Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Ich kenne kein anderes Land wie dieses

Von Mai bis Juli 2003 absolvierte Viktoria Mironowa ihr Praktikum am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität in Köln. Die Reise dorthin fand im Rahmen des Programms „Unterstützung junger Wissenschaftler“ der Heinrich-Böll-Stiftung statt. Der Autor bringt seine große Dankbarkeit gegenüber den Mitarbeitern des Fonds, Professor Bernd Bonwitsch und Herrn Anton Bertsch, zum Ausdruck,  die bei der Organisierung von Begegnungen mit ehemaligen GULAG-Häftlingen behilflich waren.

Weit ist das Land meiner Heimat,
Viele Gefängnisse und Lager gibt es dort,
Ich kenne kein anderes Land wie dieses,
In dem die Menschen so gepeinigt werden …

Der Deutsche Gerd Utech singt beinahe akzentfrei auf Russisch, wenngleich er selber sagt, daß er angefangen hat, diese Sprache zu vergessen – so viele Jahre sind seitdem vergangen.

Sein Kamerad Harald König gesteht, daß es ihm sehr schwer fällt, ohne Ausdrücke auszukommen, die man in keinem Lexikon findet, denn seine „Universität des Lebens“ war nicht die fremde Sprache selbst, sondern vielmehr das Leben in den Lagern des GULAG.

„Du bist ein Terrorist“, scherzt König.

„Nein, du bist ein Terrorist und Spion und ich – Konterrevolutionär“.

Wir sitzen in einem Straßen-Café im Süden Bayerns. Unmittelbar hinter den Bäumen – die Alpen, die sogar tagsüber von dunklen Wolken verhangen sind. Meine Gesprächspartner sind schon um die achtzig Jahre alt, und sie waren jünger als ich jetzt, als sie auf  ungesetzliche Weise und ohne ihren freien Willen nach Rußland gerieten.

Gerd Utech wurde im Januar 1952 nach § 58-6 (Mitgliedschaft in einer konterrevolutionärern Organisation)  und § 58-11 des Strafgesetzes der RSFSR (Kampf gegen die Revolutionsbewegung) zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Harald König  verurteilten sie 1949, ebenfalls für ein Vierteljahrhundert, nach den §§ 58-8 (Organisierung von Terrorakten) und 58-10 (Spionage).  Beide erlangten erst 1955 ihre Freiheit wieder.

Diese beiden Deutschen waren keine Kriegsgefangenen; sie gerieten „ganz einfach“ unter die Zahl der jungen Sklavenarbeiter, die nicht selten aufgrund gefälschter Akten und Gerichtsverfahren in verschiedenen Ländern Europas und  in Asien verhaftet wurden -  dort, wo sich die Rote Armee aufhielt und hinter ihnen die SMERSCH (Organisation für Gegenspionage  des  Volkskommissariats für  Verteidigung  der UdSSR) und das  MWD Ministerium für innere Angelegenheiten).  Diese jungen, gesunden Arbeitskräfte stockten  das GULAG-Kontingent auf, und so bauten sie in einem fremden Land, hinter Stacheldrahtzäunen, das „neue Leben“ auf.

„Ich war gerade auf dem Weg zur Hausverwaltung“, - erinnert sich Harald König, - „als  mich Vertreter der Volksmiliz der Deutschen Demokratischen Republik festnahmen. Im Verlauf weniger Tage wurde ich anschließend  im MWD-Gebäude pausenlos verhört. Danach  brachten sie mich nach Potsdam, wo die Vernehmungen weitergeführt wurden. Schließlich führten sie mich in einen großen Saal – das Militärgericht. Einen Dolmetscher hatten sie dort nicht, alle sprachen ausschließlich Russisch. Das Einzige, was ich verstand, klang wie die Zahl 25. Ich meinte, sie hätten sich im Datum geirrt und heute wäre bereits der 25. Dezember, aber es stellte sich heraus, daß es sich hierbei um meine HAFTDAUER handelte.

Die Sammelstelle, Stolypinwaggons, in denen auf einem einzigen Quadratmeter jeweils drei Mann untergebracht waren, Durchgangsgefängnisse – der 1. Mai 1950. König kam nach Tajschet. Sein erster Bestimmungsort war die 19. Lageraußenstelle des Sonderlagers N° 7 – eines riesigen, sich über hunderte von Kilometern hinziehenden Gebiets, dessen Bevölkerung aus bis zu 37.000 Menschen bestand.

Darüber, wie die Leute im OserLag gelebt haben, ist bislang schon einiges geschrieben worden. Dennoch sind die ehemaligen Lagermitarbeiter bis heute der Meinung, daß die Häftlinge „die Lager-Realität in unverdienter Weise schlechtmachen“. Mögen diese Worte in ihrem Gewissen haftenbleiben, denn sogar die damals eigenhändig verfaßten Dokumente beweisen genau das Gegenteil.  Wie beispielsweise die „Aktennotiz über die Durchführung der Kultur- und Erziehungsarbeit unter den Gefangenen des Sonderlagers N° 7, das dem MWD der UdSSR unterstellt war, im 2. Halbjahr 1949 (Staatsarchiv der Russischen Föderatrion, Fond 9414, Verz. 1, Akte 1562, Blatt 141):

Die materielle Alltagslage des Häftlingskontingents ist unbefriedigend.

a)      das Kontingent lebt auf engstem Raum zusammen, der einem Häftling zur Verfügung stehende Lebensraum beträgt genau 1,09 Quadratmeter;

b)      das Kontingent ist mit Bettzeug in äußerst unzureichendem Maße versorgt. Die Häftlinge schlafen auf nackten Pritschen, denn die Matratzen sind nicht ausgestopft, und nur 50% der Gefangenen haben Decken zugeteilt bekommen;

c)      Winterkleidung ist für das Kontingent sichergestellt: Wattejacken und –hosen  zu 70%, Filzstiefel mit Ledersohlen zu 30%, Handschuhe zu 10%, und 60-70% tragen Leibwäsche…..“

„Ich  kann  mich noch erinnern, wie im Dezember 1954 ein großer Häftlingsaufstand  in der 43. Lageraußenstelle stattfand, wo ich zu jener Zeit einsaß,“ – erzählt Gerd Utech, - „es herrschte furchtbarer Frost, und es gab keine geeignete Kleidung. Besonders zu leiden  hatten diejenigen, die keine Handschuhe trugen.  Es gab so gut wie keine freien Tage, selbst an den Sonntagen zwangen sie uns, auf dem Lagerterritorium denSchnee zu räumen oder erfanden irgendwelche anderen Arbeiten innerhalb der Lagerzone. Und wenn sie einem gelegentlich ein Minütchen Freizeit gewährten, versuchte ich immer Russisch zu lernen – ich saß auf meiner Pritsche und übte die Buchstaben schreiben. Schreibuntensilien durften wir nicht besitzen, aber da ich auf der Baustelle als Maurer tätig war, brachte ich es fertig, das Innere der Zementsäcke herauszureißen und mit ins Lager zu bringen. Das größte Problem stellte das Anspitzen des irgendwo heimlich aufgetriebenen Bleistiftstummels dar. Dazu fertigte ich, ebenfalls heimlich, kleine Rasierklingen aus den Bruchstücken von Laubsägeblättern an.

Erst nach Stalins Tod konnten wir Briefe und Pakete über das Rote Kreuz erhalten; bis zu dem Zeitpunkt hatte es keinerlei Verbindungen nach Hause, keine Päckchen gegeben. Als die Bürger der UdSSR schließlich von ihren Verwandten  Lebensmittel erhielten, suchten sie nach Möglichkeiten, wenigstens ein paar Dinge für sich einzutauschen. Ich sammelte besipielsweise auf dem Bau herumliegtende Werkzeug-Überzüge auf , nähte daraus „Organizer“, in denen die Häftlinge Briefe aufbewahren konnten, die sie von Zuhause erhalten hatten. Wenn es in der Kleidung ein Loch gab, bekam man aus dem Materiallager kurzfristig eine Nähnadel zur Verfügung gestellt – und  genau die benutzte ich dann zum Zusammennähen der Mappen, wobei ich Ziehfäden aus meiner abgewetzten Wattejacke zuhilfe nahm.

„Ich stellte eine Form her, in der ich auf Bestellung Löffel aus einem Metallersatzstoff zurechtschmolz, fügt Harald König hinzu, - und als wir dann endlich Pakete über das Rote Kreut bekommen durften, baute ich aus Konservendosen Verstärker – die Konstruktion hatte ich mir selber ausgedacht. Der Rundfunkempfänger war wohl die einzige Freude im Lager. An die sowjetische Hymne kann ich mich bis heute erinnern. Ganz besonders mochte ich die russischen Lieder „Berühmtes Meer, heiliger Baikal“, „Mütterchen Wolga flußabwärts“ ….

Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen und verabschiedeten uns erst in Gerd Utechs Haus. Bevor der verwegene Rennfahrer in sein Grafrath davonjagte,  meinte Harald König leise zu mir: „Hilf mir bitte, irgendetwas über meinen russischen Freund Boris Kirillow herauszufinden. Und wenn du kannst, dann schick‘ mir auch diese Lieder“.

Die CDs schickte ich ihm zwei Wochen später aus Moskau. Die Suche nach dem Freund braucht selbstverständlich viel mehr Zeit.  Ich möchte sehr gern wenigstens eine Kleinigkeit für diese Leute tun, die es verstanden haben, warme, gute Beziehungen zu dem Land zu hegen, in denen sie so viel zu leiden hatten.

Sie denken oft an die UdSSR zurück. Hans-Jochen Kochheim, ebenfalls ehemaliger GULAG-Häftling, unternahm sogar im Mai 1998 eine Reise in die Region Irkutsk, besuchte dort die Orte Tajschet und Bratsk. Was hatte ihn dorthin gezogen? Es war nicht gerade sein Traum sich dort aufzuhalten, wo er sich sechs lange Jahre herumgequält hatte (laut Urteil hätten es sogar 25 sein sollen!), aber dennoch hatte er den Wunsch gehegt, dorthin zurückzukehren, wo er seine Jugend, seine besten Jahre hatte verbringen müssen. Die Tragödie bestand  darin, daßes für den erst zwanzigjährigen Hans-Jochen ein- und dieselben Orte waren – man vergißt sie nicht und kann sie aus dem Leben nie wieder streichen.

Wir sprachen mit Hans-Jochen Kochheim am Telefon. Wenn andere ehemalige deutsche GULAG-Häftlinge unsere Sprache gut können, so kann er sie – wirklich glänzend.

„Und dabei konnte ich kein einziges Wort verstehen, als ich im Lager ankam. Zu lesen begann ich zwei-drei Jahre später, und das erste Buch aus der Lagerbibliothek ist mir noch gut in Erinnerung; es hat mir damals sehr gefallen – „Wie der Stahl weich wurde“ von N. Ostrowskij. Später mochte ich Turgenjew am liebsten. Das ist auch heute noch mein liebster russischer Klassiker.

Mit dem Thema meiner Forschungsarbeit „Die Kultur- und Erziehungsarbeit in den GULAG-Lagern“ verhält es sich so, daß wir in erster Linie die Aktivitäten des Propaganda-Apparates im Lager erörtern und damit verbunden – alle Bereiche, die von den Kultur- und Erziehungsabteilungen und – Sektionen kontrolliert wurden. Wieviele Male schon haben die Erinnerungen der Häftlinge absolut nicht mit den offiziellen Rechenschaftsberichten zusammengepaßt, die angefüllt sind mit gefälschten Listen über im Lager durchgeführte Maßnahmen und Veranstaltungen.

„In den Lagerpunkten, in denen ich einsaß, gab es überhaupt keine politischen Informationen und Gespräche, es gab keine Kontrollen, keine Wandzeitungen“.

Dasselbe sagten auch andere Deutsche, wie beispielsweise Harald König, aus.

„Als wir bereits nach Deutschland zurückgekehrt waren, sagte man uns: „Ihr habt eine antifaschistische Erziehung durchlaufen“. Was denn für eine Erziehung!? Wenn ihr wüßtet, wie wir gelitten haben. Es fand gar keine Kultur- und Erziehungsarbeit statt, es gab gar keine Inspektoren irgendwelcher Kultur- und Erziehungsabteilungen. Gar nichts gab es da, außer Hunger und Kälte“.

„Die offiziellen Rechenschaftsberichte – alles nur Bluff. Wie sagten sie in Rußland? „Papier ist geduldig“. Der äußerst intelligente Karl-Heinz Langhagen  kann bis heute nicht umhin, sich über unsere allgegenwärtige Augenwischerei zu wundern.
 

„Herr Langhagen, wieso „sagten“? Dieses Sprichwort ist doch auch heute noch  lebendig.

Ja? Na, da im Lager wurde auch nach Strich und Faden betrogen, aber hauptsächlich, um zu überleben. So tauchten zum  Beispiel am 19. Lagerpunkt des OserLag nach Stalins Tod ein „Rotes „ und ein „Schwarzes Brett“ auf.  Darauf wurden die Familiennamen derjenigen vermerkt, die die Norm entweder übererfüllten oder sie, im Gegenteil, nicht schafften. Aber all das war nur fiktiv. Unser Brigadeführer, ebenfalls ein Deutscher,  schrieb all denen einen größeren Prozentsatz in Bezug auf die geschaffte Arbeitsnorm zu, die von Zuhause keine Pakete erhielten, damit sie  auf diese Weise wenigstens eine Zusatzration bekamen. Unabhängig von ihrer tatsächlich geleisteten Arbeit wurden diese Leute dann zu „Bestarbeitern der Produktion“ und kamen ans „Rote Brett“.

Als ich bei Karl-Heint Langhagen in Celle zu Besuch war, studierte ich sein Privatarchiv –einen umfangreichen Ordner voll von Dokumenten, die sich auf die Jahre 1949-1955 bezogen. Und wieder stieß ich darin auf bekannte Namen und Bezeichnungen: Tajschet, Ansjowa, Wichorewka. Und noch eine schreckliche, ungerechte Geschichte.

Nach der Teilung Deutschlands geriet der Sohn in den Westen, die Eltern in den Osten; er fuhr dorthin, um die beiden zu sich zu holen. Die Sachen waren bereits gepackt, als Karl-Heinz auf die Straße hinaustrat, um irgendein Transportmittel ausfindig zu machen  und -  „verschwand spurlos“. Das heißt, er wurde verhaftet und nach den §§ 58-6 und 58-10 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die erste Nachricht über den Verbleib des Sohnes erhielt die Mutter erst im Jahre 1953, als  einige Angehörige anderer Staaten aus den Lagern der UdSSR entlassen wurden und Informationen über ihre Landsleute in den Westen durchsickerten.

„Meine Mutter erzählte, daß sich mich ein Jahr nach meiner Verhaftung im Traum gesehen hätte. Sie streckte die Hand aus, wollte mich umarmen, aber ich wandte mich ab und sagte: „Du mußt fünf Jahre warten“. Sie glaubte fest, daß ich am Leben war und wir uns wiedersehen würden.

Später, als ich dann über das Rote Kreuz Briefe und Paketsendungen von  Zuhause erhielt, führte Mama ein Tagebuch, in das sie all meine Wünsche eintrug, und auch alles, was sie schon geschickt hatte und was sie noch besorgen mußte.  So überprüften wir auch, ob unsere Verwandten den nächsten Brief bekommen hatten: wenn ein Paket mit Sachen eintraf, um die wir gebeten hatten – dann bedeutete dies, daß der Brief angekommen war. Doch es kam auch vor, daß Briefe verlorengingen oder nicht durch die Zensur kamen“.

Karl-Heinz Langhagen bewahrt immer noch sorgsam  die vergilbte Zeitung mit der langen Liste auf, die sich aus hunderten von Namen deutscher Familien zusammensetzt, welche im Herbst 1955 in die Heimat zurückkehrten. Sie alle wurden als ungesetzlich Verurteilte anerkannt und hatten zwischen 2 und 10 Jahren in Lagern der UdSSR verbracht.  Und danach hatten sie ihnen dann auch  noch vorgeschlagen, in die DDER zu fahren – um dort den Aufbau des „neuen Lebens“ fortzuführen“!

 „Vor der Abfahrt in die Heimat wurden wir vernünftig eingekleidet – sie nahmen uns die Lumpen weg und gaben neue gesteppte Jacken und Hosen aus. Der dortige Intendant suchte mir, meiner Größe entsprechend,  ein Paar guter Schnürschuhe aus, aber als er erfuhr, daß ich in die BRD zurückkehrte, nahm er sie mir sogleich wieder weg und steckte mir stattdessen Rentierstiefel zu“ – selbst Gerd Utech mußte lächeln, als er mir diese Geschichte erzählte.

Natürlich kommt einem heute manches, was sich damals ereignet hat, einfach nur komisch und absurd vor, aber  es gehört schon eine Menge Mut dazu, diese riesengroße persönliche Tragödie so anzunehmen. Diese Menschen wurden zu Sklaven, und wenn nicht irgendwann der Tyrann gestorben wäre, dann hätten sie in dieser Sklaverei nicht nur ein Dutzend Jahre verbracht. Es gab nichts, woran man ihnen irgendeine Schuld hätte zu weisen können.

Einmal sagte ein sehr bekannter und geachteter Journalist, der die Hitler-Okkupation miterlebt hatte, daß man  selbst soviele Jahre danach niemanden Deutsch sprechen hörte. Die ehemaligen GULAG-Gefangenen geben nicht dem gesamten Volk, Rußland und der russischen Sprache die Schuld an ihrem Unglück. Und trotzdem mochte ich sie nicht direkt fragen, ob sie UNS verziehen hatten.

Viktoria Mironowa

Taiga N° 5, 2006 


Zum Seitenanfang