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Ein Altersgenosse des Bezirks

Die dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben tausende von Schicksalen verstümmelt, den Menschen die Heimat genommen, welche Sibirien ihnen ersetzen sollte. Und der raue, unfreundliche Flecken Erde bekundete ihnen gegenüber mehr Barmherzigkeit, als die Behörden. Verbannte Finnen, Letten. Georgier gaben selbstlos ihre Jugend und Gesundheit her – zum Wohle der zweiten, ihnen nicht vertrauten Heimat.

1938 wurde Iwan Matwejewitsch Kajawa, Oberhaupt einer großen finnischen Familie, der im Gebiet Leningrad wohnte, verhaftet. Die Familie des „Volksfeindes“ wurde in die Region Krasnojarsk verschleppt. Nachdem sie sich für immer vom Vater, von dem großen, neuen Haus, vom heimischen Klima und der gewohnten Lebensweise verabschiedet hatten, wurden die fünf Kinder sowie Iwan Matwejewitschs Frau in Aptjugino, im Bogutschaner Bezirk, angesiedelt. Nachdem sie zuvor die lange Reise bewältigt hatten, versuchten sie dort, sich von irgendetwas zu ernähren, aber manchmal gelang es ihnen nicht.

- Von der Station Jenisej aus verluden sie unsere große Menschengruppe auf einen Lastkahn, - erzählt Semjon Iwanowitsch Kajawa. – Ausgesetzt wurden wir allerdings auf einer Insel in der Niederung des Jenisej. Ich kann mich schon nicht mehr erinnern, wie viel Tage oder vielleicht auch Wochen wir dort blieben: ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Nahrungsmittel. Nur gut, dass es wenigstens am Fluss war. Mit großem Geschick fingen wir Fische. Später kamen Angara-Boote, um uns Abzuholen – es handelte sich ebenfalls um Lastkähne, nur waren sie kleiner.

In Aptjugino begann auch die Arbeitsbiographie des 15-jährigen Semjon, die von Anfang bis Ende mit der Holzbeschaffung in Zusammenhang stand. Wie ein Rasender arbeitete der halbverhungerte Junge in der Holzfällerei, er arbeitete so, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte, nicht in Versuchung kam, bösen Gedanken ihren Lauf zu lassen, sich nicht mit Fragen zu quälen, auf die sowieso niemand eine Antwort geben konnte. Weswegen, aus welchem Grunde wurde diese fleißige Familie, die an keinerlei politischen Verschwörungen teilgenommen hatte, aus ihrer teuren, dem Herzen so vertrauten Heimat herausgerissen, den Kindern die elterliche Zärtlichkeit entzogen?

- Die Baracke, in der wir uns niederlassen mussten, war eine gewöhnliche Scheune. In jeder ihrer vier Ecken war eine andere Familie untergebracht. Es fällt sehr schwer sich daran zu erinnern, wie viele Unbequemlichkeiten das mit sich brachte, wie eingeengt wir waren, besonders die Frauen. Aber wer kümmerte sich schon darum?

1946 wurde, 7 km von Mansa entfernt, eine Holzstützpunkt errichtet. Nachdem man auf dem Flussweg Baumaterial herangeschafft und daraus eine Art kleiner Häuschen zurechtgezimmert hatte, brachte man die Leute darin unter. Der neue Ort wurde Kaulez genannt. Dorthin wurde zum Leben und Arbeiten der Flößmeister und Holzbeschaffer Semjon Iwanowitsch geschickt.

- Dort wohnten ausschließlich Verbannte, Lieber Gott – und was für unterschiedliche Nationen dort vertreten waren: Tadschiken, Juden, Deutsche von der Wolga und aus Leningrad, Letten und Litauer, Finnen. Und es gab auch solche, die sich bei den Deutschen in Kriegsgefangenschaft befunden hatten. Offensichtlich hatte man zu ihnen auch kein Vertrauen, - erinnert sich Semjon Iwanowitsch.

- Die Menschen hatten irgendwie einen Knacks wegbekommen, und deswegen gab es mit ihnen am Arbeitsplatz auch keine Schwierigkeiten. Ja – und überhaupt: sie lebten ganz einträchtig miteinander, und es kam niemals zu Skandalen und übermäßigen Trinkereien.

Einen winzigen Laden hatten sie dort. Er war zwar – leer, aber immerhin gab es einen. Auch einen medizinische Betreuungsstelle und eine Schule mit vier Klassen waren vorhanden. Das waren genau solche Baracken. Wenn man in die Bezirksstadt wollte – dann war das ein ziemliches Problem. Es fuhren nur selten Dampferchen vorüber, und Straßen hatte man dort überhaupt nicht gebaut.

Als die Kinder heranwuchsen, versuchten die Leute von Kaulez wegzuziehen. Manche gingen nach Kamenka, dort gab es wenigstens eine 7-Klassen-Schule, andere nach Bogutschany. Die Zahl der Arbeitenden schwankte zwischen 150 und 170.

Irgendwie wurden die Kinder für die Schule vorbereitet. Meine Frau Anna Petrowna und ich bekamen vier Kinder: drei Söhne und eine Tochter. Mein Lohn wurde auf alle aufgeteilt – das machte 20 Rubel aus.

Später wurde dann alles ein wenig leichter. Wir lebten uns dort ein, die Leute zogen ihre eigene Kuh auf, bewirtschafteten ihre Gemüsegärten. 1967 wurde Semjon Iwanowitsch für seine makellose, langjährige Arbeit für eine staatliche Auszeichnung vorgeschlagen.

- Wir waren damals drei, die mit der Bezeichnung Kavalliere des Lenin-Ordens geehrt wurden. Innokentij Kusmitsch Besrukich, Nikolaj Michailowitsch Sosjedow und ich. Zuerst lasen wir das in der Zeitung „Iswestija“, aber später überreichten sie uns dann auch feierlich die Orden.

Ein Jahr vor der Schließung der Holzstation zog Semjon Iwanowitsch mit seiner Familie nach Mansja um. Und 1973 verließen die allerletzten Arbeiter Kaulez.

All die Jahre, in denen Semjon Iwanowitsch in der Region Krasnojarsk lebte, träumte er davon, eines Tages in sein Heimatdorf Kirpol bei Leningrad zurückzukehren, aber dazu kam es nicht. Aber als er schließlich im Ruhestand war, versuchte er alles, um fast jedes Jahr einmal zu Besuch dorthin zu fahren.

Vor vier Jahren starb Semjon Iwanowitschs Ehefrau, er selber ist fast blind. Jetzt wohnt er bei seinem mittleren Sohn Aleksander; sein Leben bedauert er nicht.

- Ich hatte Glück, ich bin 80 Jahre alt geworden. Ich denke, das war möglich, weil unsere ganze Familie immer so einträchtig miteinander gelebt hat. Ein Leben lang haben wir uns stets gegenseitig geholfen und unterstützt. Und nach diesem Prinzip habe ich auch meine Kinder großgezogen.

Am 5. Juni wurde Semjon Iwanowitsch 80 Jahre alt. Wir gratulieren ihm zu diesem runden Geburtstag von ganzem Herzen und wünschen ihm, seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln Gesundheit und Wohlergehen.

J. Maklakowa

„Angara-Wahrheit“, N° 57, 23.06.2007


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