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Aleksej Babij: „Das System förderte niederträchtiges Verhalten“

Vor siebzig Jahren arbeitete eine Höllenmaschinerie, die von den neuzeitlichen Historikern den Namen „Der große Terror“ und vom Volk die Bezeichnung „das siebenunddreißiger Jahr“ erhielt. Am 30. Juli 1937 wurde der NKWD-Befehl N°. 00447 herausgeben, mit dem die „Kulaken-Operationen“ ihren Anfang nahm. In der Region Krasnojarsk wurden in nur einem einzigen Jahr 18000 Personen aus politischen Gründen repressiert, 12600 von ihnen wurden erschossen.

Der GIGANTISCHE Maßstab der „blutigen Säuberung“ erfaßte die gesamte Region und sämtliche Bevölkerungsschichten – von der obersten Landesführung bis zu den weit von jeglicher Politik entfernten Bauern und Arbeitern.

Der VORSITZENDE der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft, Aleksej Babij, sagt, daß vor dem Hintergrund der Repressionen, die in der UdSSR ständig im Gange waren, die Zeit des „Großen Terrors“ im Gedächtnis des Volkes als das „gewisse Grauen“ haften geblieben ist. Bis heute sind viele der Meinung, daß sich all das Schreckliche lediglich im Jahr 1937 zugetragen hat.

- Indessen wurden in den Jahren, in denen die Sowjets an der Macht waren, in der Region Krasnojarsk 20000 Personen erschossen. Insgesamt waren von den politisch motivierten Repressionen durch das System etwa 60000 Bewohner der Region betroffen.

Aber wenn man bis 1937 von jeweils drei Personen zwei ins Lager schickte und einen erschoß, so war das Verhältnis während des „Großen terrors“ umgekehrt: zwei wurden erschossen, einer kam ins Lager. Es wurden Direktiven mit ganz konkreten Zahlen erlassen. Im ersten Monat wurde für die Region Krasnojarsk der Befehl erteilt, 750 Menschen zu erschießen. Die Krasnojarsker Tschekisten erfüllten das „Plansoll“ sehr schnell und schickten dann an Stalin ein Telegramm, mit der Bitte, „die Höchstgrenzen heraufzusetzen“. Jener gab bereitwillig sein „OK“. Danach wurden die „Höchtgrenzen“ noch mehrmals heraufgesetzt.

Geständnis durch Folter

- Die MACHT gab in der Tat ihr „OK“ für den Massenmord an den Menschen ...

- Die Aktion wurde auf Initiative des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) durchgeführt. Im Juli erging die Anweisung, und am 5. August begann die Vernichtung der Menschen. Die allerersten, die ins Visier gerieten, waren diejenigen, die adelige Wurzeln besaßen, weiße Offiziere, enntkulakisierte und nach Sibirien verschleppte Bauern. Sie alle hatte das NKWD auf seiner Rechnung stehen. Nach Meinung der „allerobersten Spitze“ waren doch gerade sie es, dieGründe genug hatten, mit der Sowjetmacht nicht zufrieden zu sein.

Damals lebte das ganze Land in Angst und Schrecken. Die Menschen saßen nachts auf ihren gepackten Koffern, lauschten auf die Geräusche der auf der Straße haltenden Fahrzeuge und rätselten – holen sie dich heute oder gehen sie vorbei. Dabei sehen die in den Archiven vorhandenen Ermittlungsakten des Jahres 1937 sehr dürftig aus. In der Regel findet man darin zwei Verhörprotokolle angeheftet: im ersten leugnet der Verhaftete alles, im zweiten – unterschreibt er sein geständnis. Im Juli jenes schrecklichen Jahres wurd zeitgleich mit dem NKWD-Befehl ein chiffriertes Telegramm in alle Himmelsrichtungen versandt, das es künftig gestattete, während der Verhöre Foltermethoden anzuwenden. Aber man hatte sich damit auch vorher schon keinen Zwang angetan, aber nun begannen sie erst richtig, nach allen Regeln der Kunst, wie die bestien zu wüten...

- Und das System der Denunzierungen arbeitete auch ganz vorzüglich.

- Das ist das Allerschlimmste. Sehr viele Menschen versuchten auf diese Weise ihre eigenen Probleme zu lösen. Wollte man seinem Chef „ein Bein stellen“ – dann richtete man ein Verleumdungsschreiben ans NKWD. Und das mußte das Plansoll erfüllen ... Deswegen bemühten sie sich auch gar nicht darum, genau festzustellen, worum es da eigentlich ging, nachdem sie solch einen untergeschobenen Brief erst einmal erhalten hatten.

Es gab Fälle, in denen der Ehemann seiner Frau überdrüssig war, und schon schrieb sie einen Satz, in dem stand, daß er nachts immer so ein Tagebuch führt. Zwei Burschen liebten ein und dasselbe Mädchen, die dem ersten den Vorzug gab. Der zweite denunzierte sie und löste so das Problem der geteilten Liebe. Das Widerlichste daran war, daß das System die Menschen derart tief sinken ließ, ihr niederträchtiges und gemeines Verhalten immer mehr anspornte. Und jene, die sich darum bemühten, ein ehrliches, aufrechtes Leben zu führen, waren in diesem Kampf die großen Verlierer – sie endeten in den Lagern.

Übrigens gibt es da noch ein sittlich verderbtes Charakteristikum im System jener Zeit – die wechselseitige Bürgschaft. Schlagen Sie eine beliebige Zeitung aus dem Jahr 1937 auf, und Sie können sicher sein, daß Sie dort Notizen über Versammlungen von Arbeitskollektiven finden, auf denen die Arbeiter die feindlichen Intrigen zornig verurteilen und die Erschießung der „Schuldigen“ fordern.

„Stolbisten“ trachteten Stalin nach dem Leben

- WELCHE Aufsehen erregenden Aktionen wurden in der Region durchgeführt?

- Es begann mit dem Kansker Mühlenkombinat. Am 25. August wurde es nach Reparatur-arbeiten wieder in betrieb genommen, aber da brach ein Feuer aus. Zwei Menschen starben, drei wurden verletzt, und der Schaden betrug mehrere Millionen Rubel. Zuerst hieß es: Der „außergewöhnliche Zwischenfall“ ereignete sich aufgrund eines technischen Defekts... Aber die Kansker Tschekisten waren offensichtlich in Angst und Schrecken versetzt worden und schickten Stalin ein telegramm mit dem Wortlaut: Wie es heißt, arbeiten im Kombinat viele Verbannte, so daß es sich wohl eher um feindliche Intrigen handelt. Stalin antwortete: das ist zweifellos feindliche Sabotage; die Schuldigen müssen ausfindig gemacht und erschossen werden.

Anschließend wurde im Kuraginsker Bezirk das gesamte Führungspersonal entlassen und durch Erschießen hingerichtet. Das ganze System des Wirtschaftens war damals in sich chaotisch. Alles wurde ganz oben entschieden – wann die Aussaat erfolgen, wann man ernten sollte. Und wenn der verlangte Ernteertrag nicht eingebracht wurde, dann war daran nicht die Sowjetmacht schuld, sondern eine Bande von Schädlingen. Im allgemeinen wurden alle Ereignisse dieser Art in genau diesem Sinne gedeutet. Sprang eine Lok aus den Schienen – schon sieht das NKWD darin eine Intrige der Trotzkisten. Bei der Jenisejsker Flußschiff-fahrt stieg in den Jahren 1937-39 die Zahl der Unglücksfälle. Weshalb? Der in jenen Jahren in der Region bekannte Tschekist Anastasenko hatte die Kapitäne, Lotsen und Mechaniker „herausgebürstet“. Und diejenigen, die an ihre Stelle traten, besaßen nicht die nötige Erfahrung für diese Posten. Auch sie wurden bald darauf zu Spionen und Saboteuren abgestempelt.

Aber vor dem Hintergrund der lautstarken Enthüllungen im Lande schien unsere Sache für die hiesigen NKWD-Leute eine Kleinigkeit zu sein. Und so dachten sie sich wieder etwas Neues aus. Wie beispielsweise die Sache mit dem ersten Direktor des „Stolby“-Nationalparks – Aleksander Jakworskij. Sie beschuldigten ihn, eine Gruppe junger Stolbisten zusammengestellt zu haben, die in den Kreml eindringen und einen gegen den Genossen Stalin gerichteten Terrorakt verüben sollten. Aufgrunddessen bekam der Direktor dann auch seinen „Zehner“ im Lager aufgebrummt (zehn Jahre Lagerhaft; Anm. d. Übers.).

Wer versteckt die Henker?

- WAS meinen Sie, weshalb die Leute heutzutage beim Namen Stalin in Nostalgie versinken, sich eine „starke Hand“ wünschen und für die Errichtung von Denkmälern zu Ehren des Generalissimus eintreten?

- Die Nachfahren der Erschossenen idealisieren Stalin nicht. Wenngleich es viele gibt, die der Meinung sind, daß Stalin von alldem nichts wußte. Aber die Dokumente belegen das Gegenteil: er hat die Befehle selber erteilt, höchstpersönlich die Erschießungslisten
unterschrieben, in der Hoffnung, daß sie niemals an die Öffentlichkeit gelangen mögen. Und später war der Führer, wie wir heute sagen würden, ein Meister der „Public Relations“, der es verstand, sich von allem Negativen fernzuhalten. Er beseitigte die Vollstrecker und erschien selbst im schönsten Rampenlicht.

Bis heute existiert der Mythos, daß Stalin lediglich die Spitzen der an der Macht befindlichen Partei ausgerottet hat. Dabei läßt sich dieser Mythos ganz leicht zunichte machen, wenn man sie die Listen der Repressionsopfer ansieht. Schlagen Sie ein beliebiges Buch der Erinnerung auf - dort finden Sie Pferdepfleger, Zimmerleute, Wärter, Hauer, usw.

- Auch Ihre Familie hat Repressionen durchgemacht. Hat sich das irgendwie auf Ihre Haltung gegenüber den heutigen Tschekisten – den Vertretern des FSB – ausgewirkt?

- Es hat sowhl im NKWD wie beim KGB durchaus ordentliche Mitarbeiter gegeben, aber die meisten von ihnen sind ebenfalls in Lager geraten und wurden erschossen. Mit vielen Mitarbeitern des FSB arbeite ich am Buch der Erinnerungen und kann nichts anderes als Worte der Dankbarkeit aussprechen. Aber mich beunruhigt die sich in letzter Zeit abzeichnende Tendenz. Das FSB hört auf sich dessen zu schämen, was zur Zeit des „Großen Terrors“ geschah. Sie fangen an, die Taten der NKWD-Leute zu rechtfertigen, indem sie sagen, daß sie nur die Befehle ausgeführt haben. Und das läßt sich nicht nur in den Reihen der gewöhnlichen Mitarbeiter feststellen, sondern auch bei den höchsten Diensträngen. Seit 2005 ist es praktisch unmöglich geworden, mit Archivakten zu arbeiten. Und aus dem Buch der Erinnerungen werden einfach die Nachnamen der Ermittlungsrichter entfernt. Diejenigen, die die Namen der henker verschweigen, geben Anlaß zu der Vermutung, daß sie selbst zu solchen Dingen bereit wären. Es wird eine Situation geschaffen, in der ein Befehl erteilt wird – und alles kann sich noch einmal wiederholen. Das ist schon sehr beunruhigend.

ÜBRIGENS

• In der Region Krasnojarsk befanden sich mehr als 20 Lager. Die bekanntesten
unter ihnen – das KrasLag, das NorilLag, die Bauverwaltung 503 .....

• Innerhalb der 15 Jahre seit Inkrafttreten des Rehabilitationsgesetzes erhielten mehr
als 500000 Repressionsopfer eine von den Organen der regionalen StaatlichenVerwaltung
für Inneres ausgestellte Rehabilitationsbescheinigung.

Diese Verfügung unterzeichnete Stalin im Jahre 1937 höchstpersönlich; darin erteilte er den Krasnojarsker Tschekisten die ausdrückliche Erlaubnis, zusätzlich 6600 Personen zu erschießen. * 1. Kategorie – Erschießung, 2. Kategorie – Lager- oder Gefängnishaft.

Olga LOBSINA
Foto des Autors

“Argumente und Fakten am Jenisej”, 01.08.2007


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