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Großmutter Dorothea

Ich wohne im sibirischen Dorf Belyj Jar, Bezirk Atschinsk. Unser Dorf liegt am hochgelegenen Ufer des Tschulym-Flusses. In diesem Jahr wurde es 280 Jahre alt. Als ich die Geschichte des Dorfes im Heimatkunde-Unterricht studierte, erfuhr ich, daß es irgendwann einmal eine Kosaken-Siedlung war. Und ich begann mich dafür zu interessieren, weshalb es unter den russischen, ikrainischen und weißrussischen Familiennamen auch deutsche gab – Gumel, Stritz. Zuhause sprach ich darüber mit meinen Verwandten, und es stellte sich heraus, daß der Mädchenname meiner Großmutter – Felde – ebenfalls ein deutscher war. Ich hörte von Großmama einen recht kurzen Bericht (sie erinnert sich nicht gern an die schwere Vergangenheit) und beschloß daraufhin, bei den anderen deutschstämmigen Dorfbewohnern Interviews abzuhalten und bei Gelegenheit auch die Großmutter noch einmal detaillierter über jene ferne Zeit auszufragen und darüber, wie diese Familie nach Sibirien geraten ist.

Am 28. August 1941 kam Stalins Ukas heraus, nach dem alle in der UdSSR lebenden Deutschen in entlegene Bezirke des Landes deportiert wurden.

Meine Großmutter, Dorothea Genrichowna Okischewa (Mädchenname Felde) stammt aus einer Familie repressierter Deutscher. Sie wurde am 18. Oktober 1940 im Dorf Krasnyj Jar, Gebiet Saratow, geboren. Ihre Eltern hießen Heinrich Jakowlewitsch und Dorothea Iwanowna. In der Familie gab es sechs Kinder: fünf Mädchen und einen Jungen. Großmama war die jüngste Tochter. Sie war fünf Monate alt, als die Familie 1941 nach Sibirien verschleppt wurde. Als neuer Wohnort wurde ihnen Belyj Jar zugewiesen. Die Familie kam in einer Wohnung unter. Es war eine sehr schwere Zeit. Sie besaßen buchstäblich nichts: weder Geschirr, noch Bettzeug oder Kleidung. Die Nachbarn verhielten sich gegenüber den Neuankömmlingen sehr mißtrauisch. Sie waren der Meinung, daß man sie nicht grundlos ausgewiesen hatte: also bedeutete es, daß sie Feinde waren. Aber irgendwie mußten sie leben. Urgroßmutter Dorothea Iwanowna arbeitete in der Kolchose. Bald darauf wurde ihr Ehemann zur Front einberufen. Sie ließ sich mit den Kindern in einem kleinen Häuschen nieder. Es schien, als ob das Leben irgendwie in Gang und in Ordnung kommen würde. Sie gewöhnten sich langsam ein, aber es dauerte nicht lange, bis die Todesnachricht eintraf. Dorothea Iwanowna blieb als Witwe, die Kinder ohne Vater zurück. In ihrer Trauer machte sie sich mit den Kindern auf, um bei ihrer Schwiegermutter zu leben. Leider kann sich meine Großmama, Dorothea Iwanownas Tochter, überhaupt nicht an ihren Vater erinnern.

Großmutter hatte eine schwierige Kindheit. Die Familie lebte in schrecklicher Armut. Und es herrschte Hunger. 1947 ging sie zur Schule. Ab der fünften Klasse, die sie zusammen mit anderen Kindern besuchte, ging sie ins drei Kilometer entfernte Nachbardorf Sertsaly zur Schule. Die Großmutter erinnert sich: „Jeden Tag gingen wir zur Schule. Wenn es regnete, war der Weg unterspült. Wir mußten durch den tiefen Schmutz waten. Und dann mußten wir noch an zwei ausgefahrenen Stellen vorbeigehen, über die normalerweise Brücken führten; aber die waren eingestürzt. Im Winter war der ganze Weg völlig zugeweht; der Schnee ging einem bis ans Knie. Morgens hin, nach dem Mittagessen wieder zurück nach Hause. Ewig waren wir naß, schmutzig und müde“.

Während des Sommers arbeitete die zehnjährige Dorothea mit ihren Klassenkameraden in chinesischen Gemüsegärten. Die Chinesen züchteten Gemüse für die Fliegerfachschule in Atschinsk. In den Gärten wuchsen Möhren, Zwiebeln, Kartoffeln, Tomaten, Gurken und Mohn. Um alle diese Dinge kümmerten sich die Kinder, sie jäteten Unkraut und wässerten die Pflanzen.

1955, im Alter von fünfzehn jahren, beendete Dorothea Felde die Schule und begann auf der Schweinefarm zu arbeiten. Zusammen mit einer Kollegin hütete sie die Schweine, fütterte und tränkte sie. Die Arbeit auf der Kolchosfarm war sehr hart – es gab keinerlei Mechanisierung, alles mußte mit der Hand gemacht werden. Die Menschen dort arbeiteten gegen Anrechnung von Tages-Arbeitseinheiten, sie bekam nur sehr wenig Geld ausbezahlt.

1959 begegnete Großmutter ihrem zukünftigen Ehemann – meinem Opa; ein Jahr später heirateten sie und zogen in das Dorf Bytschki im Bolscheulujsker Bezirk um. Dort wurde 1961 ihr Sohn Nikolaj geboren, mein Onkel, und 1964 Tochter Jelena, meine Mama. In Bytschki arbeitete Großmutter in der Bäckerei, wo sie als Bäckerin und Reinmachefrau tätig war. Das Dorf war von der Stadt weit entfernt; daher wurde dort die Freundschaft unter den deutschen Familien, von denen es dort nicht wenig gab, lange Zeit bewahrt. Da Bytschki sich mitten in der Taiga befand, jagten die Bewohner Bären und Füchse. Wenn es gelungen war, einen Bären zu erlegen, dann wurde der Erfolg stets groß gefeiert. Alle versammelten sich hinter der Dorfeinfriedung, kochten Essen, stellten Getränke zur Verfügung und tanzten. Meine Mama erinnert sich: „ Uns, den Kindern, kam der Bär riesengroß vor. Seine großen, zottigen Tatzen hingen vom Fahrzeug herab. Die langen Krallen, das weiche, braune Fell ... Bären haben dunkles Fleisch; man hat Koteletts daraus gemacht“.

1972 kehrten die Großmutter mit ihrem Mann und den Kindern ins Dorf Belyj Jar zurück. Sie fand eine Arbeit im Gewächshaus, züchtete Gurken und Zwiebeln. Hier wurde ihr ebenfalls große körperliche Kraft abverlangt. 1993, zwei Jahre bevor sie in Rente ging, wechselte sie zur Schweinefarm über, auf der irgendwann ihre berufliche Biografie begonnen hatte. Auf der Farm ging die Arbeit aber jetzt schon leichter von der Hand, es gab bereits so etwas wie Mechansierung. Deswegen ging die Großmama auch noch eine Weile weiter dort arbeiten, obwohl sie 1995 offiziell in Rente ging.

... Ich hörte der Erzählung meiner Großmutter zu, betrachtete ihre abgearbeiteten Hände, ihr Gesicht mit den vielen kleinen Runzeln, blickte ihr in die Augen ... Wieviel hatte sie im Leben durchmachen müssen; und trotzdem hatten die Augen nicht aufgehört, ihr lebhaftes und freudiges Licht zu entsenden. Jetzt ist die Großmama 67 Jahre alt, aber sie ist immer noch so unverzagt und fleißig, wie eh und je. Ich habe den Eindruck, daß diese Eigenschaften gerade den Wolgadeutschen zueigen sind, denn sie haben es verstanden, die rauhen, harten Zeiten trotz all der schweren Schicksalsschläge zu überleben. Sie waren immer bereit, hart zu arbeiten, aneinander zu helfen und doch noch irgendwie Freude am Leben zu haben.

Das Material wurde von Darja LASUN bereit gestellt. Bezirk Atschinsk.
Heutige Zeitung, 11.08.2007


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