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Dort, wo ein Teil der Seele zurückgeblieben ist

Ein Leben leben – bedeutet nicht einfach ein Feld zu überqueren

Der Sommer gestaltete sich in diesem Jahr irgendwie weinerlich. Immer wieder fiel Regen und trommelte schwermütig an die Scheiben und Fenstersimse. Nur selten bahnte sich tagsüber die Sonne einen Weg durch diese Schwermut, aber wenn sie hervorschaute, dann glänzte die Siedlung Potapowo in ihren Strahlen wie ein blankgeputzter Samowar. Der Fluß funkelte, in der Niederung des alten Potapowo, das von den verbannten Deutschen den Namen Berlin erhalten hatte leuchtete das von der Familie Stolypin errichtete Blockhaus in einem gelblichen Farbton, rot schimmerte die vom Regen abgewaschene Eberesche auf dem Schmal-Berg, und an seinem Fuße weideten, fröhlich mit den Schwänzen schlagend, zwei Kochowsker Kühe und ein Bulle.

Heute hatte es seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen geregnet. Der Himmel trug ein trübes Grau, heftig wogte Väterchen Jenisej mit seiner irgendwie verblichen wirkenden metallenen Farbe, wobei er seine schäumende Brandung von einem Ufer zum anderen jagte. Ab und an kläffte in einem der Höfe ein Hund, der wohl irgendeinem auf das Grundstück Geratenen hinterherlief. An diesem Tag führte mich das Schicksal mit einer Familie ehemaliger Zwangsumsiedler aus dem Wolgagebiet zusammen, für die diese weit im Norden gelegene Siedlung auf der Halbinsel Tajmyr zur zweiten Heimat wurde.

Ich kann mich an alles erinner, was geschehen ist

In einer der kleinen Wohnungen des potapowsker Hauses, das so unterteilt ist, dass insgesamt vier Familien darin untergebracht werden können, war schon lange kein Feuer mehr angezündet worden. Von dem Raum unter dem Schutzdach zog ein feuchter, erdiger Geruch herüber. Es dämmerte bereits, aber die beiden Hausherrinnen, ein junge und eine alte, Mutter und Tochter, beide mit Namen Maria Jekowlewna, liebten diese gemächlichen Augustabende, wenn das Haus noch nicht in dunklem Blau versunken war und im Ofen gierig das Brennholz knisterte und mit seinen Feuerblitzen an der Zimmerdecke und den Dielenbrettern spielte.

Von der Küche breitete sich im Zimmer Wärme aus. In Dudinka hatten sie die Zentralheizung noch nicht eingeschaltet, und in den Stadtwohnungen, die in den zwei regnerischenMonaten feucht geworden waren, löste sich nun von den Decken und Wänden der Putz und auch die tadellos angepaßten und verlegten Bodenbeläge hatten begonnen sich aufzubäumen. Aber hier, in dem potapowsker Haus, war es trotz des anhaltend schlechten Wetters warm und gemütlich. Die ältere Maria Jakowlewna saß, den Rücken an den Diwan gelehnt, mit einer von der Tochter zu einer straffen Schlummerrolle zusammengedrehten Decke unter dem Kopf. Sie hatte unerträgliche Halsschmerzen. Kurz zuvor war die Alte sehr nervös gewesen, und nun schimmerten auf ihren Wangen zwei ungesund aussehende rote Flecken. „Der Blutdruck ist wieder zu hoch, - sagte die junge Maria Jakowlewna, indem sie mit den Augen auf ihre Mutter deutete, - man muß jede Aufregung von ihr fernhalten“. Mit so etwas kommt die alte Maria Jakowlewna nicht zurecht, besonders wenn von der fernen Vergangenheit die Rede ist.

Man soll seinem Schicksal nicht zürnen, das ist eine Sünde, denn es gab Leute, denen es schlechter ging; sie und ihr Mann Jakob Jakowlewitsch (er ruht im Himmel) haben sechs Kinder großgezogen, ihnen eine Ausbildung verschafft, sie auf ihre eigenen Füße gestellt – drei Söhne und drei Töchter. Drei Kinder leben zusammen mit der Mutter in Potapowo, die anderen in Norilsk und Dudinka. Der jüngste Sohn, Wladimir Jakowlewitsch Schmal, ist das Oberhaupt der örtlichen Verwaltung, der in diesem Jahr sein goldenes Jubiläum feiert und Wand an Wand, also als unmittelbarer Nachbar, wohnt. Alle Kinder haben bereits ihre eigenen Familien, Kinder und Enkelkinder. Nur Maria, die jüngste Tochter, die zu ihren Ehren so genannt wurde, lebte mit dieser zusammen in einem Haushalt und versucht ihr das Alter ein wenig erträglicher zu machen. Ende vergangenen Jahres hat Maria Jakowlewna ihr 85. Lebensjahr vollendet, und in diesem Jahr trafen alle sechs Kinder zu diesem Jubiläumsanlaß in Potapowo zusammen, und sie fühlte sich so wohl, war so fröhlich, wie es schon lange nicht mehr der Fall gewesen war. Damals hatte sie noch mit ihren Eltern im fernen Vorkriegsdörfchen Remmler gewohnt, ihren Jakob geheiratet und dann mit ihm gemeinsam ihr einfaches Alltagsleben Ust-Chantajka in Gang gebracht. Damals gab es eine Siedlung dieses Namens – etwa 70 Kilometer von Potapowo entfernt. Sie war einmal, und nun ist sie gänzlich verschwunden. Die Siedlung wurde geschlossen, verlassen; und inzwischen gibt es dort nichts weiter als Unkraut und Steppengras. Viel Kummer hat ihr Ust-Chantajka gebracht, aber es gab auch freudvolle Zeiten. Ob es von diesem oder jenen mehr gab, das vermag sie nicht zu sagen. Als Maria Jakowlewna in ihrem Kopf die Vergangenheit sortiert, entsteht in ihrer Erinnerung eine so klare Vorstellung, dass es einem tatsächlich so vorkommt, als brauchte man nur die Hand ausstrecken und schon wäre alles Vergangene zum Greifen nahe...

- Ich kann mich an alles erinnern, ich weiß noch ganz genau, wie alles war, - sagt die alte Frau mit deutlichem deutschen Akzent. – Wie sie uns 1942 in Güterwaggons einsteigen ließen und von der Wolga ins ferne Sibirien abtransportierten. So etwas vergißt man nicht. Sie brachten uns in die Region Krasnojarsk, wo wir an der Station Ujar aussteigen mußten. Dann brachten sie uns mit Leiterwagen ins Dorf. Dort blieben wir bis zum Frühling; im Mai wurden wir dann alle auf einen Lastkahn verfrachtet und den Jenisej flußabwärts geschickt, ganz weit in den Norden hinauf.

Auf dem Lastschiff herrschte ein echtes internationales Menschengemisch. Wen sie da nicht alles in den Norden verschleppten – ganze Familien von Letten, Finnen, Polen, Kalmücken schwammen da gen Norden. Maria war auf dieser Fahrt mit Mutetr und Schwester zusammen. Den Vater hatten sie schon zu einem früheren Zeitpunkt, wie viele andere deutsche Männer, in die Trudarmee geholt. Der leibliche Bruder, Konrad Bauer, war während des Krieges in die Rote Armee einberufen worden; er kämpfte als sowjetischer Kommandeur irgendwo an der Front, ohne die geringste Ahnung vom Schicksal seiner Familie zu haben.

Ein wenig vorweggreifend möchte ich sagen, dass Konrad Jakowlewitsch Bauer im Krieg kämpfte, dafür ausgezeichnet wurde und als Invalide aus dem Großen vaterländischen Krieg zurückkehrte. Danach lebte er viele Jahre in Nowosibirsk, bekam aber aus geheimnisvollen Gründen alle Vergünstigungen aberkannt, die ihm normalerweise als Kriegsveteran und Invalide zugestanden hätten. Das ist sehr schwer zu begreifen, aber offenbar kann die Dankbarkeit des Vaterlandes mitunter auch eine solche Gestalt annehmen.

Ein Fisch – eine Kugel

Für viele Jahre wurde Ust-Chantajka, am Ufer des Jenisej gelegen, für die drei Frauen aus der Familie Bauer zum einzigen Zufluchtsort. Die Sonderumsiedler wurden geradewegs am unbewohnten Ufer abgesetzt. Es gab keine Behausungen, und so mußten sie sich am felsigen Ufer zum Schlafen niederlegen, indem sie die spitzen Steine vorübergehend mit Lumpen bedeckten. Und auch in der Natur gingen merkwürdige Dinge vor sich – es war fast immer taghell. Die Frauen waren äußerst befremdet, zerbrachen sich die Köpfe, bis endlich eine lettische Krankenschwester Maria erklärte, dass es im Sommer in den nördlichsten Regionen immer so ist, aber wenn dann der Winter hereinbricht, dann wäre es genau umgekehrt, dann würde ständige Dunkelheit herrschen. Da legt man sich zum Schlafen hin und merkt gar nicht, dass es schon längst Tag ist!

Nachdem wir uns ein wenig umgesehen hatten, stellte sich heraus, dass Ust-Chantajka ein kleiner Überwinterungsort mit drei winzigen Häuschen und einem im Bau befindlichen Kiosk war. Später traf dann noch einmal ein Dampfer mit Umsiedlern ein, und dann immer mehr und mehr ... Es gab keine Wohnungen; die Menschen mußten mit Müh und Not Zelte errichten – so hielten sie sich über Wasser, bis die Kälte kam. Da begannen Frauen, Halbwüchsige und Alte Erdhütten auszugraben; sie schlugen in der Tundra Holz, sammelten Moos und legten damit ihre erbärmlichen Behausungen aus. Am Ufer des Jenisej sammelten sie Steine und setzten damit in den Erdhütten Öfen. Die Ofenrohre bestanden aus zusammengerollter Baumrinde; sie führten den beißenden Rauch nach draußen.

Im ersten Jahr entstand in Ust-Chantajka ein Massengrab, in die alle hineingelegt wurden, die aufgrund von Entkräftung und Krankheiten gestorben waren. Holzbretter zum Bauen von Särgen gab es nicht. Der Boden des Grabes wurde mit Brettern ausgelegt und die Toten dannübereinander daraufgeschichtet. Tränen gab es nicht. Das wäre zu anstrengend gewesen; und diese Kraft mußten sie sich aufsparen – schließlich brauchten sie die zum Überleben.

Irgendwie geschah es, dass ein Teil des Proviants, der für all diejenigen bestimmt war, die man in Ust-Chantajka abgesetzt hatte, mit dem Schiff weiter nach Potapowo schwamm, so dass die Menschen ohne Lebensmittel zurückblieben. Und obwohl die Eßwaren irrtümlich denen zufielen, die das Schicksal nach Potapowo verschlagen hatte, starben die Sonderumsiedler auch dort an Hunger und Krankheiten.

Um nicht zu sterben mußte man arbeiten. Auf den Jenisej wurden Flöße herabgelassen – Jungen und Mädchen, die sich mit steifgefrorenen Fingern an die Seile klammerten, zogen die gefällten Baumstämme vom Ufer ins Wasser, fingen Fische und erledigten andere notwendige Arbeiten. Nach und nach wurden Häuser aus Baumstämmen errichtet, aber der entstandene Wohnraum reichte nicht für alle, so dass in einem Zimmer bis zu 20 Personen untergebracht waren, berichtet Maria Jakowlewna. Sie schliefen dicht nebeneinander in Reihen.

Denjenigen, die in der Kolchose mit Fischfang beschäftigt waren, wurde erlaubt, von der Fangstation maximal ein Fischlein mitzunehmen. Am Ufer standen Kontrolleure, welche die Fischer regelmäßig durchsuchten. Wenn einer für seine Familie mehrere Fische genommen hatte, nahm man sie ihm fort und er bekam eine Haftstrafe aufgebrummt. Ohne Mitleid, ohne Erbarmen. Ein alter Mann, bezeugt meine Gesprächspartnerin, riskierte das und ließ aus der Fangstation zehn Heringe mitgehen (Seewölfe aus dem Jenisej). Nachdem sie ihn durchsucht hatten, brachten sie ihn nach Norilsk – in ein Gefangenenlager. Wegen der Fische wurde er streng bestraft. Die Parteileiterin Emilia Ertman(n), die das Kommando über die Sonderumsiedler in Ust-Chantajka hatte und selber aus einer verbannten deutschen Familie stammte, ermahnte die Fischer mit strengen Worten: „Denkt daran: ein einziger Fisch – das bedeutet eine Kugel für die Front. Alles für die Front, alles für den Sieg“.

- Einer der jungen Fischer, - erinnert sich Maria Jakowlewna, - mißachtete trotzdem das verbot und nahm mehrere Heringe in seiner Jackentasche mit – die Familie hungerte doch so schrecklich. Dafür bekam er ein Jahr Lagerhaft und wurde nach Norilsk geschickt. Er war jung; deswegen schaffte er es, die Haftstrafe zu überleben und nach Ust-Chantajka zurückzukehren.

Sie mußten hart arbeiten, aber es gab fast nichts zu essen. Vor dem Hungertod retteten die Fischer die Fische aus dem Jenisej, die sie noch an Ort und Stelle an der Fangstation verzehrten. Sie fingen den Fischmit großen Netzen – im Winter wie im Sommer. Im Spätherbst und im Frühjahr zogen sie das nasse, zusammengefrorene und dadurch noch weitaus schwerer gewordene, drei Meter lange Netz direkt über das Eis. Die Fischer wurden dabei bis auf die Haut durchweicht und froren sich fast zu Tode. Aber sie arbeiteten. Im Lande herrschte Krieg, und niemanden kümmerten die alltägliche Belastungen, Kümmernisse und Entbehrungen der Sonderumsiedler. Maria Jakowlewna war fast 15 Jahre langin Ust-Chantajka als Fischerin tätig – während des Krieges und auch danach, bis sie dann schließlich nach Potapowo umzog.

Ust-Chantajka – mein Schicksal

Alsman den Sonderumsiedlern endlich erlaubte, den Ort zu verlassen, holte Konrad Bauer Mutter und Schwester aus Ust-Chantajka zu sich. Aber Maria blieb dort, weil inzwischen auf Dauer Jakob Schmal in ihr Leben getreten war. Sie hatteihre eigene Familie gegründet , Kinder bekommen. Maria Bauer war seit ihrer Kindheit der Gedanke anerzogen worden, dass es für die Frau in der Welt nur drei wichtige Dinge gibt: Haus, Familie, Kinder. Was der Mann sagt, das wird auch gemacht. Obwohl Jakob jünger als Maria war, blieb er immer das Oberhaupt der Familie und ihr Ernährer.

Jakob Schmal war sechzehn Jahre alt, als er Maria 1942 im Durchgangslager kennenlernte. Alle älteren Burschen und Männer, die in die RegionKrasnojarsk verschleppt worden waren, mußten sogleich zum Arbeiten in die Holzfällerei. Jakob wurde mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder auf die Tajmyr-Halbinsel geschickt. Den älteren Brüdern, die weit entfernt in den Krasnojarsker Wäldern in der Trudarmee zurückgeblieben waren, ging es nicht besser, als den nach Tajmyr Verbannten. Später, wenn es den Brüdern gelang ein paar Zeilen zu schreiben, berichteten sie darüber, was aus ihnen, aus ihrem Leben geworden war und dass sich Tag für Tag dasselbe wiederholte: Kälte, Hunger, die alle Kräfte übersteigende Arbeit. Die Trudarmisten bekamen eine trübe Wassersuppe aus Fischköpfen zu essen, die nicht im geringsten satt machte. Auf diese Weise starb dann auch einer von Jakobs Brüdern in der Holzfällerei.

Maria war fünf Jahre älter als Jakob, aber damals hatte dieser Tatbestand keinerlei Bedeutung. Der Krieg näherte sich seinem Ende zu, das Leben verlangte das Seine: in den seltenen freien Stunden versammelten sich die jungen Leute in der Roten Ecke des Kontors, bereitete dort Konzerte und Aufführungen vor. Jakob und Maria heirateten gleich nach dem Krieg. 1949 wurde ihr erster Sohn geboren, dann der zweite und anschließend zwei Töchter.

Als man für die Sonderumsiedler das Abreiseverbot aufhob, fuhren Jakobs Verwandten – Mutter, Brüder und Schwestern - ins ferne, warme Kasachstan, wo während des Krieges viele Deutsche geblieben waren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion reisten Jakob Schmals Verwandte nach Deutschland aus. Er selbst wollte nicht mitkommen.

Nach den Worten der Angehörigen wollte derVater seinen angestammten Platz nicht verlassen. Die Umsiedlung von der Wolga und später der Umzug aus Ust-Chantajka hatten ihm fürs ganze Leben gereicht. Und so geht das auch nicht – man fährt nicht einfach weg, weil woanders die Menschen besser sind, meint er. Aber hier ... hier in Potapowo kannman doch leben. Wenn man nur ein paar Hände und einen denkenden Kopf auf den Schultern hat. Und beides kann man den Sowjet-Deutschen nicht wegnehmen.

***

Nach dem Krieg schickten sie Jakob Schmal ans landwirtschaftliche Technikum in Dudinka. Als er fertig wurde bekam er in der Fischerei-Kooperative eine Arbeit als Beschaffer. Und überhaupt waren die beiden Eheleute nicht faul – sie hielten Vieh, bauten im Garten Gemüse an und zogen ihre Kinder groß.

- In der Kolchose, erinnert sich Maria Jakowlewna, - arbeiten wir für eine paar erbärmliche Tagesarbeitseinheiten – wir bekamen 7 Rubel für einen Tag und 3 Rubel für einen halben. Aber wir taten unsere Arbeit, und für unsere geleisteten Tagesarbeitseinheiten bekamen wir all das, was wir selber in der Kolchose angebaut hatten.

Bis heute denkt Maria Jakowlewna mit Wehmut an Ust-Chantajka zurück. Gern wäre sie dorthin zurückgekehrt. Ein Teil ihrer Seele ist dort geblieben, dort verbrahcte sie ihre Jugend, dort verliebte sie sich, dort erfuhr sie das Glück des Mutterseins. Nach Potapowo zog die Familie 1957 um, als Ust-Chantajka zum Dorf ohne Perspektiven erklärt wurde – die Schule des Waldsanatoriums wurde geschlossen, alle Arbeiten wurden eingestellt, die dortigen öffentlichen Einrichtungen aufgegeben. Einige der Deutschen fuhren aufs „Festland“ zu ihren Verwandten, andere zogen mitsamt ihren Holzhäusern, Vieh und Hausrat nach Potapowo um. Mit vier Kindern gingen Jakob und Maria aus Ust-Chantajka fort. Die beiden jüngsten Kinder – Wolodja und Mascha – wurden späterin otapowo geboren. Als sie in diese Siedlung umzogen, ließen sie sich fast unmittelbar am Ufer des Jenisej nieder – am Fuße eines steilen, hohen Berges. Und obwohl die Familie später noch einmal das Quartier wechselte und in eine Neubausiedlung im Zentrum zog, nennen sie den Berg seit jener Zeit den Schmal-Berg.

Viele Jahre arbeitete Maria auf der potapowsker Pelztierfarm, kochte, feudelte die Fußböden. Stets hat sie gearbeitet und nie die Hände in den Schoß gelegt. Erst mit 68 Jahren ging sie in Rente.

- Was meinen Sie: wie kann man das verjemals vergeben, was damals mit dem gesamten Volk geschehen ist? – frage ich die kluge Frau, die soviel Leid in ihrem Leben erfahren hat.

- Glaubst du an Gott?“ – stellt Maria Jakowlewna unverhofft ihre Gegenfrage und schaut mich dabei prüfend an. Sie schweigt einen Augenblick und fügt dann hinzu: - Gott urteilt über alle. Hier werde ich sterben. In der Heimat, - beendet Maria Jakowlewna mit müder Stimme unser Gespräch.

Und dem kann man auch nichts mehr hinzufügen. Man muß sich vielmehr vor den alten Menchen verneigen, auf deren Los so viele harte und grausame Schicksalsschläge entfielen.

... Der Wind krümmt die Eberesche am Schmal-Berg, wirbelt die purpurnen Blätter auf. Das dünne Bäumchen, das sich wie durch ein Wunder am Hang des ziemlich abschüssigen Hügels, den nicht jeder erklimmen kann, ein Plätzchen gesucht hat, biegt sich, aber es bricht nicht. Genau wie der Mensch – der eine bekommt sofort einen Knacks weg, den anderen krümmt das Leben zu einem Bogen – und er nimmt es so an, wie es ist und richtet sich wieder auf. Und ehe du dich versiehst – keimt um ihn herum bereits die junge, kräftige und standhafte Nachkommenschaft auf. Das bedeutet: das Leben ist nicht zuende und nichts war umsonst...

Irina APLESNEWA
„Tajmyr“, 28.09.2007
N° 610
Am Fuße des Schmal-Berges
N° 256
Ein Leben leben – bedeutet nicht einfach ein Feld zu überqueren. Davon konnte sich Maria Jakowlewna am eigenen Leib überzeugen.
N° 551
Maria Jakowlewna die Jüngere widmete sich der Pädagogik. Nach Beendigung der Igarsker Fachschule für Pädagogik und anschließend des Krasnojarsker Instituts für Pädagogik kehrte Maria Schmal in die Heimat zurück und unterrichtet dort and der Schule von Potapowo.
N° 229
Anna Jakowlewna Sawadowskaja (geborene Schmal), die älteste von Maria Jakowlewnas Schwestern, ist diplomierte Buchhalterin von Beruf. Aber seit man in der Dorfverwaltung Kürzungsmaßnahmen durchgeführt hat, ist sie arbeitslos. Sie nimmt jede Möglichkeit war,
sich mit irgendwelchen Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen, wie beispielsweise in diesem Sommer, als sie im örtlichen Laden aushalf.


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