Die Briefe ihres Vaters – des bekannten krasnojarsker Musikers Ananij Jefimowitch Schwarzburg – machte kürzlich seine Tochter Natalia, die jetzt in Israel lebt, der Öffentlichkeit zugängig. Der bemerkenswerte krasnojarsker Musiker Ananij Schwarzburg war ein Mensch, der in allen Dingen Schönheit ausstrahlte.
- Meine Kindheitserinnerungen,- erzählt Natalia Ananjewna über sich, - sind mit dem kleinen sibirischen Städtchen Jenisejsk verbunden, obwohl als Geburtsort das traurig-berühmte Magadan in den Dokumenten eingetragen ist…
„Der Vater aller sibirischen Städte – Jenisejsk – tauchte im Schicksal des begabten Musikers Ananij Schwarzburg nach seiner wiederholten Verhaftung auf, als er mit seiner Ehefrau und der kleinen Tochter in Kutaisi lebte und an der örtlichen Musik-Fachschule unterrichtete. Der Traum von einer Karriere als Pianist, die man Schwarzburg bereits in seiner Jugend, noch in Charbin, vorausgesagt hatte, wo seine Familie in Emigration lebte, wurde jäh zerstört, als er 19 Jahre alt war. Die leichtgläubig in die UdSSR Zurückgekehrten erwartete kein leichtes Los. Ananij Schwarzburg wurde 1938 verhaftet. Um den jungen Mann zu zwingen, ein Geständnis abzulegen, dass er Spionagetätigkeiten ausgeübt, antisowjetische Agitation und ähnliche Untaten betrieben hatte, reichte es aus, ihm die Finger, die Finger eines Musikers, in der Tür zu quetschen… Und damit begannen die „Gastrollen“ des Pianisten auf Häftlingstransporten, in Gefängnissen und in der Verbannung, die erst mit dem Jahr 1954 ein Ende nahmen, ein Jahr nach dem Tod des Führers aller Zeiten und Völker.
Nach der zweiten Verhaftung führte die Reise den Musikanten in die Region Krasnojarsk – an die Angara.
- Hierhin folgte dem Vater dann auch meine Mama mit mir auf den Armen, - erzählt Natalia Ananjewna. – Nach Motygino erschien ihnen Jenisejsk wie das Paradies. Und als Papa, nachdem er Verbannte und die ortsansässige Jugend zusammengetrommelt hatte, auf der Bühne des kleinen Klubs zwei musikalische Werke inszeniert hatte, wurde das zum Ereignis für das kleine, im Schnee versunkene, altertümliche Städtchen, das zu der damaligen Zeit nicht wenige bemerkenswerte Leute beherbergte…
Bis heute erinnert man sich in Jenisejsk der Wissenschaftler, Poeten, Sänger und Musikanten, die auf der Bühne wahre Wunder vollbrachten. Auch heute besitzt diese Stadt ein dramaturgisches Volkstheater, aber damals gab es eine Vorstellung nach der anderen. Und es war auch in Jenisejsk, wo ich den Namen Ananij Jefimowitsch Schwarzburgs zum ersten Mal hörte.
- Wissen Sie, wie viele Personen in dem großen Chor mitsangen, den er leitete? – fragte man mich.
- Vermutlich etwa dreihundert…
Mit diesem wunderbaren Chor aus tausend Stimmen verbinde ich auch die Gestalt des Musikers Schwarzburg, den ich selber nie gesehen hatte. Und dann, dank der Veröffentlichungen seiner Tochter in einer der Ausgaben der „Memorial“-Gesellschaft – „30. Juni“ („30. Oktober“ – Anm. d. Red.), legt er selber Zeugnis ab über sein Leben in der Verbannung, das erstaunlicherweise dicht mit kulturellen Ereignissen angefüllt war. Im Frühjahr 1952 schrieb Ananij Jefimowitsch in einem seiner Briefe: „Der ganze Mai ist mit Vorbereitungen für den Stadtfeiertag des Liedes vergangen, der zweimal verschoben wurde und dann schließlich am 25. Mai stattfand. Da es nicht gelang, e8in Blasorchester zu organisieren, musste ich den städtischen Chor (500 Sänger) mit zahlreichen Kollektiven begleiten und auch selber dirigieren. All das nahm 5-6 Stunden hintereinander in Anspruch, und meine Hände schwollen an diesem Tag buchstäblich an“.
An die gutmütigen Spuren, welche die Verbannten im Leben der Stadt hinterlassen haben, erinnern sich die alt eingesessenen Jenisejsker noch heute. Wie sollte man auch keine Erinnerungen mehr an sie hegen, wenn doch von den bescheidenen Bühnen der Unterhaltungs- und Lehreinrichtungen Musik der höchsten Klasse erscholl. Am 10. Februar 1951 schreibt Ananij Schwarzburg: „Ich habe gestern Abend ein Konzert von Tschaikowski gegeben, das wir an der pädagogischen Fachschule organisiert hatten, - Vorlesungen und Konzerte zu Tschaikowskis Werken. Es wurde ein Referat gehalten. Anschließend wurden kleine Stücke auf dem Klavier gespielt, dann trug eine Sängerin (fast eine echte) Romanzen vor, und schließlich spielte ich ein Konzert in Begleitung meines Kollegen (eines Rigaer Pianisten). Ich will mich nicht zieren und sage offen heraus, dass ich zumindest mit der Tatsache zufrieden bin, dass ich gearbeitet habe, dass ich ein nie zuvor von mir gespieltes Konzert zustande gebracht habe, und damit, dass die Leute zugehört und es angenommen haben. Da unser Saal in der Schule winzig ist, müssen wir, damit alle Schüler dieses Konzert besuchen können, an fünf bis sechs Abenden in Folge eine Wiederholung stattfinden lassen“.
Von einer derart stürmischen Konzert-Aktivität hätte jeder beliebige Pianist nur träumen können, wären diese Gastrollen nicht alle in Unfreiheit zustande gekommen. Aber wenn die Schicksale vor den Augen zerbrechen, wenn das menschliche Leben nichts mehr wert ist, wenn du in den Händen der Herren, die über dein Leben herrschen, nichts weiter bist als Baumaterial, dann ist es auch ungewiss, was dich morgen erwartet, woran du dann verzweifeln wirst. „Egal wie sauer oder süß mein Leben auch ist – man muss das Schicksal anflehen, damit es nur nicht schlechter wird. – schreibt Ananij Schwarzburg Ende 1949. - Ich lebe auch nur mit der Angst vor dem morgigen Tag – das versteht ihr nicht, und versucht es auch gar nicht erst“.
Und hier Zeilen aus einem weiteren Brief, geschrieben im Frühjahr 1950 zu demselben Thema: „ Ihr fragt, was ihr mir schicken sollt? Das Nötigste wären jetzt in Anbetracht des einsetzenden Frühlings und des fürchterlichen Matsches (ihr macht euch keine Vorstellung, was das für ein Schmutz ist), ein paar Gummistiefel, und ohne „Faust“ kann ich jetzt eigentlich ganz gut auskommen“.
Aber was machten uns beliebige Dinge nicht alle für eine Freude! Ein Riesenerfolg entfiel auf die Opern-Aufführung „Mi-Nacht“ des Komponisten N.A. Rimskij-Korsakow. Die Premiere fand im April 1952 auf der Bühne des Kulturhauses statt. Die Dorfjugend, die gekommen war, um an der pädagogischen Fachschule zu studieren, sangen unter der Leitung ihres unermüdlichen Pädagogen Duette und Quartette aus „Eugen Onegin“, und sein Mädchen-Ensemble führte Werke zu sieben (!) Stimmen auf. Die gestrengen Prüfer fingen vor derartigen Errungenschaften auf dem Gebiet des Musikunterrichts an zu zittern. Und trotz des angespannten künstlerischen Schaffens wurden auch noch Gastspiele im gesamten Bezirk organisiert. Ananij Jefimowitsch schreibt über eine solcher Fahrten: „Wir fuhren mit einer vierköpfigen Gruppe (zwei Schauspieler, eine Schauspielerin und halbe Sängerin und ich) in die Bezirkshauptstadt. Diese Fahrten bereiteten mir kolossales Vergnügen… In diesen drei Jahren habe ich nicht mehr so viel gelacht, wie an einem einzigen Gastspieltag, - so viele Abenteuer , Missverständnisse und Albernheiten gab es unterwegs. Auf dem Rückweg blieben wir aufgrund fehlender Transport-Möglichkeiten in einer Siedlung hängen. Wir beschlossen spontan ein Konzert zu geben, wobei wir allerdings im Voraus wussten, dass dies die größte Pfuscherei sein würde, denn es gab dort kein Klavier. Ich trat als … Conferencier auf. Wir spielten Vaudeville (altertümlich – „Die Tochter des russischen Schauspielers“), ohne Musik, aber mit viel Trallala!“
Ich stelle mir vor, wie sehr sich die Siedlungsbewohner über einen solchen „Pfusch“ freuten. Wer würde sie heute mit einer derartigen Vorstellung beglücken?
- Diese Briefe werden bis heute sorgsam in einer Petersburger Familie aufbewahrt, - erzählt Natalia Schwarzburg. – Und in ihren Berichten über die künstlerischen Tätigkeiten des Vaters, die ihn voll in Anspruch nahmen, gibt es darin viel mehr zu lesen, als Klagen über das bittere Schicksal des Verbannten.
Daran, was er für ein schöner (innerlich und äußerlich) Mann war, erinnert sich sein Vetter Lew Tyschkow in dem in den Vereinigten Staaten herausgebrachten Buch „Auf vier Saiten“: „Das Schicksal hat ihn reichlich mit Talenten ausgestattet. Er war ein hervorragender Pianist, Poet, Erzähler, Karikaturist und Improvisator. Alles in allem – schön. Hochgewachsen, schlank, mit einem schwarzen Haarschopf, grau-grünen Augen, weit auseinander gezogen Augenbrauen und feinen, geradlinigen Gesichtszügen. Ganz besonders wirkte auch seine Kleidung an ihm – geschmackvoll, elegant…“
Ja, diesen beneidenswerten Mann der Kunst hatte Jenisejsk, und später Krasnojarsk, dank der Repressionen gewonnen!
Ananij Schwarzburg wurde „aus Mangel an Tatbeständen“ rehabilitiert. Beinahe 20 Jahre arbeitete er danach als künstlerischer Leiter der Krasnojarsker Philharmonie. Man erinnert sich bis heute an Ananij Jefimowitsch. Aber als sich kurz vor seinem Tode führende Moskauer Musiker und Lehrer der Moskauer Philharmonie mit der kollektiven Bitte an den ersten Sekretär des Krasnojarsker Regionskomitees der Partei wandten, die Verdienste dieses unermüdllich schaffenden Funktionärs der Kunst zu feiern, erhielten sie als Antwort nichts als – Schweigen. Und erst 15 Jahre später, nach dem plötzlichen Tod Ananij Schwarzburgs, feierte Krasnojarsk ganz groß seinen 70. Geburtstag mit einem bemerkenswerten Konzert im Kleinen Saal der Philharmonie. Aber lohnt es sich die Nichtbeachtung seitens der Behörden zu beklagen? Schließlich wissen wir doch, dass wahre Auszeichnungen im Leben nicht auf den Fluren der Staatsmacht vergeben werden.
Polina Walewskaja, „Zeitung von heute“, 01.07.2007
Am Flügel – Ananij Jefimowitsch Schwarzburg. Im Hintergrund der Szene sieht
man die Datumsangabe: 1857-1957 und ein Porträt M.I. Glinkas.
Es lässt sich unschwer erraten, dass das Konzert dem 100. Todestag des
Komponisten gewidmet ist.