Erinnerung
Wladimir Augustowitsch Stepun wurde im August 1898 in Riga in einer Adelsfamilie geboren. Seine Eltern, Nachfahren von Deutschen aus dem Baltikum, besaßen eine Papierfabrik (unter der Sowjetmacht – Das Sloksker Zellulose- und Papier-Kombinat). Wladimir Augustowitschs älterer Brüder Fjodor (1884-1965), Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, russischer Schriftsteller, Kunsthistoriker, Literaturkritiker und Philosoph, wurde 1922 per Dekret Lenins aus Sowjetrussland ausgewiesen und lebte bis zu seinem Lebensende in Deutschland.
Über die Kinder- und Jugendzeit von Wladimir Augustowitsch gibt es keine Zeugnisse, es ist lediglich bekannt, dass er eine häusliche, musikalische Klavier-Ausbildung erhielt, in Moskau Opern- und Dramaturgie-Studio absolvierte und zur Truppe des Moskauer Künstler-Akademie-Theaters zählte. Sein Pädagoge im Studio war der große Reformator des russischen Theaters und Volksschauspieler der UdSSR K.S. Stanislawskij. Wladimir Augustowitschs ehefrau war Julia Lwowona Tarassewitsch, die Ehe blieb kinderlos.
Anfang 1947 wurde er auf Anordnung eines Sonderkollegiums des MGB der UdSSR zur
ewigen Verbannung nach Sibirien verurteilt, weil er als „Unzuverlässiger“ galt,
denn sein älterer Bruder Fjodor, den er nie wieder gesehen hatte, lebte im
Ausland.
Wladimir Augistowitsch Stepun geriet nach Bolschaja Murta. Er arbeitete in der
Registratur des Bezirkskrankenhauses und leitete gleichzeitig den
Dramaturgie-Zirkel im Kulturhaus. Bei den ersten Theateraufführungen, die von
ihm im Kulturhaus inszeniert wurden, handelte es sich um die Stücke von A.N.
Ostrowskij: «Die Unglückselige» und «Die schuldlos Schuldigen». Bei diesen
Aufführungen gab es für das Publikum von Bolschaja Murta zwei überraschende
Entdeckungen: Jewgenij Stroganow, der die Rolle des Grigorij Nesnamow spielte,
und Georgij Jakowlewitsch Lobanow als Schmaga. Die Dorfjugend schloss sich
seinem Dramaturgie-Kreis an, und Ende 1947 wurde A.M. Gorkijs Stück «Nacht-Asyl»
aufgeführt, welches einen durchschlagenden Erfolg mit weitreichenden Folgen
erzielte.
In diesem Zeitraum wurde die Kultur- und Aufklärungsabteilung des Bolschemurtinsker Bezirksexekutivkomitees von Vera Maksimowna Jefremowa geleitet. Auf Beschluss der Kulturabteilung des Krasnojarsker Regional-Exekutivkomitees und, offensichtlich, unter Mitwirkung von W.M. Jefremowa, wurde die Aufführung «Nacht-Asyl» den Delegierten der regionalen Partei-Konferenz im Puschkin-Dramaturgie-Theater vorgestellt. Die Aufführung erhielt eine hohe Wertschätzung seitens der Zuschauer, der Regionalbehörden und der Theater-Schauspieler. Mit der Inszenierung «Nacht-Asyl“ durch die Laienschauspieler begann eine Epoche noch nie dagewesener Blüte des kulturellen Lebens in Bolschaja Murta.
Auf Beschluss des regionalen Exekutivkomitees erhielt das Bolschemurtinsker Kulturhaus einen kompletten Satz Instrumente (mehr als dreißig) für ein Blasorchester, Herrenanzüge für die Musiker, einen Satz Kleider für den Frauenchor und eine große Ziehharmonika. Das Kollektiv des Puschkin-Theaters übergab dem dramaturgischen Laien-Kollektiv eine Auswahl an Schauspiel-Requisiten: Schminke, Bärte, Perücken usw.
Wladimir Augustowitsch zeigte sich bei den Inszenierungen der Aufführungen nicht nur als talentierter Regisseur, sondern auch als erfahrener Pädagoge. Er verstand es, den Laienspielkünstler zur vollständigen Offenlegung seiner schauspielerischen Möglichkeiten zu bewegen. Bei der Verteilung der Rollen berücksichtigte er nicht nur die Äußerlichkeiten des Schauspielers, sondern auch die Besonderheiten seines Charakters, um die "Stimmung" jeder Szene, die Glaubwürdigkeit der Figuren und die Authentizität der Erfahrung des Schauspielers zu vermitteln.
In den Folgejahren wurden Aufführungen nach den Stücken von A.N. Ostrowskij «Erst kein Groschen und nun ein Taler», «Wahrheit ist gut, aber Glück ist besser», «Armut ist kein Laster» inszeniert. Auf hohem professionellem Niveau wurden in A.P. Tschechows Stück «Der Bär» die Rollen von Nina Fjodorowna Rufimskaja, einer Deutschlehrerin (die Rolle der Witwe Polowaja), Pjotr Jakowlewitsch Lobanow, Instrukteur beim Bezirkskomitee der Partei (die Rolle des Smirnow) und Jurij Nikolajewitsch Abramenko, Sportlehrer (die Rolle des Dieners Luka) gespielt. Und in der Aufführung «Jubiläum» (A.P. Tschechow) fesselten Jekaterina Jakowlewna Fadejewa Mädchenname Lobanowa), Bibliothekarin des Parteikabinetts (in der Rolle der Bürgerin Mertschutkina), und Schmerling – ein verbannter Hochschullehrer, Kassierer im Friseurladen (in der Rolle eines Bankbediensteten) die Zuschauer. Es waren wahre Meisterwerke der Laienspielkunst! Die Dekorationen zu allen Aufführungen arrangierte der Leiter des Blasorchesters Andrej Wassiljewitsch Maksjuk.
Als Pianist trat Wladimir Augustowitsch auf der Klub-Bühne nur ein einziges Mal auf, als er Michail Iwanowitsch Spiridonow beim Spielen des «Slawischen Tanzes ¹ 2» von Anton Dvorak begleitete. Es handelt sich um ein bemerkenswertes Musikstück, das in der Ausdruckskraft der einzelnen Takte sehr komplex ist. Der einzige Grund, warum er sich nicht ans Klavier setzte, war, dass er an einem Rückenleiden litt.
Eine der letzten Aufführungen Wladimir Augustowitschs war die «Heirat mit Mitgift», bei der die Hauptrollen von Ludmila Ryschkowa, Mitarbeiterin einer Behörde in Murta, und Anatolij Tjurmoresow – Normsachbearbeiter der geologischen Erkundungsexpedition, gespielt wurden. Und hier die Bilanz der Tätigkeiten von W.A. Stepun als Regisseur und Pädagoge: Ludmila Ryschkowa wurde durch einen Wettbewerb in die Truppe des Minussinsker Theaters aufgenommen und wurde professionelle Schauspielerin, und Georgij Jakowkewitsch Lobanow, Normierer bei der Fahrzeugkolonne 1340, bekam in den 60-er Jahren per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR den Ehrentitel «Volkskünstler des Volkstheaters» verliehen.
1954 wurde allen Verbannten eine Urlaubsreise in die Heimat gestattet, und auch Wladimir Augustowitsch reiste nach Moskau und wurde dort vollständig rehabilitiert. Er schrieb und veröffentlichte zwei Bücher mit seinen Erinnerungen. Im Frühjahr 1964 unternahm er den Versuch, Murta zu besuchen, konnte jedoch nicht weiter als bis nach Krasnojarsk kommen – seine Wirbelsäulenerkrankung ließ dies nicht zu. In Moskau wohnte er in der Siwzew Braschek-Straße, und unsere Dorfbewohner, die ihn gut kannten, besuchten ihn dort gelegentlich. Wladimir Augustowitsch starb 1974.
„NEUE ZEIT“, ¹ 107-108, 22-23.12.2006.