Ich möchte von noch einem weiteren Menschen erzählen. Es handelt sich um die Freundin meiner Großmutter. Sie heißt Emilia Iwanowna Gumel. Sie ist die älteste aller Deutschen, die in unserem Dorf leben. Als ich zu Oma Lena (so wird sie von allen genannt) kam, erklärte sie sogleich: „In unserer Zeit damals gab es nichts Gutes!“ Oma Lenas tragisches Leben ist nicht ungewöhnlich für jene Zeit. Erst Jahre später scheinen die Repressionen für viele einfach ein Teil der Geschichte zu sein.
Emilia Iwanowna wurde 1929 im Dorf Prokhaus, Bezirk Marxstadt, Gebiet Saratow, geboren. Nach Sibirien wurde sie, zusammen mit ihrer Mutter Lisa Andrejewna und Schwester Luisa, ausgesiedelt, als sie zwölf Jahre alt war. Dieses verhängnisvolle Datum – den 8. September 1941 – wird sie ihr Leben lang nicht vergessen. Der Vater war damals schon tot.
Zum Packen gabman ihnen weniger als vierundzwanzig Stunden. Am 7. September rief man alle Dorfbewohner zusammenund verkündete ihnen, dass sie sich innerhalb weniger Stunden zur Abfahrt bereit halten sollten. Früh am morgen tauchten im Dorf Soldaten auf, die die Menschen am Bahnhof abliefern sollten. Als sie bereits am Bahnhof angekommen waren, fiel Emilia plötzlich ein, dass sie zuhause, unter einem Baum, eine Bibel versteckt hatte, die in der Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Emilia war inzwischen schon die zehnte Hüterin des Göttlichen Buches. Zufuß kehrte sie ins Dorf zurück und holte das Buch. Mutter und Schwester warteten inzwischen auf dem Bahnhof auf sie. Der Zug näherte sich bereits, und sie war noch nirgends zu sehen. Die Mutter machte in diesen Minuten Schweres durch, sie wollte doch nicht ohne ihre jüngste Tochter fortfahren. Da tauchte das Mädel auf, die Bibel fest an die Brust gedrückt – unmittelbar vor der Abfahrt des Zuges. Die Menschen wurden auf die Waggons verladen, dreimal ertönte die Bahnhofsglocke und der Zug setzte sich in Bewegung.
Anfangs wußten sie nicht einmal, wohin man sie brachte. Am 20. September kam der Zug in Nowosibirsk an. Die Familie Gumel und ein paar andere Familien wurden in das Dorf Taradanowo, Susunsker Bezirk, geschickt. Die Menschen waren in Angst und Schrecken versetzt. Dort, an der Wolga, hatten sie große Häuser mit Gärten zurücklassen müssen. In jedem Haus war alles mit Verstand und Liebe gemacht: geschnitzte Stuhllehnen, die Kopfeneden der Betten mit schönen Schntzereien versehen. Wände und Fußböden waren aus Holz. Sie hatten sie immer gewischt und gescheuert.
Die Mutter kam sogleich zur Arbeitsarmee. Die Mädchen wurden in einem staatlichen Haus untergebracht, in der bereits eine Frau mit Kindern wohnte. Die ältere Schwester, Luisa, ging in der Waldwirtschaft arbeiten. Auch die zwölfjährige Emilia bliebnicht ohne Arbeit – währned der kalten Jahreszeit fing sie mit den anderen Kindern Fische, die dann an die Front geschickt wurden.
Lisa Andrejewna nahm sich die Lage ihrer Kinder sehr zu Herzen und machte sich große Sorgen. So beschloß sie zu fliehen. Aber die Frau wurde ergriffen und kam für sechs Monate ins Gefängnis. Während die Mutter sich in Haft befand, erhielten die Mädchen einen Brief von Tante Emma – einer Freundin von Mutetrs Halbschwester Maria. In demBrief hieß es, dass die Frau gestorben war und zwei Töchter hinterlassenhatte. Die Schwestern wollten sie holen.
Das Dörfchen war weit entfernt, etwa 80 Kilometer. Die Mädchen machten sich zufuß auf den Weg, über Felder und durch tiefe Schneewehen. Es herrschte eisiger Frost. Aber Luisa und Emilia erreichten trotz allem die Siedlung. Sie begaben sich zur Kommandantur, um die Erlaubnis zur Mitnahme der Kinder einzuholen. Der Kommandant und seine Frau wunderten sich sehr, denn die Schwestern waren ja noch ganz klein. Aber die Mädchen überzeugten sie davon, dass sie bereits groß wären und sogar schon arbeiteten. Die Frau des Kommandanten gab ihnen zu essen und ließ sie bei sich übernachten. Die Waisen hießen Nina und Vera. Die ältere Nina war drei Jahre alt, die jüngere – 11 Monate. Am Morgen nähten die Schwestern zusammen mit der Kommandantenfrau Kleidung für die Kleinen. Zu diesem Zweck gaben Luisa und Emilia ihre kurzen Jacken her. Und dann gingen sie den ganzen Weg zufuß nach Taradanowo zurück, in grimmiger Kälte, durch tiefe Schneewehen.
Nach einiger Zeit wurden die Mädchen aus der Wohnung verjagt. Nun mußten sie in Scheunen übernachten. Sie schliefen, dicht an die Kühe gedrängt, damit sie es ein wenig wärmer hatten. Endlich kam der Frühling, und der Boden begann allmählich aufzutauen. Die Schwestern beschlossen, sich eine Erdhütte zu graben. Dabei half ihnen eine deutsche Frau mit vier Kindern. Die beiden abgemagerten Mädchen schaufelten die Grube aus und schleppten das Erdreich beiseite. Viel Kraft und gute Verpflegung war nötig. Aber woher sollte man die mitten im Krieg nur nehmen, und dann noch, wo sie doch verwaiste Kinder waren? ... Sie waren schnell erschöpft.
Die Erdhütte hoben sie einen Meter tief aus. Das Dach bauten sie aus dünnen Holzstangen, Lehm und Rasensoden zusammen. Dabei vermischten sie die Soden mit dem Lehm und legten damit die Balken aus. Im Sommer ging Emilia als Kindermädchen in den Kindergarten.
So vergingen einige Jahre, Der Krieg ging zuende. Eigentlich schien es, als ob nun im Leben alles in Ordnung kommen würde. Aber die Mutter befand sich nach wie vor in der Trudarmee. 1947 unternahm sie zum zweiten Mal einen Fluchtversuch. Die rau wollte doch wenigstens einmal ein flüchtiges Auge auf ihre Kinder werfen, sich davon überzeugen, dass sie am Leben und gesund waren. Man verfolgte Lisa Andrejewna mit Pferden. Sie wurde am Leiterwagen festgebunden und zurückgebracht. Natürlich konnte sie nicht so schnell laufen wie die Pferde; sie stürzte, stand wieder auf, fiel erneut zu Boden und wurde vom Pferd mitgeschleift. Die Mädchen weinten, die Nachbarn versammelten sich, aber keiner konnte irgendetwas tun.
Gegenüber lebte ein ehemaliger Militärangehöriger. Als er aus dem Fenster blickte und sah, was geschehen war, ging er auf die Straße hinaus. Sergej – so hieß der Mann – beschloß der unglücklichen Familie zu helfen. Er setzte sich aufs Pferd und ritt den Soldaten nach. Kurz darauf kehrte ermit der Frau zurück. Ihr Körper war voller Hautabschürfungen und Blut. Man schickte nach einem Arzt. Drei Tage kümmerte sich eine Ärztin um Luisa Andrejewna. Die Wunden versorgte sie mit einem Mangan-Präparat, dem einzigen Heilmittel jener Zeit. Nach einiger Zeit waren die Wunden verheilt und Mutter wurde erneut in die Arbeitsarmee geschickt.
Die Schwestern wurden von Sergej und seiner Frau aufgenommen. Die beiden hatten zwei Söhne. Emilia fand Arbeit im Pumpenhaus. Aber eine solche Arbeit war zu schwer für das schwächliche Mädel. Olga Michailowna, die Frau, bei der sie wohnten, hatte Mitleid mit ihnen und stellte sie im Krankenhaus ein. Emilia bügelte die Arztkittel. Häufig sah sie im Operationssaal zu, kannte sich bald mit den Instrumenten bestens aus.
Eines Tages ereignet sich mit Emilia folgendes. Im Krankenhaus arbeitete ein Chirurg, ein hervorragender Spezialist, der im Krieg eine Quetschung davongetragen und dabei das Gehör verloren hatte. Es kam die nächste Operation, bei der auch Praktikanten anwesend waren. Sie sollten bei der Operation assistieren, verstanden den Chirurgen jedoch schlecht. Deswegen half Emilia dem Chirurgen während der gesamten Dauer der Operation und recihte ihm die nötigen Instrumente. Die Operation verlief erfolgreich. Und so wurde Emilia zur Assistentin des Chirurgen.
1952 heiratete Emilia Iwanowna; Sohn Wasilij wurde geboren. Aber das leben der jungen Leute kam nicht auf einen gemeinsamen Nenner, sie ließen sich scheiden. Mit dem Kind fuhr sie dann in die Siedlung Listwennitschnij, Bezirk Tajschet, Gebiet Irkutsk. Kurz zuvor waren Schwester Luisa und Lisa Andrejewna dorthin umgezogen, nachdem letztere aus der Arbeitsarmee entlassen worden war. Endlich war die Mutter wieder bei ihren Töchtern! ...
In Listwennitschnij begegnete Emilia Iwanowna bald darauf einem jungen Menschen namens Jurij. Sie heiratete zum zweiten Mal. Im Januar 1961 zog die Familie in die Region Krasnojarsk um – in das Dorf Belij Jar, Bezirk Atschinsk, wo sie heute noch lebt.
Übrigens, die Bibel wird bis heute in Emilia Iwanownas Familie verwahrt. Dieses uralte, zerschlissene, mit von der Zeit vergilbten Seiten, hat bis heute seine wundersame Kraft nicht eingebüßt.
Auf dem Foto – Vertreter einer der deutschen Familien, die der Stalinsche Ukas auf einen schweren Leidensweg führte. Lilia Iwanowna Erlich mit ihren Enkelkindern. Ganz rechts – Rabella Ernst, war in der Trudarmee, geriet für 10 Jahre nach Magadan. Einer der Anklagepunkte: Verachtung der sowjetischen Flagge (aus dem roten Stoffstück, das die Ernsts an ihrem Haus in Stalingrad zum Fenster heraushängen hatten, nähte sie sich ein Kopftuch). Zweiter von rechts – Robert Ernst, war in der Arbeitsarmee, anschließend mit einer Gruppe von Deutschen, die während der Truppenverschiebung, hungrig, einen Waggonmit Heringen auf dem Bahnhof entdeckt hatten, zu 10 Jahren verurteilt. Die Verhandlung dauerte nicht lange – die Richter traten zusammen und verlasen sogleich das Urteil. Die zweite neben der Großmutter, links, blieb verschollen. Des weiteren sieht man auf dem Fotozwei von Lilia Iwanownas Enkelkindern, sie leben in Deutschland.
Die Materialien wurden von Darja LASUN vorbereitet und zur Verfügung gestellt.
Bezirk Atschinsk.
Heutige Zeitung, 11.08.2007