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Das Schicksal eines Landes – sein eigenes Schicksal

Ôðèäðèõ Ôèëèïïîâè÷ Ëåéñëå (1918—1980)Ich habe eine schwere Aufgabe auf mich genommen: ich will eine kleine Erzählung über das Leben meines Großvaters schreiben. Das Problem besteht nur darin, daß ich ihn nie gesehen habe. Er starb vier Jahre vor meiner Geburt, aber es scheint, als ob ich beinahe alles über sein Leben weiß. Es ist wie ein Mosaik, welches sich durch Berichte meiner Großmutter, meines Vaters und anderer Verwandter, durch zahlreiche Fotografien und Dokumente, zusammengefügt hat. Ich empfinde ein eigenartiges Gefühl – es ist, als ob er mich in meiner Kindheit auf seinen Knien gewiegt und mir Märchen erzählt hätte, als ob wir zusammen in dem kleinen Wäldchen in der Nähe des Hauses spazierengegangen wären. Ein Gefühl der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit verbindet mich mit dem Großvater. Ich bin stolz auf ihn, stolz auf den Nachnamen, den er an mich weitergegeben hat.

Das Schicksal des Großvaters ähnelt in vielerlei Hinsicht den allgemeinen Schicksalen seiner Generation. Er wurde 1918 an der Wolga geboren, als gerade in grausamer Weise der Bürgerkrieg tobte. Er erlebte auch die Ängste und Schrecken der 1930er Jahre, die unheilvollen 1940er Kriegsjahre, die Hoffnungen der 1960er, die Stagnation in den 1970er Jahren. Sein Leben – das ist die Tragödie eines Menschen, der es aufgrund äußerer Umstände  nicht vermochte den Weg zu gehen, den er gern gegangen wäre.

Mein Großvater hieß Friedrich Filippowitsch Leisle. Einige Worte über unsere Familie. Wir stammen von der Wolga. Der erste Leisle kam, wie Kirchenaufzeichnungen besagen, im Jahre 1774 nach Rußland. Er hieß, genau wie die Großvater, Friedrich, und er war damals 16 Jahre alt. Zu der Zeit regierte Katharina die II, die Große. All seine Nachfahren waren Ackerbauern, die nur selten die Ufer der Wolga verließen. Man weiß, daß einer meiner Vorfahren – Georg -  am Krimkrieg teilnahm, und mein Urgroßvater war ein gewöhnlicher Infanterist im I. Weltkrieg. Der Bürgerkrieg trieb dann die Familie in alle Welt auseinander. Ein Teil wanderte gleich nach der berühmten Hungersnot im Wolgagebiet in die USA und nach Kanada aus. Großvater wurde in dem Dorf Issenburg geboren; sein Vater war der Bauer Filipp Georg Leisle, der sich sein Geld mit Tischlerarbeiten verdiente. Er war ein außergewöhnlicher Meister seines Fachs; ich fand noch Gegenstände vor, die er selber angefertigt hat:  ein Wäscheschränkchen, Büchergestelle, Blumenständer, ein Bufett. Er hatte eine große Familie, die stets fleißig arbeitete, aber dennoch erhielten all seine Kinder auch eine gute Ausbildung. Der Großvater absolvierte die Zeihn-Klassen-Schule. Sein Berufsleben begann er als technischer Sekretär bei der Bezirkszeitung, anschließend wurde er Instrukteur beim Bezirkskomitee der Komsomolzen, von wo aus man ihn dann auch zum Studium an die militärpolitische Fachschule   der Region schickte. Dort absolvierte er zwei Jahre lang Ausbildungskurse. Der Großvater äußerte sich mit großem Respekt über die Fachschule und sagte dem Vater, daß diese beiden Jahre aus ihm einen gutem Soldaten gemacht hätten. Schießübungen, Fußmärsche über 50 Kilometer durch die heißen Wolga-Steppen, zwei Heringe und eine Flasche Wasser pro Tag – diese ungeheure körperliche Anstrengung und Belastung halfen ihm in den ersten, den dramatischsten, Monaten des Krieges. Für das größte Lob in seinem Seminarleben hält er den Eintrag in seiner persönlichen Akte. In der Spalte „Physische Vorbereitung“ stand geschrieben „ausdauernd und zäh wie ein Hund“, worauf er sehr stolz war. Im Sommer 1940 wurde er im Range eines Unter-Politführers entlassen und trat seinen Militärdienst im Baltikum, in der Stadt Riga, an. Am Abend vorher heiratete er meine Großmutter, die mit Mädchennamen Amalie Post hieß, Tochter eines Müllers aus einem Dorf mit der hübschen Bezeichnung Blumenfeld.

Der Krieg begann für den Großvater im Juli 1941. Bald darauf bekam er eine andere Position: aus dem politischen Mitarbeiter wurde ein Truppenoffizier und Kompaniekommandeur. Im Verlauf der Kämpfe mußte er von Riga bis nach Leningrad zurückweichen. Bis Oktober 1942 verteidigte der Großvater Leningrad, und überlebte den schrecklichen Winter 1941-1942. Den Preis für Brot kannte er sehr gut wie kein anderer. Sein Truppenteil kämpfte unweit des berühmten „Newa-Schweinerüssels“ (Brückenkopf der Newa; Anm. d. Übers.). 1942 bekam der Großvater den Rang eines Hauptmanns verliehen und erhielt seine erste Auszeichnung – die Tapferkeitsmedaille. 1943 kam die Medaille „Für die Verteidigung Leningrads“ hinzu. Danach beginnt das große, dramatische Schicksal, das alle „Rußland-Deutschen“ ereilte.

Im Oktober 1942 werden sie auf Befehl Stalins aus den Reihen der Roten Armee entlassen. Allerdings ist es sehr merkwürdig, daß sie den Großvater erst im April 1944 zur Reserve abberiefen. 1943 befindet er sich an der Wolchowsker Front in der politischen Abteilung der 8. Armee, einer Abteilung, die Propaganda für die feindlichen Truppen macht. Es war eine gefährliche und äußerst schwierige Arbeit. Man mußte sich mit vom Feind erbeuteten Dokumenten und Kriegsgefangenen befassen. Das wichtigste Material für ihre Propaganda schöpften sie aus Briefen gefallener deutscher Soldaten.  Zitate daraus wurden den gegnerischen Truppen vorgelesen. Mitunter schaltete man einfach nur Musik ein, vorwiegend klassische, aber der Großvater konnte kein Gefallen daran finden. In der Regel begann alles am frühen Morgen. Ein Fahrzeug mit speziellen Apparaten kam zu irgendeinem Frontabschnitt gefahren. Soldaten brachten Lautsprecher in der Nähe des neutralen Streifens an. Dann begann eine Rundfunk-Übertragung in deutscher Sprache. Eine Minute nach 10 eröffneten die Faschistenh das Granatwerferfeuer mit dem Ziel, die Radiosendung an Lautstärke zu übertönen. Es war nur gut, wenn dieser Vorgang mit der Vernichtung der Technik endete, manchmal ging es schlimmer aus.

Bei einer dieser Vorstellungen geriet ein feindliches Geschoß in den Unterstand, in dem sich der Großvater befand. Erst eine Woche später kam er wieder zu Bewußtsein, etliche Wochen lag er danach noch im Hospital – er war schwer verwundet worden und mußte als Folgeerscheinung eine Brille tragen.

Später verschlug ihn das Schicksal nach Ukjanowski, and ie erste Panzerfachschule; anschließend uneterrichtete er an der Spionageschule. Er brachte seinen Schülern bei, wie man einen Kampf vorbereitete und wie die Satzung der Deutschen Wehrmacht aussah, aber diese Phase dauerte nicht sehr lange. Irgendjemand denunzierte ihn in schriftlicher Form, es folgte eine eingehende Untersuchung , und schließlich endete alles ohne ernsthafte Konsequenzen. Es war zwar ein Befehl Stalins verletzt worden, aber trotzdem diente der Großvater noch weitere zwei Jahre auf unterschiedlichen Posten in der Roten Armee. 1944 wurde er zu den Reservesoldaten entlassen, und er fuhr in die Ortschaft Beresowskoje, Region Krasnojarsk, wohin fast sämtliche seiner Angehörigen verschleppt worden waren. Die anderen hatten nicht so viel Glück: wer älter als 14 Jahre war, wurde in die Arbeitsarmee geschickt. Es gelang nicht allen zu überleben und sich später mit ihren Familien wiederzuvereinigen.


Friedrich Filippowitsch Leisle, Amalia Jegorowna, Sohn Eduard, die Töchter Albinea un Valentina

In der Ortschaft Beresowskoje beginnt der Großvater sein ziviles Leben. Hier bietet man ihm den Posten des Oberbuchhalters in der Butterfabrik an. Aus den Erzählungen des Vaters weiß ich, daß der Großvater nicht gern über den Krieg sprach, sich keine Kriegsfilme anschaute, aber es gefiel ihm, die Memoiren von Herrführern und, wie er selber sagte, ernsthaften Schriftstellern zu lesen: Simonow, Tschakowskij – besonders sein Buch „Die Blockade“. Der Großvater liebte und verhrte die Leningrader, und diese Liebe gab er auch an meinen Vater und mich weiter, obwohl wir nie in der Stadt an der Newa weilten.

Nach Berichten der Verwandten war der Großvater ein aktiver Mann, der sich ganz auf seine Arbeit konzentrierte. Anfang der 1960er Jahre gelangten die Chruschtschowschen Reformen auch bis nach Beresowskoje vor: es kam zu einer Zusammenlegung der Kolchosen, das Brachland wurde umgepflügt. So entstand in der Ortschaft Beresowskoje aus zwei Kolchosen sowie den Kolchosen der umliegenden Dörfer die Sowchose „Avantgarde“. Ihr erster Direktor wurde Iwan Nikolajewitsch Beregowoj. Er schlug meinen Großvater für das Amt des Ober-Buchhalters vor. Nach einiger Zeit wurde die Sowchose „Avantgarde“ zur führenden Wirtschaft im Nasarowsker Bezirki, zund genau deswegen schlugt man 1967 I.N. Beregowoj und meinem Großvater vor, einer neuen Wirtschaft voranzustehen – der Getreide-Sowchose „Altatskij“. Sie gelangte bald darauf zur vollen Blüte. Der Großvater war dort bis ans Ende seiner Tage beschäftigt. In unserem Dorf erinnert man sich an ihn mit großer Achtung, denn er war ein äußerst guter, verständnisvoller, ordentlicher Mann.

Was bleibt nach dem Tode eines Menschen? Die Erinnerung. Und sie ist umso stärker, je eindrucksvoller das Leben war. Das Leben des Großvaters verlief in mancherlei Hinsicht dramatisch. Ist es trotzdem ein gelungenes Leben? Im Wesentlichen – ja. Er war ein angesehener, auf seinem Arbeitsgebiet ausgesprochen professioneller Mann. Er hat seine Kinder wunderbar erzogen, hat ihnen allen eine höhere Bildung ermöglicht. Wir alle, seine Kinder und Enkel, werden seinen Nachnamen mit Stolz weiter tragen.

Veronika Leisle, Ortschaft Nowoaltatka

Meine geliebte kleine Heimat, Bezirk Scharypowo, Krasnojarsk 2006 


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