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Aleksej Babij: „Ich arbeite für Menschen, die vom Staat zu Staub gemacht wurden

Wenn der Vorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“- Gesellschaft, Aleksej Babij, zu Stalins Zeiten gelebt und gearbeitet hätte, dann wäre ihm ein kleines Loch im Hinterkopf von einer Pistolenkugel aufgrund eines entsprechenden Gerichtsbeschlußes sicher gewesen. Urteilen Sie selbst: er versuchte das Schicksal seiner Verwandten zu klären, die seinerzeit vom strafenden, Schwert der Revolution als Zugewanderte aus dem Ausland (Charbin, China) streng bestraft wurden, weil sie angeblich subversive, antisowjetische Taten verübt hatten. Er wurde Mitglied und stand später sogar in der Spitze dieser Nicht-Regierungsorganisation, die sich mit der Suche und Rehabilitation der von Sowjetgerichte angeklagten und zum Tod durch Erschießen oder Verbüßen einer Lagerstrafe verurteilten antisowjetischen Elemente befaßte. Früher gab es in der Organisation etwa 200 Personen, heute sind es noch 18. Er gewährt der von ihm geführten Organisation (mittels elektronischer Datenverarbeitung) technische Unterstützung. Er selbst hat sich nie im Ausland aufgehalten, jedoch hat seine Organisation bis vor kurzem über Geldbeträge in Fremdwährungen verfügt, die aus dem Ausland auf ihr Konto überwiesen wurden (insbesondere aus Deutschland und von der amerikanischen Ford-Stiftung). Er stellt systematisch Anfragen an die KGB-Archive der UdSSR nach Informationen „geheimen“ Charakters; ebensolche Anfragen tauchen auch bei den Strafverfolgungsorganen auf. Ausländische Freunde“ übersetzen diese Informationen in andere Sprachen und verbreiten sie dann im Ausland. Er unterhält Verbindungen zu ähnlich verdächtigen Organisationen auf dem Territorium der gesamten Sowjetunion (Perm, Rjasan, Leningrad, usw.) und auch über die Grenzen des Landes hinaus (Italien, Frankreich, Deutschland) und sogar mit dissidenten Elementen. Seinerzeit verrließ er demonstrativ den Allrussischen Leninistischen Kommunistischen Jugendverband. Er ist gläubiger Christ.

Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß ich einfach nicht das Recht besaß, mir eine Unterhaltung mit so einem Menschen der „Krasnojarsker Komsomolzen“-Organisation, die am 20. Januar 1935 gegründet wurde, entgehen zu lassen.

IGOR KLEBANSKIJ, Foto: Aleksander Paniotow

- Aleksej, wir sprechen eine Woche vor einem ganz schrecklichen Jubiläum in der russischen Geschichte miteinander...

- Ja. Vor 70 Jahren, am 30. Juli 1937, erging der NKWD-Befehl N° 447 über die Durchführung der sogenannten „Kulaken-Operation“ in der UdSSR. Dabei handelte es sich um eine echte militärische Operation mit allen dazugehörenden Attributen – Anweisungen, Truppenverschiebungen, Plänen, Einrichtung von Lagerpunkten, usw. – mit dem einzigen Unterschied, daß sie sich gegen das eigene Volk richtete. Formell zielte die Aktion auf die vollständige Säuberung des Landes von noch nicht zerschlagenen Kulaken (Großbauern; Anm. d. Übers.) ab, aber tatsächlich umfaßte sie sämtliche konterrevolutionären Elemente – ehemalige weiße Offiziere, Adelige, enteignete Großbauern, Geistliche usw. Und es wurden ganz konkrete Pläne aufgestellt, wieviele Personen in jeder Region verhaftet und dann entweder erschossen (1. Kategorie) oder riesige Haftstrafen (2. Kategorie) aufgebrummt bekommen sollten. Schon sehr bald waren diese Quoten erfüllt, und bereits im Herbst 1937 beantragten die Tschekisten vorort beim, wie wir heute sagen „Föderativen Zentrum“ die Heraufsetzung des Plansolls für Erschießungen und Inhaftierungen. Es existiert ein von Stalin prsönlich unterschriebener Brief, in dem die Region Krasnojarsk die Erlaubnis erhält, die Höchstgrenze für die 1. Kategorie auf 6600 Personen heraufzusetzen (anfangs waren 750 Menschen für die Erschießung vorgesehen). Später wurden die Limits noch mehrfach heraufgesetzt...

Im großen und ganzen hat unser „Memorial“ anhand der Statistik für unsere Region die Schlußfolgerung gezogen, daß 12600 Personen nach Plan, insgesamt jedoch etwa 18000 plus 1000 Kriminelle den Tod durch Erschießen fanden. Und das sind nur die von den „Trojkas“ im beschleunigten Verfahren abgehandelten Fälle. Zusätzlich arbeiteten noch ganz separat Richter und Staatsanwälte, die ebenfalls das Recht hatten, Erschießungsurteile auszusprechen.

- Du stehst in der vordersten Front im Kampf gegen die stalinistischen Verbrechen ...

- Stop! Laß uns für den Anfang nicht solche Termini benutzen. Wir, „Memorial“, sind überhaupt keine Kämpfer. Wir machen lediglich Büroarbeit, im kommenden Jahr feiern wir unser 20-jähriges Bestehen. Wir schwärmen in die Archive aus, führen auf elektronischem Wege Briefwechsel, beantworten Briefe, in denen die Menschen nach den Schicksalen ihrer Verwandten fragen, die in jenen Jahren ins Lager geraten sind. Man kann also nicht von einem Kampf sprechen.

- Dann bist du so etwas wie ein „Papier-Maulwurf“?

- Ja, ein Maulwurf. Natürlich kann man einer solchen Arbeit alle möglichen Bezeichnungen anhängen, wie zum Beispiel „Wahrheitssucher“, aber tatsächlich ist das nicht so. Es handelt sich um eine schwere Arbeit, die nach außen nicht sichtbar wird. Wir bringen die „Bücher der Erinnerung“ heraus, 4 Bände gibt es bereits, der fünfte ist in Vorbereitung; in jedem sind etwa 6000 Menschen erwähnt, über die Informationen aus dem FSB und den Archiven vorliegen; diese Angaben müssen alle überprüft und präzisiert werden...

- Als „Memorial“ vor fast zwanzig Jahren in der Region gegründet wurde, haben die Behörden es da unterstützt oder gleich Hindernisse in den Weg gelegt?

- Sowohl als auch. Damals herrschte überall völlige Unstimmigkeit. Als wir beispielsweise im November 1988 zur ersten Gründungskonferenz von „Memorial“ nach Moskau fuhren, da wurden einige Delegierte – wie es, hmm, auch jetzt üblich ist – unter verschiedenen Vorwänden verhaftet. In der Region selbst verlief alles ruhiger und friedlicher. Das zentrale Bezirkskomitee der KPdSU kam uns entgegen und bewilligte uns eine Unterkunft. Im großen und ganzen nahmen sie uns in eine nicht sehr aufgezwungene Obhut. Und dann fingen wir an zu arbeiten. Übrigens gibt es da so eine wenig bekannte Tatsache – die allererste Region in der UdSSR, in der man anfing Repressionsopfern und Rehabilitierten verschiedene Vergünstigungen zu gewähren - in der Art von Wohngeld und anderen kommunalen Zahlungen oder Rentenzuschüssen zu gewähren, war ausgerechnet die Region Krasnojarsk! Das Regeionsexekutiv-Komitee war sehr entgegenkommend.

- Seitedem ist eine Menge Zeit vergangen. Manch einer hat „Memorial“ verlassen, weil er der Meinung war, daß das Leben nich ausreicht, um alle Opfer jener Periode zu ermitteln und dem Volk diese schreckliche Erinnerung zurückzugeben. Andere sind geblieben. Bist du denn während dieser ganzen Zeit mit der Arbeit, die du machst, nicht enttäuscht gewesen?

- Ich habe mich ebenfalls nach August 1991 ein wenig von „Memorial“ entfernt. Damals kam es allen, und auch mir, so vor, als ob bei uns im Land politische Probleme gelöst würden, und jetzt befassen sich mit dieser ganzen Arbeit völlig verdient schon nicht mehr Enthusiasten, sondern der Staat, dem das Schicksal seiner Mitbürger nicht gleichgültig ist. Damals habe ich mich mit dem Computer-Business befaßt, das war interessant. In die Archive habe ich keine Blicke geworfen, was ich heute sehr bedaure, denn damals wurden sie alle geöffnet – allerdings nur für kurze Zeit...

- Sag mal,wenn „Memorial“ früher im ganzen Land weit und breit bekannt war, weshalb hört und sieht man denn heute von seinen Aktivitäten fast gar nichts mehr - weder in den Masseninformationsmitteln noch innerhalb der Gesellschaft? Hat das Volk aufgehört, sich für das Thema der Repressionen zu interssieren? Was hat sich verändert – das Land, die menschen, ihre Psychologie? Warim ist das Interesse an diesen grauenvollen Ereignissen erloschen?

- Damals haben sich „die Schleusen tatsächlich ein bißchen geöffnet“, und das Volk hat viel Interessantes erfahren. „Memorial“ war die einzige nichtstaatliche, legale Organisation. Heute sind die Leute einfach irrtümlich der Meinung, daß man all das schon gar nicht mehr braucht; daß es ist nicht interessant und auch nicht mehr aktuell ist – wenngleich es gerade jetzt ganz besonders aktuell ist. Wenn ich mir das Land so ansehe – dann erinnert die Situation sehr an das Ende der 1920er und den Anfang der 1930er Jahre: die Unterdrückung der NEP (Neuen Ökonomischen Politik; Anm. d. Übers.), das „Festziehen der Schrauben“ ... Wenn jetzt auch noch jemand irgend so einen Kirow um die Ecke bringt, dann – war’s das wohl! Eine ganze Menge Parallelen kommen einem in den Kopf. Die Leute verstehen das nicht, sie sind der Meinung, daß bei uns alles rundherum in Ordnung ist. Der zweite Grund für das gesunkene Interesse liegt darin, daß den Menschen einfach nicht der Sinn danach steht. Denn in der Zeit der Perestrojka – und ich sage das, ohne jemanden kränken zu wollen – hat kein Mensch vernünftig gearbeitet. In allen Raucherecken an den Unis haben sie Phrasen gedroschen und mit den Armen herumgefuchtelt: „Hast du das gelesen?! Hast du das gehört?!“

- Vielleicht ist das auch gut so. Jetzt haben wohl endlich alle eine Beschäftigung?!

- (Lacht). Wahrscheinlich ist es gut. Aber besser noch besser wäre es, wenn die Leute nicht nur eine Beschäftigung hätten, sondern dabei auch noch die Situation im Land und in der Gesellschaft richtig verstehen würden.

- Dann ist es also so, daß du arbeitest ... für die Untätigen, die nur in der Raucherecke herumschwatzen?

- Nein (lacht). Ich arbeite für die Menschen, die vom Staat und von der Geschichte zu Staub gemacht wurden, indem sie auch die Erinnerung an sie ausgelöscht haben.

- Dann kann man also die Schlußfolgerung ziehen, daß du für die Toten arbeitest.

- Und was ist mit ihren Kindern?

- Na schön. Du hast gesagt, daß sich jetzt alles geändert hat und die Leute irrtümlicherweise meinen, daß man sich heute praktisch jene Zeiten nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen muß. Dann ist es doch nur logisch zu sagen, daß du und deine Mitstreiter in den beinahe zwanzig Jahren ..... schlecht gearbeitet arbeitet? Ihr seid nicht in der Lage gewesen, der Gesellschaft eine Impfung gegen den Stalinismus zu verpassen.

- Ja! Wenn wir unsere Zusammenkünfte abhalten, dann sagen wir selbst, daß wir unsere Hauptaufgabe eigentlich nicht erfüllt haben. Denn in der Satzung von „Memorial“ steht geschrieben, daß wir dazu beitragen müssen, daß sich so etwas niemals wiederholt. Und es zeigt sich, daß etwas ähnliches sich, allerdings in anderer Form und anderer Weise, sehr wohl wiederholen kann. Unser Volk ist bereit, noch einmal in die Zinken desselben Rechens zu treten, und möglicherweise nicht nur einmal.

- Vielleicht gehört es zum natürlichen Lauf der Weltgeschichte, daß die Menschheit sich alle 90-100 Jahre einen Tyrannen aussucht, ihn danach wieder stürzt und irgendwann geht das alles dann wieder von vorne los? Braucht man euch in diesem Fall nicht?

- Verstehst du, man geht auf eine bestimmte Weise an eine Sache heran (dazu bekennen sich zum Beispiel auch alle Parteien): es gibt ein Ziel, und das muß man erreichen – unter allen Umständen. Und dann gibt es noch eine andere Art des Herangehens an eine x-beliebige Sache: tu, was getan werden muß, komme, was wolle. Wenn wir uns damit befassen, dann haben wir das Gefühl, wir tun wirklich das, was getan werden muß.

Interessant ist, daß es ziemlich viele junge Leute gibt, die das brauchen, und nicht nur Cola und Harry Potter, Band 5. Über das elektronische Postfach kommen viele Briefe von jungen Menschen zu uns. Wie das geschieht: er gibt seinen Familiennamen ins Suchprogramm ein und entdeckt zu seiner Verwunderung, daß er eine ganze Anzahl von Verwandten hatte, die jenes System damals verschlungen hat. Und er weiß von diesen ganzen ihm verwandten Menschen überhaupt nichts! Und dann versucht dieser junge Mensch Einzelheiten herauszubekommen, na ja, und dabei gerät er dann auf die Webseite unseres „Memorial“. Er fängt mit der Arbeit an und stellt die Geschichte eines ganz gewöhnlichen Menschen wieder her. Die Menschen erfahren etwas über ihre Vergangenheit, und wenn sie sie kennen, dann werden sie sich in Zukunft gegenüber Menschen nicht mehr so verhalten, als wären es Zahlen und Statistiken. Das ist auch Destalinisierung!

- Hat sich denn eigentlich in all den Jahren bei „Memorial“ und bei dir persönlich die Anzahl der ... nein ... nicht der Feinde, sondern der politischen Gegner vermindert?

- Es ist so, daß erneut eine Zeit der Schurken herannaht. Wodurch war die Stalinzeit gekennzeichnet? Damals gab es eine Unmenge Schurken. Du möchtest eine Intrige gegen den Chef führen – schreib einefach eine Denunziation ans NKWD, und schon kannst du seinen Platz einnehmen. Seine Probleme mit niederträchtigem Verhalten lösen, das ist sehr bequem. Die Schurken hatten alle Trümpfe in der Hand, und dem hatte ein aufrichtiger Mensch nichts entgegenzusetzen, außer sich das Hemd über der Brust zerreißen und zu heulen „ich bin unschuldig“. Und genau diese Zeit kommt momentan ganz spürbar zurück. Jene Leute, die vor 15-20 Jahren geschwiegen haben, beginnen jetzt ans Tageslicht zu klettern. Na, da steht zum Beispiel ein großer, mächtiger Boss auf und fordert, per Gesetz eine Geisel-Universität einzuführen. Oder ein hoher Beamter versichert, daß unter Stalin, trotz aller Fehler und Übrspitzungen, alles gut war ... Also da „oben“ geben sie das Signal, und „unten“ verstehen sie bereits – Kinder, man darf wieder Gemeinheiten sagen, es passiert euch deswegen nichts, man wird euch dafür nicht bestrafen ...

Und mein Verhältnis zu den Menschen, die sich an jenee Zeit erinnern und sie für gut befinden ... Vor 10 Jahren hätten sie mir leid getan, wenn sie nicht heute eine Gefahr darstellen würden. Am meisten beunruhigt mich, daß die meisten ihrer Äußerungen sich mit den Äußerungen unserer obersten Machtspitze decken. Sie scheinen beide die gleiche Mentalität zu besitzen.

- Klar. Da ergibt sich ja ein interessantes Bild. So viele Jahre schimpfen sie auf Stalin und jene Zeit. Aber es ist bekannt, daß allein im Jahre 1934 im Land etwa 3 Millionen (!) Denunzierungen beim NKWD eingingen, in denen sich Menschen einfach gegenseitig anschwärzten. Der Bruder den Bruder, der Sohn den Vater und die Ehefrau ihren Ehemann. Hat Stalin etwa diese Denunziationen geschrieben? Wer hat denn die Leute gezwungen, den Bleistift zu besabbern und mitten in der Nacht unter der Bettdecke „hiermit bringe ich Ihnen zur Kenntnis“ auf ein Blatt Papier zu kritzeln....? Also warum ist denn allein Stalin daran schuld?

- Na, das ist ja eine hervorragende Frage! Und gerade heute auch sehr aktuell! Das wichtigste ist – die Aufstellung der Spielregeln. Und damals wurden solche Spielregeln augfestellt, die es den einfachen Menschen gestatteten so etwas zu tun, sie gestatteten es, sich in einer menschlich ganz gemeinen, niedertächtigen Weise zu benehmen, ohne dafür bestraft zu werden. Jeder Mensch ist schwach. In einem normalen, demokratischen Land würde eine schriftliche verfaßte Denunzierung keinerlei Folgen haben. Und deswegen gilt die Haupt-Kritik am stalinistischen System nicht den Repressionen, sondern in der negativen Selektion Auslese der Gsellschaft. Es war den Menschen erlaubt, tief zu sinken; man war ihnen beim Fallen „behilflich“ und ließ sie dann nicht wieder aufstehen.

- Und wie sieht es mit den Behörden heute aus? Sind sie die behilflich? Nein, besser so gesagt: kannst du unter der heutigen Macht komfortabel leben?

- Nein. Früher, zu Beginn der 1990er Jahre, gab es noch die Hoffnung darauf, daß der Vektor der Staatsentwicklung in die erforderliche Richting zeigt, und zwar ungeachtet der Inflation, der materiellen Schwierigkeiten und den politischen Gegebenheiten. Jetzt, im Zustand der Stabilität, zeigt der Vektor nicht in jene Richtung, und das flößt einem Pessimismus ein.

Obwohl ich nicht verheimlichen will, daß unsere Beziehungen zur regionalen Obrigkeit mehr als hervorragend sind. Es fällt mir niemals schwer sie zu loben, wenn sie es verdient haben. Sie geben beispielswiese jedes Jahr jeweils 700000 Rubel für die Herausgabe des „Buches der Erinnerung“ dazu. – nicht der Soros-Fond oder die Ford-Stiftung, nein – ausgerechnet die Regionalverwaltung. Und sie haben noch viel anderes Gutes in Bezug auf die Repressierten getan, u.a. auch auf Gesetzesebene. Wir schulden ihnen ganz großen Dank.

- Wieviele Repressionsopfer leben derzeit in der Region?

- Noch 26000 Menschen. Und auch wenn die Leute nach und nach wegsterben, so hat sich doch der Prozeß der Rehabilitationen bis heute fortgesetzt! Besonders bei den Enteigneten. Ich habe mich übrigens sehr gewundert, als man mir bei der GUWD sagte, daß in den vergangenen 15 Jahren in der Region mehr als 500000 Menschen rehabilitiert wurden, ich kannte das einfach nicht glauben! Sie haben jeweils 100-200 Rehabilitationsbescheinigungen pro Tag ausgestellt, haben ohne freie Tage ununterbrochen gearbeitet.

- Wieviele der noch am Leben befindlichen 26000 Rehabilitierten waren denn hier inhaftiert und aufgrund welches Paragraphen hat man sie verurteilt? Zum Beispiel wegen des Ukas über „die drei Ähren“ ... (die Menschen wurden zu unterschiedlich langen haftstrafen verurteilt, weil sie Überreste der Ernte von bereits abgeernteten Feldern aufgesammelt hatten).

- Das Traurigste daran ist, daß bis heute keiner der nach diesem Ukas Verurteilten rehabilitiert wurde. Das Rehabilitationsgesetz erstreckt sich nicht auf diese Leute, denn es schließt die Stalinschen Dekrete nicht mit ein. Das gilt auch für den Ukas „Über die drei Ähren“ und „Über die Nichttuer“ sowie für fünfminütiges Zuspätkommen am Arbeitsplatz. All diese Menschen gelten nach wie vor als Verbrecher.

- Und weshalb bringt „Memorial“ keinen Änderungsvorschlag zu diesem gesetz von 1991 ein?

- An wen sollen wir uns denn wenden? Etwa an unsere gerzeitige Duma? (Lacht laut). Wenn wir das 1994 versucht hätten, wäre es uns auch nicht gelungen – und jetzt erst recht nicht. Und in der Region leben jetzt hauptsächlich die Kinder von Sondersiedlern – von entkulakisierten, deportierten Deutschen, Letten, Esten, Ukrainern, jenen, die nach der Lagerhaft noch in die Verbannung gehen mußten. Die Menschen, die die Repressionen am eigenen Leibe durchgemacht haben, sind praktisch nicht mehr am Leben. Und auch die Kinder der damals Verhafteten sind heute alle schon um die 70.

- An Sie wenden sich Leute, deren Vorfahren, sagen wir, Mitarbeiter der Polizeitruppen gewesen sind oder in der Wlassow-Armee gedient haben – und nun wollen sie, daß man ihre Väter wenigstens posthum noch rehabilitiert? Gibt es solche unangenehmen Augenblicke?

- Solche Momente gibt es eher bei der Verwaltung für innere Angelegenheiten, an die sich verschiedene Menschen mit der Bitte um Rehabilitierung wenden, und es gibt ziemlich viele solcher Fälle. Aber hier muß man jeden konkreten Fall für sich betrachten. Denn manchmal unterscheiden wir uns von der Staatsmacht bei der Interpretation des Rehabilitationsgesetzes. So sind beispelsweise bis heute sechs Frauen nicht rehabilitiert worden, die am Norilsker Lageraufstand teilgenommen haben. Einige von ihnen leben noch, wohnen in der Ukraine und im Baltikum, wo sie als Heldinnen gelten. Die Staatsanwaltschaft hat ihnen die Rehabilitierung verweigert und hält sie bis heute für Verbrecherinnen, obwohl allgemein bekannt ist, daß der Norilsker Aufstand unblutig war – die Häftlinge hatten sich geweigert, Waffen in die Hände zu nehmen und hatten nichts weiter als eine Milderung des Regimes gefordert.. Ja, es gibt in der Region noch Personen, die überhaupt nicht unter das Rehabilitationsgesetz fallen. Es kommt vor, daß Leute zu uns kommen; wir fragen bei der GUWD nach und erhalten zur Antwort: wissen Sie, es gibt Zeugenaussagen, daß die betreffende Person an Strafoperationen teilgenommen hat. SO ist das .... Und wenn jemand nicht rehabilitiert ist, dann hat „Memorial“ praktisch keinen Zugriff auf seine Akte! Sie lassen einen nicht! Wir haben nicht einmal das Recht, auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen.

- Kannst du die Position der Behörden, der Strafverfolgungsorgane zu der Tatsache erklären, weshalb viele Archive, die seit 60-70 Jahren existieren, jetzt erneut geschlossen werden?

- Das ist eines der Anzeichen dafür, daß der Vektor sich bei uns in eine andere Richtung dreht. Wir sind jetzt wieder verpflichtet, auf unser Land und seine Geschichte stolz zu sein, aber man sagt, es sei nutzlos, verstaubte Skelette in Rumpelkammern und Schränken zu begutachten. Vor einem Monat haben Vertreter des FSB im Fernsehen ausposaunt, daß viele Archive sich öffnen, das heißt – kommt her. Allerdings hat niemand den kleinen Zusatz bemerkt – „wenn sie die notariell beglaubigte Genehmigung eines Familienmitgliedes des Repressionsopfers besitzen“. Und woher soll man die nehmen? Das bedeutet doch die grundsätzliche Schließung des Archivs! Und als ehemaliger Leiter der Arbeitsgruppe zur Schaffung des regionalen „Buches der Erinnerung“ habe ich jetzt übrigens keinen Zutritt mehr zu den Archiv-Dokumenten, auf deren Grundlage die Bücher überhaupt erst entstehen können – dazu sind nur die Mitarbeiter des Archivs berechtigt. Und all das ist per Gesetz geregelt. Manmuß die Menschen aufrütteln; die gewöhnlichen Mitarbeiter kommen einem entgegen. Unsere Beziehungen sind also kompliziert ... Aber ihre Arbeit machen sie sehr gewissenhaft. Und es liegen noch viele Geheimnisse in diesen Archiven ... Dort gibt es (sie werden gerade geschlossen) Denunziationen, die Namen von Ermittlungsrichtern, die die Akten damals geführt haben, die Namen von Staatsanwälten. Diese Leute existieren schon lange nicht mehr, aber „die da oben“ meinen, daß man „solche“ Vergangenheit lieber nicht wieder aufwühlen soll. Aber die Informatione, die wir haben, die tauschen wir untereinander aus. Also sind wir keine Feinde, sondern vielmehr Partner.

Im großen und ganzen läuft die Arbeit. „Memorial“ lebt. Das Interview gebe ich dir, obwohl ich sofort sehr angespannt war, als du mich darum gebten hast. Denn es kommt vor, daß die Politik uns für ihre Zwecke ausnutzt.So wird beispielsweise das die Partei „Geeintes Rußland“ die KPRF „in die Tonne treten“, indem sie unsere Informationen verwendet. Und wir lehnen so etwas kategorisch ab! Wir wollen nicht zu Werkzeugen irgendwelcher Auseinandersetzungen werden. Vermittle ihnen dies über die Zeitung, damit sie nicht schon im Herbst mit ihren Fragen bei uns angekrochen kommen; wir werden jeglichem Versuch, egal welcher Partei, aus dem Wege gehen.

Und wir werden unsere Sache so weiterführen wie bisher.

Krasnojarsker Komsomolze, 25.07.07


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