre als Lehrerin und nun als Beamtin tätig war, will nach Dudinka umziehen, wohin ihr Mann und ihre Kinder bereits gefahren sind.
Und das junge Oberhaupt der Bauern- und Farmwirtschaft, Konstantin Koch, wird nirgend hinfahren, obwohl sie ihn schon seit langem nach Deutschland holen wollen. Wur besichtigten zusammen mit den Väterchen seine blühende Farm, auf der es sowohl Kühe, als auch Hühner und Ferkel gibt. Er ist der Meinung, dass es in Potapowo genügend Arbeit gibt, nur wollen die Leute nicht arbeiten … Warum trinken sie? Da er selber „keinen Alkohol braucht“, fällt es ihm schwer eine Antwort darauf zu finden. Wir lernten Konstantin bereits im vergangenen Jahr kennen, als sein Vater ihm in der Wirtschaft half – Wladimir Arturowitsch. Die Kochs stammen aus einer Familie repressierter Deutscher. Diesen Sommer wurde ein Gedenkkreuz in Ust-Chantajka errichtet, wohin man seinerzeit ihre Verwandten verschleppte. In Potapowo wächst mittlerweile bereits die fünfte Generation der Kochs heran. Beim Abschied lächelt Konstantin und zeigt seine blendend weißen Zähne. Er will so schnell wie möglich seinen Traktor reparieren. Und unsere Re8ise führt uns durch die Unwegsamkeit - auf die benachbarte Anhöhe, in die unvollendete Kapelle, um für alle Leidenden dieser Welt zu beten. Mit uns ist die gutmütige Einwohnerin von Potapowo – Valentina, deren erwachsener Sohn lebensgefährlich erkrankt ist. Sie begleitet uns ganz bis ans Fallreep unserer „Arche“.
Von Potapowo nach Plachino sind es ungefähr noch einmal hundert Kilometer gegen die Strömung. In der Nacht machen wir am jenisejsker Ufer in einer der Herbergen halt, in denen die Leute gern rechtgläubige Pilger unterbringen, unter denen sich auch die Väter und Dekane der Kirchen in Talnach, Kajerkan und Igarka sowie Erzdiakon Apollinarij und Mütterchen Marina befinden. … Wir erreichen Plachino am 29. September noch vor der Mittagszeit. Mehrere Holzhäuschen befinden sich auf dem Hügel; ein Holzstoß, ein Boot, Fässer mit Dieselkraftstoff direkt am Wasser. Es mutet merkwürdig an, dass unsere Geistlichen Anfang August nicht an einem so primitiven Ort wie diesen gelangen konnten. Die Väterchen erinnern sich, dass sie sich von Igarka aus mit Motorbooten auf den Weg gemacht hatten, aber es herrschte hoher Wellengang und sie begriffen rechtzeitig – bis zum gewünschten Ufer wurde der Dieselkraftstoff nicht reichen. Aber vielleicht lag der Grund auch darin, dass sie im August in Plachino den igarsker Fischer und Rentner Wasilij Anastasowitsch Zarizkij nicht antreffen würden, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen ist. Ausgerechnet dieser Mann kam ganz unerwartet an Bord unserer „Wimpel“ und erklärte: in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebten die Menschen im alten Plachino, das von hier aus eine halbe Stunde auf dem Flusswege entfernt liegt….
In der Kapitänskabine erzählte uns der unverhoffte Begleiter, dass Pachino heute ein saisonabhängiger Fischfangort ist. Die Leute fischen – und fahren wieder nach Hause, bevor der Jenisej zufriert, und später wird Eisfischen betrieben - gemäß Vertrag mit den Privateigentümern, welche die arbeitenden Menschen nicht benachteiligen. Seine Mutter war 17, als sie, zusammen mit seinem zukünftigen Vater, ins neue Plachino kam; er arbeitete als Wachmann in Norilsk.
Wasilij kann sich noch daran erinnern, es im alten Plachino zwei – drei Häuser auf der Bergkuppe gab, wie man die Lichtung aus irgendeinem Grunde nannte, und der Friedhof, dessen Kreuze auch heute noch zu sehen sind, wenn die Leute zum Pilze Sammeln dorthin gehen. Aber von dem geweihten Luka hat er noch nie etwas gehört. Er selber ist hier vor drei Jahren getauft worden, als auf einem „KS (Kutter der Baureihe „KS“; Anm. d. Übers.) die Rechtgläubigen Anatolij und Jelena mit ihren sechs Kindern, einem Kälbchen und einem Hund vorüberschwammen. Väterchen Georgij nickte mit dem Kopf: „Wir kennen solche; die Weltlichen können sich in allen möglichen Situationen taufen lassen, aber die Sakramente vollziehen – das kann nur ein Geistlicher …“.
Wasilij erinnerte sich. dass in diese Gegend auch ein Großvater gekommen war, 86 Jahre alt und in Begleitung einer alten Frau; sie fanden in Plachino die Gräber von Verwandten, und man hatte ihnen extra in Igarka einen Kutter zur Verfügung gestellt. Kommt sonst noch irgendjemand, um sich vor den Toten zu verneigen und ihrer zu gedenken? Unser Begleiter erinnerte sich: „Nicht weit von hier, am rechten Ufer, in Agapitowo, wo ein einzige Hütte stehen geblieben ist, lebten früher Verbannte – Balten und Deutsche. Irgendeine Delegation hat dort ein Kreuz errichtet. Auf der anderen Seite hat auch jemand auf den Steinen ein großes Holzkreuz hingestellt, aber es wurde inzwischen vom Hochwasser zerstört…“. Der Kapitän seufzt: „Am gesamten Jenisej kann man überall Kreuze errichten. Es ist ein einziges Massengrab; wie viele Gefangene sind hier von den Barken versenkt worden…“.
Die beiden schmalen hölzernen Steigleitern reichten nicht bis an das auserkorene Ufer von Alt-Plachino heran, wir mussten uns den Weg dorthin über die rutschigen Steine bahnen. Und damit ging die Prosa des Lebens zu Ende. In Plachino gab es auf Schritt und Tritt ein Wunder. Das schwermütige, spätherbstliche Bild wurde hier ganz plötzlich von schneeweißer Landschaft abgelöst. Wir hatten das Gefühl, als ob man uns erwartete und feierlich begrüßen wollte. Der flauschige erste Schnee verzierte das Ufer, das Wäldchen mit seinen unsichtbaren Vögeln, durch welches wir zu der Lichtung hinaufstiegen, wo einst die ärmlichen Hütten standen,; und in einer von ihnen hatte man im finster-strengen Dezember des Jahres 1924 den verbannten Geweihten Luka untergebracht. Viele Male habe ich seine Memoiren gelesen …
„ … Das war eine ganz kleine Siedlung, bestehend aus drei Holzhütten, sowie zwei etwas größeren – eine Handvoll Mist und Stroh, wie es mir schien – die tatsächlich zwei kleinen Familien als Behausung dienten…. Ich blieb in meiner Unterkunft allein. Ich wohnte dort in der geräumigen Hälfte eines Holzhäuschens mit zwei Fenstern, bei denen außen, anstelle von Fensterläden, jeweils eine flache Eisscholle festgefroren war. … Auf dem Fußboden, in der Ecke, lag ein Haufen Schnee … Am Morgen, wenn ich von meiner Liegestatt aufstand, umfing mich der eisige Frost, der in der Hütte herrschte, durch den das Wasser im Eimer von einer dicken Eisschicht bedeckt war … Einmal musste ich eine besonders schlimme Frostperiode am eigenen Leib erfahren, als mehrere Tage in Folge ununterbrochen ein heftiger Nordwind wehte… Auf dem Dachboden meiner Kate waren Fischernetze mit großen hölzernen Schwimmern gelagert. Während der „Siver“ (Nordwind; Anm. d. Übers.) heulte, schlugen die Schwimmer unaufhörlich aneinander, und dieses klopfende Geräusch erinnerte mich an Griegs Musikstück „Der Totentanz“ … In Plachino lebte ich etwas mehr als zwei Monate … Erst Anfang März schickte mir der Herrgott unerwartet die Erlösung… Wie sich herausstellte, lag im Turuchansker Krankenhaus ein Bauer im Sterben, der dringender Hilfe bedurfte, welche man ihm ohne mich nicht geben konnte. Das war so empörend … die Bauern…, dass sie sich mit Heugabeln, Sensen und Äxten ausgerüstet und beschlossen hatten, ein Pogrom bei der Staatlichen Politischen Verwaltung und dem Dorfrat zu veranstalten. Die Turuchansker Behörden waren dermaßen erschrocken, dass sie unverzüglich zu mir nacvh Pachino einen Boten schickten …“.
Vielleicht stand genau an diesem Ort, zu dem Wasilj uns brachte, auch die Hütte des Geweihten Luka. Die Zeit war für uns stehen geblieben. Zum Ende des Gebets, als Vater Michail das funkelnde Kreuz in die Hände nahm, hörte es auf zu schneien, und durch die Wattedecke des Himmels brach der silbrige Schein der Sonne hindurch.
Unser Begleiter Wasilij war die ganze Zeit mit uns. Er hatte während des Schneefalls mit brennender Kerze dagestanden, die, wie alle anderen auch, bis zum Ende des Gebets nicht erlosch. Wir verabschiedeten uns von ihm in Neu-Plachino. Er nahm mit einem leisen Geständnis von uns Abschied: „Ich kann es nicht aussprechen, aber irgendetwas war da … etwas Unglaubliches. Für mich geschah das in 55 Jahren zum ersten Mal …“.
Und wir hielten Kurs auf Igarka und liefen bei tiefster Nacht, nachdem wir bereits in Richtung Dudinka abgebogen waren, in totaler Finsternis auf eine Sandbank auf. Der Lotse auf der „Wimpel“ hatte versagt …
Während die Mannschaft mit der Reparatur beschäftigt war, fuhr sich unser Schiff am unbekannten Ufer fest. Die Baken, Bojen und Leuchtfeuer auf dem Jenisej betreut und wartet schon niemand mehr, alle Hoffnung liegt auf der Elektronik. Na so etwas … Ich erinnere mich an einen Geistlichen – den orthodoxen Priester Roman aus Rostow-am-Don, der in den Jahren der Repressionen wie durch ein Wunder der Erschießung entging und sich, anderen Dokumenten zufolge, am Jenisej als Bakenwärter niederließ. Nach der Geschichte zu urteilen, die im selten erscheinenden „Moskauer Journal“ veröffentlicht wurde, arbeitete er ungefähr dreißig Jahre lang ganz zurückgezogen auf unserem Fluss … und anscheinend in dieser Gegend. Abend für Abend fuhr er sein Revier ab, das von Krasnojarsk aus etwa vier Tagereisen auf dem Fluss entfernt liegt, und zündete die Kerosinlampen an, die zur rechten Seite des Fahrwassers rot, zur linken – weiß, leuchteten….
Die Mitglieder der Mannschaft bekamen die Schiffsreparatur schließlich in den Griff und fragten mich ganz verwundert, warum ich mich so freuen würde, was denn in Plachino bloß geschehen sei? Mit Vergnügen erzählte ich ihnen von dem bewundernswerten Mann, dem großartigen Chirurgen, der wegen seines Glaubens verfolgt worden war, zum Heiligen wurde, und schließlich durch sein Gebet das Wunder der Heilung vollbracht hätte. Und darüber, dass seit der Zeit seiner Verbannung wohl kaum ein Geistlicher jemals wieder nach Plachino gekommen sei. Und dass sich am allernördlichsten Verbannungsort des Geweihten Luka auch unsere Eminenz Antonij und die griechischen Wallfahrer, die extra im vergangenen Sommer in die Region Krasnojarsk gekommen sind, um die Verbannungsorte zu durchstreifen. Aber Plachino hat bislang niemand erreicht – mit Ausnahme der Norilsker …
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Am 29. Oktober, dem Vorabend des Tages zur Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen, findet ein Gebet auf dem „Norilsker Golgatha“ statt. Mögen unsere Gebete aufrichtig und schöpferisch sein. Vielleicht wird dann in unserer Stadt eine gesegnete Kirche zu Ehren des Geweihten Luka auftauchen, in Potapowo – eine Heilige Iwersker Erlöser Kirche errichtet und in Plachino, an dem Ort, an dem die Abgesandten aus Norilsk gebetet haben, ein heiliges Kreuz aufgestellt, das für alle zum Leuchtturm des Glaubens und der Erinnerung wird …
Irina Danilenko
„Sapoljarnaja Prawda“, 27.10.06
Fotos der Autorin