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Viel Glück, Jegorytsch!

Über Menschen, die die stalinistischen Repressionen überlebt haben

Als sein Herz unter all den völlig gleich aussehenden Plattenbau-Elementen und Ziegelsteinkästen von Dudinka schwer und traurig wurde, machte er sich bereit für den Aufbruch an einen Ort, der ein wenig weiter von den städtischen Straßen, von Autos und Hektik, entfernt lag – er machte sich auf ins freie Leben, dorthin, wo einem der hohe, blaue Himmel in die Augen stach und die Sonne so sehr strahlte, daß die Brust ganz und gar vom Glück über die leuchtenden Farben der dörflichen Landschaft erstrahlte. Er fuhr dorthin, wo er selber irgendwann einmal gelebt hatte, wo eine Teilchen seiner Seele zurückgeblieben war, - dorthin, wo der trügerisch-liebkosende, mächtige Jenisej die mit Kieselsteinen und Sand bedeckten Ufer umzüngelt und damit den Motorschiffen eine erfolgreiche Fahrt und den Fischern einen guten Fang verheißen hatte.

In letzter Zeit hatte er häufig Sehnsucht gehabt, eigentlich schon sehr lang – seit er diese Welt verlassen hatte, genauer gesagt: seine treue Gefährtin und Ehefrau Brigitta, mit der er nicht nur ein Dutzend Jahre Seite an Seite gelebt hatte. Die Sehnsucht überfiel ihn ganz plötzlich mit einer Beklemmung, die sich kalt wie Schneeklumpen anfühlte. Krampfartig zuckte er mit dem ganzen Körper zusammen und bemühte sich vergebens, die Empfindung abzuschütteln, aber er begriff, daß er dorthin aufbrechen mußte. An den Ort, wo alles gut, wo alles anders sein würde. Er glaubte fest daran, schmiegte sich mit seinem ganzen Wesen an die heimatliche Erde. Dieser Streifen Festland, der sich am Ufer des Jenisej erstreckte, das war für ihn das Wichtigste im Leben – genau wie bei Margaret Mitchells Heldin in dem Roman „Vom Winde verweht“ ...

Diamantaugen

Als ich auf dem Hof des Potapowsker Farmers Konstantin Koch eintraf, sah ich ein auf den ersten Blick recht unansehnliches Großväterchen, das in dem Durchgang zwischen Kuhställen und Schweinetrögen geschäftig hin- und herlief. „Wird wohl ein Hilfsarbeiter sein“, - schoß es mir aus irgendeinem Grund durch den Kopf. Mit jeder Bewegung des Großvaters, jedesmal, wenn er seine simple Tätigkeit uim Kuh- oder Hühnerstall erledigte, fühlte man seinen ganzen Fleiß, seine Liebe zur Arbeit, seine Bereitschaft sich anzustrengen. Als ich mich gerade mit ihm bekanntmachen wollte, sah mich das Großväterchen mit den flauschigen Augenbrauen urplötzlich an und meinte: „Ich kann mich an Sie erinnern.

Ich erstarrte vor dieser unerwarteten Bemerkung. Es kam mir vor, als hätte ich diesen Mann noch nie gesehen, und mein Gedächtnis läßt mich, Gott sei Dank, bisher noch nicht im Stich.

- In Dudinka hab’ ich Sie gesehen, - fuhr mein Gesprächspartner fort.

- Das gibt’s doch nicht! Da haben Sie mich einmal gesehen und behalten das Ihr Leben lang in der Erinnerung? – frage ich ungläubig.

- Ja, ich hab’ mich sofort daran erinnert, - erwiderte der Großvater, der über derart phänomenale Fähigkeiten verfügte, bescheiden, und nachdem er einen kurzen Moment geschwiegen hatte, nannte er seinen Namen:

- Jegorytsch.

So kam es dazu, daß ich mit Aleksandr Jegorowitsch Wakker (Wacker) Bekanntschaft schloß, einer von denen, die während des Großen Vaterländischen Krieges in Güterwaggons quer durch das gesamte Land transportiert, auf Lastkähne verladen und in den entfernten Norden verschickt wurden, um für immer an den Ufern des Jenisej zu bleiben, an der Küste der Kara-See. Mit den Transporten fuhren auch Frauen, Kinder und alte Menschen. Man nannte sie Sonderumsiedler, aber für die Behörden waren sie, so oder so, nichts anders als Feinde. Feinde, die bestraft und nicht auch noch durchgefüttert werden mußten. Zusammen mit vielen anderen Deutschen fuhr die Familie Wakker im Eisenbahnwaggon in die weit entfernte Krasnojarsker Region: die Mutter mit ihren beiden Söhnen. Den Vater hatten sie bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch von Zuhause fortgeholt: man hatte ihn mit unbekanntem Ziel abtransportiert; niemand hörte jemals wieder etwas von ihm. Nach dem Krieg bemühten sie sich den Vater zu suchen – sie schrieben an verschiedene Einrichtungen, fragten bei den Militärbehörden nach, aber alles war vergeblich. Jegor Wakker wurde zu einem der winzig kleinen Sandkörnchen in der blutigen Maschinerie des großen Terrors.

Die Wirren des Lebens

Der brennende Kopf eines Holzspans pendelte in der feuchten, stickigen Luft der engen Erdhütte hin und her, drohte jeden Augenblick ein letztes Mal aufzuflackern und zu erlöschen. Der fünfjährige Sascha Wakker saß auf dem Fußboden, die Beine unter sich verschränkt, und war eifrig dabei, das an einigen Stellen zerrissene Fischernetz zu entwirren – Masche für Masche. Das riesige Netz hatten sie in Stücke geschnitten und den Kindern zum Reparieren gegeben – für 1-2 kg Brot am Tag. Fast alle von Saschas Altersgenossen saßen „am Netz“; um zu überleben mußten sogar die Kleinsten bei der Arbeit mithelfen. Sascha erkannte die stramm gezogenen Knoten durch bloßes Tasten. Die Finger gehorchten nur schwer – sie schmerzten und froren. Zu gerne hätte er sich zusammengekauert und wäre sogleich auf dem Erdboden eingeschlafen, indem er sich an die mit Stroh und Gras gefüllte Matratze schmiegte.

Die Augen tränten vor lauter Anstrengung, so daß er das Netz ganz nah ans Gericht heranziehen mußte. Aber man durfte die Arbeit ja nicht so einfach liegenlassen. Mit seinen fünf Jahren hatte das Jungchen sehr wohl begriffen, daß dies alles hier kein Spaß war. Diesbezüglich gestaltete sich die Arithmetik sehr einfach: du entknotest das Netz, man gibt dir Brot – tust du’s nicht, wirst du am Hungertuch nagen.

Die erfrorenen Beine juckten erbarmungslos, Sascha kratzte immer wieder mit der Ferse des jeweils anderen Fußes an seinen Knöcheln. Bis weit in den Spätherbst hinein waren die Jungen und Mädchen stets barfuß nach Ust-Chatajka gelaufen. Schuhwerk hatten lediglich die Fischer, sofern man deren unvorstellbaren Lumpen und Fetzen an den Füßen als Schuhwerk bezeichnen konnte, mit denen die Sonderumsiedler ihre Füße und Beine umwickelten. Damit diese Beinkleider nicht vollständig auseinanderfielen,, wurden sie mit einer Schnur festgebunden, nur die Zehen schauten noch hervor, aber sie mußten in der Kleidung arbeiten, die ihnen zur Verfügung stand. Als man die sowjetdeutschen Familien aus dem Wolgagebiet deportierte, gestattete man ihnen nur, etwas Wäsche und Oberbekleidung zum Wechseln mitzunehmen. Unterwegs nutzten die Menschen ihre Kleidung haben, verdarben sie, und die Schuhe, die sie trugen, erwiesen sich als völlig ungeeignet. Zudem waren sie gezwungen, sich auch noch um ihre Behausungen zu kümmern und darum, daß sie nicht vor lauter Hunger starben.

Nachdem die Sonderumsiedler am Ufer abgesetzt worden waren, ließen die Bevollmächtigten ihnen weder Äxte, noch Sägen oder irgendwelche anderen Bauwerkzeuge zurück. Unterkünfte am Ufer von Ust-Chantajka gab es nicht. Nur in weiter Ferne waren zwei-drei aus rohen Balken zusammengehauene Hütten und ein kleiner Kiosk zu sehen, in dem die Umsiedler dennoch nichts kaufen konnten – sie besaßen ja gar kein Geld.

Auf nackten Steinen mußten sie schlafen, die sie ztuvor mit irgendwelchen Lumpen bedeckten. Nachdem sie den Jenisej weiter flußabwärts bis zur Siedlung Potapowo gefahren waren, ließen die Bevollmächtigten für die Umsiedler zwei oder drei Zelte zurück – und das sollte dann ihre künftige Behausung für den grimmigen Polarwinter sein. Frauen, alte Leute und Kinder begannen Erdhütten auszugraben. Dazu verwendeten sie alle möglichen Scherben und Spitze Gegenstände, die dort zufällig herumlagen. In Erdhütten und mit Brettern abgedichteten Zelten lebten die Umsiedler etwa eineinhalb bis zwei Jahre. Dann kamen vom Oberlauf des Jenisej Flöße angefahren, und die Behörde aus Dudinka ließen Bauwerkzeuge bringen – Sägen, Äxte, Schaufeln. Alle, die noch nicht an Hunger, Kälte und Krankheiten gestorben waren, begannen mit dem Bau von Baracken. Mit den Jahren erlangten die Umsiedler sogar gewisse Fertigkeiten bei der Herstellung von Ziegelsteinen. In besondere Formen gossen sie eine Mischung aus Lehm und Stroh. Dann ließen sie die Ziegel trocknen; anschließend wurden sie gebrannt. Und dann konnten sie damit Öfen setzen und in ihren Häusern aufstellen.

Während des Krieges bestellten die Verbannten ihre Obst-und Gemüsegärten. Es enstand eine Kolchose. Auf der gegenüberliegenden Seite des Jenisej befreiten sie ein 12 Hektar großes Waldstück von Bäumen und pflanzten dort Gemüse an – Kartoffeln, Runkelrüben, Radieschen, Lauch, Kohl – eine bis zu dem Zeitpunkt auf der Halbinsel Tajmyr noch nie dagewesene Pflanzenwelt. Hier befanden sich auch die Kolchos-Vorratslager. Für ihre geleisteten Tagesarbeitseinheiten erhielten die Menschen das Gemüse, das sie mit ihren eigenen Händen angebaut hatten. Der mit Stallmist gedüngter tajmyrsker Boden erwies sich als äußerst ertragreich – die Kohlköpf erreichten bisweilen ein Gewicht von fünf Kilogramm. Im Krieg gab es derart6ige Gärten nicht nur in Ust-Chantajka, sondern auch in Potapowo. Im Schulmuseum zeigte man mir seltene Aufnahmen aus jenen Jahren, auf denen die an einem Abhang gelegenen, schnurgeraden, wie mit einem Lineal gezogen, Quadrate der potapowsker Gartenanlagen zu sehen waren, welche die Siedlung umsäumten. Jener Teil von Potapowo, in dem sich die Verbannten niederließen, hieß Berlin. Hier stehen auch heute noch einpaar kleine Häuschen.

Manchmal gehen die Bewohner von Chantajker im Schlepptau ...

Nach dem Krieg entstanden in Ust-Chantajka ein Kindergarten, eine Internatsschule, eine Pelztierfarm und ein Viehzuchtbetrieb. Wegen ihrer Gärten sind Ust-Chantajka und Potapowo im gesamten Tajmyr-Gebiet berühmt. Aleksander Jegorowitsch erinnert sich, wie die Männer das Gemüse in Booten von Ust-Chantajka nach Dudinka brachten. Drei oder vier Boote bildeten eine Karawane und waren dann ungefähr zweieinhalb Tage unterwegs. Oft verwendetenen die Männer dicke Seile, und dann zogen die bis an den Rand beladenen Boote im Schlepptau flußabwärts. Gewöhnlich war es so, daß zwei Mann ruderten, einer saß am Heck und steurte, und die übrigen zogen das Schleppseil. Sie schliefen auf dem Boot, nachdem sie es in eine geschützte Bucht oder den Seitenarm eines Sees gelenkt hatten. Wenn dann vor ihnen das hölzerne Gebäude des Flußbahnhofs von Dudinka in Sicht kam, konnte man merken, wie die Ruderer sich wieder ein wenig mutiger ins Zeug legten. Das Gemüse übergaben sie dem Abnehmer direkt an der Anlegestelle des Flußbahnhofs, und nachdem sie für den Rückweg Proviant, Textilien, Nägel und andere für Haus und Hof wichtige Dinge geladen hatten, machten sie sich wieder auf den Weg nach Ust-Chantajka. Der Rückweg dauerte insgesamt drei Tage – flußaufwärts, gegen die Strömung zu fahren, das war schon etwas schwieriger. Im Sommer, berichtet Jegorytsch, unternahmen sie in der Regel zwei oder drei solcher Fahrten.

Ende der 1950er Jahre, als das Internat in Ust.Chantajka geschlossen wurde, liquidierte man auch den Viehzuchtbetrieb und die Pelztierfarm; man war der Meinung, die Siedlung sei ohne Perspektiven. Da zog die Familie nach Potapowo um. Zu jener Zeit wuchsen bei Aleksandr Jegorowitsch und Brigitta Genrichowna Wakker zwei Töchter auf – Lilija und Elsa. Ihr ganzes Leben lang arbeiteten die Eheleute Wakker und legten niemals die Hände in den Schoß. Niemals saßen sie untätig herum und hielten neben ihrer Haupttätigkeit auf dem Viehhof der Sowchose auch noch Kühe und Schweine auf ihrem eigenen, kleinen Bauernhof. Auf der anderen Seite des Jenisej lagen die Reviere für Heubeschaffung: hier wurde das Heu gemäht, getrocknet und zu Schobern gelagert. Die Arbeit brachte Gewinn, man mußte sich nur ordentlich ranhalten.

Wie sehr man auch herumwirbelte, irgendwann hatte einen doch das Alter eingeholt. Das Zurechtkommen in Haus und Hof begann beschwerlicher zu werden, genau so wie das Herausfischen von jeweils 40 Kubikmetern Baumstämmen aus dem Jenisej: denn auf diese Weise beschaffen sich die Bewohner von Potapowo ihr Brennholz für den Winter. Zudem machte sich Jegorytschs bereits in der Kindheit verkrüppeltes Bein mehr und mehr bemerkbar. Als man Ehefrau Brigitta, als ausgezeichneter Pelztierzüchterin, schließlich in Dudinka eine schöne Wöhnung zuteilte, zogen die Eheleute in die Stadt um. Sie wollten im Alter ein warmes und ruhiges Leben führen. Da Jegorytsch sich sein Leben lang ums Vieh gekümmert hatte, suchte er sich auch in Dudinka eine entsprechende Arbei – auf einem Pferdehof. Dort gab es ein beheiztes Gewächshaus, in dem Gurken und Blumen gezogen wurden. Später wurde Jegorytsch Wärter am Zentrallager, und das war auch sein letzter Arbeitsplatz, bevor er in Rente ging. Jetzt ist Jegorytsch ein freier und ungebundener Rentner.

Wenn seine Seele Verlangen spürt, dann fährt er nach Potapowo und arbeitet ein Weilchen auf dem Bauernhof seines Enkels Konstantin Koch. Der Großvater ist zufrieden, daß der Enkelsohn sein Leben der Landwirtschaft widmet, und deswegen hilft er ihm auch gern, soweit es seine Kräfte erlauben.

Vor zwei Jahren haben Großvater und Enkel ein Metallkreut zusammengeschweißt, es nach Ust-Chantajka gebracht und dort an der höchsten Stelle zum Gedenken an hunderte unschuldig umgekommener Landsleute aufgestellt.

- Heute gibt es dort nichts mehr, nur noch hohes Unkraut, - sagt Jegorytsch. – Das ganze Massengrab ist davon überwuchert. Man kommt einfach nicht hindurch; es ist unmöglich, sich einen Weg durch das Grasdickicht zu bahnen.

Nachdem er das ausgesprochen hat, schweigt Jegorytsch für längere Zeit. Seine Augen füllen sich mit Tränen, wohl teils wegen des Papirossiqualms, aber auch wegen der bitteren Erinnerungen und düsteren Gedanken, die seine Seele aufgerieben haben.

... Das trockene Steppengras wiegt sich im Wind und gibt von Zeit zu Zeit ein kratzendes, raschelndes Geräusch von sich. Die Saatkörner fliegen im Winde auseinander, um dann im Frühjahr überall als junge Sprößlingen aufzukeimen; die Gräber der entfernten Vergangenheit wachsen zu, die Seelenwunden ziehen sich zusammen und vernarben. Nur die Erinnerung trägt uns immer häufiger in die Vergangenheit zurück.

Jahr für Jahr finden sich neue Fakten, Aufenzeugen und Zeugnisse jener fernen Ereignisse, und wieder einmal schauen wir, aber immer noch mit dem selben ursprünglichen Grauen, auf das, was damals mit unseren Eltern, Großvätern, Brüdern und Schwestern, mit unserem ganzen Lande geschah. Und wir begreifen, daß wir all unsere verfügbaren Kräfte aufbringen müssen, damit sich so etwas niemals wiederholt.

Irina Aplesnewa
„Tajmyr“, 26.-31. Oktober 2007


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