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Nicht Hobelspäne, sondern Menschen!

So traurig es auch sein mag, aber selbst in unserer scheinbar demokratischen Zeit gibt es nicht wenige Bürger, die nicht nur dazu neigen den stalinistischen Terror zu rechtfertigen, sondern sich auch voller Nostalgie in jene alten Zeiten zurücksehnen, als das Land von einem „strengen, aber gerechten Gebieter“ gelenkt wurde. Und wenn es um die vielen Repressionsopfer geht, dann kann man nicht selten immer dieselbe unmenschliche Redensart zu hören bekommen: „Wo gehobelt wird – da fallen auch Späne“...

Aber von diesen „Spänen“ gab es im Lande hunderttausende - und ganz besonders viele in unserer Region. Sogar heute, siebzig Jahre nach dem Beginn des Großen Terrors, leben auf dem Territorium der Region Krasnojarsk mehr als 25000 Menschen, die unter den Repressionen zu leiden hatten. Deshalb fordern wir zum Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Repressionen, der am 30. Oktober begangenen wird, unsere Leser auf, zu folgender Frage Stellung zu nehmen: erweist der Staat den Repressionsopfern und ihren Familienmitgliedern ausreichende Hilfe? Die Telefone standen überhaupt nicht mehr still.....

- Vergünstigungen haben wir, aber kann man diese Vergünstigungen denn vergleichen mich all den Entbehrungen, die wir erleiden mußten?! – begann Jelena Andrejewna Juschkowa ihren aufgeregten Monolog. Sie lebt im Oktober-Bezirk der Regionshauptstadt. – Meinen Vater hab’ ich verloren, als ich fünf Jahre alt war – am 23. August 1937 haben sie ihn verhaftet, und am 18. Januar 1938 wurde er bereits erschossen. Mama wurde dadurch gerettet, dass sie eine Woche nach seiner Verhaftung ins Krankenhaus mußte, und danach haben Freunde sie versteckt. In den 1950er Jahren wurde der Vater rehabilitiert, und sie stellten eine Bescheinigung aus, nach der er 1942 an einem Lungengangrän verstorben war. Aber dass sie ihn erschossen haben, das erfuhr ich erst in den 1990er Jahren. Unser ganzes Leben lang haben sie uns belogen! Und lebenslänglich haben wir in Angst und unter Entbehrungen gelebt. Wenn wir schon von den heutigen Vergünstigungen sprechen, dann würde ich mir wünschen, dass man wenigstens einen Teil der Medikamente und Arzneimittel kostenlos an uns abgibt. Und es wäre auch nicht schlecht, wenn man sich an diesem traurigen Gedenktag auch an uns erinnern würde, und es wäre sehr schön, wenn wir vielleicht ein wenig Konfekt oder eine Postkarte bekämen!

Um der Gerechtigkeit willen muß hier angemerkt werden, dass die Bezirkssozialämter in diesen Tagen Gedenkabende für Repressionsopfer durchführen, ihnen Geschenke überreichen (sehr bescheidene, versteht sich). So wurde im Zentral-Bezirk, am Theater der musikalischen Komödie, „Juno und Avos“ aufgeführt (aber leider konnten nicht alle, die gern dorthingegangen wären, eingeladen werden – denn im Bezirk gibt es einige tausend Repressionsopfer). Man wird sich also künftig darum bemühen müssen, dass die staatliche Güte auch wirklich für alle ausreicht, ohne jede Ausnahme.

Eine andere Landsmännin von uns, Vera Parfentjewna Danilowa, die auch schon jahrelang Abonnentin der Zeitung „Krasnojarsker Arbeiter“ ist, rügte die Journalisten, weil sie so selten über Menschen wie sie, also Opfer der stalinistischen Repressionen, schreiben:

- Meine Eltern wurden im Gebiet Tschita, Nertschinsker Bezirk enteignet; von dort verschleppte man sie nach Igarka, wo ich später geboren wurde. Und meine ältere Schwester, Maria Polupoltynnich, starb unterwegs. Sie wurde zusammen mit vielen anderen, genauso unglückseligen Kreaturen, im Dorf Nikulino am Ufer des Jenisej, begraben. Anfang der 1970er Jahre stellte man dort für die Opfer der Repressionen ein Denkmal auf. Damals war unsere Familie ziemlich groß; wir waren Kosaken, zwanzig Personen, und lebten in Klans zusammen. Mein Onkel war Geistlicher; Ende der 1930er Jahre erschossen sie ihn. In Igarka beendete ich die Sieben-Klassen-Schule, zum Weiterlernen gab es keine Gelegenheit. Unsere Eltern waren so verängstigt, dass sogar wir, die Kinder, Angst hatten, von all dem zu erzählen. In dieser schrecklichen Furcht haben wir unser ganzes Leben verbracht. Und jetzt denken sie nur seltenan uns, und der Staat hat keine Eile damit, seine Schulden zurückzuzahlen; und ihr, die Journalisten, berichtet viel zu selten von unseren Bedürfnissen, den elenden Rentenzulagen, den spärlichen Vergünstigungen ...

Stanislawa Stanislawowna Zarjuk, die auf dem nach derZeitung benannten Prospekt „Krasnojarsker Arbeiter“ wohnt und unsere Zeitung bereits seit mehr als vierzig Jahren abonniert, geriet zum ersten Mal nach dem Krieg an die Ufer des Jenisej – und das nicht aus freien Stücken:

- Wir wurden 1949 aus dem Baltikum vertrieben, als man unseren Papa enteignete. Ja, er war ein wohlhabender Farmer gewesen, wir besaßen Lohnarbeiter, aber die Mahlzeiten nahmen sie mit uns zusammen an ein und demselben Tisch ein. Viele sagten dem Vater: „Tritt in die Partei ein, so lange es noch nicht zu spät ist!“ Aber er weigerte sich – und dann ... Ich war damals 9 Jahre alt, meine Schwester 4. Sie brachten uns in Viehwaggons nach Sibirien und lieferten uns im Dorf Wagino, Bogotolsker Bezirk, ab. Es war ein wunderbares Dorf! Ich beendete dort die Zehn-Klasen-Schule und besuchte anschließend das Technik.

Jetzt bin ich in Rente, habe eitrige Hautwunden wie Sand am Meer, - fährt Stanislawa Stanislawowna mit ihrer Erzählung fort. – Ich will mich nicht beklagen, aber das Leben ist schwer, sehr schwer. Ich bekomme allerdings eine Rentenzulage von 90 Rubel (ist das nicht eine lächerliche Zahl?), einmal pro Jahr eine freie Fahrt mit dem Zug. Und die üblichen Vergünstigungen – 50 Prozent für die Wohnung, für Gas, Strom und Arzneimittel -, genauso wie alle anderen Unterstützungsempfänger. Übrigens, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit einmal auf die Liste der Medikamente, die bezuschußt werden: sie wird immer kürzer. Ich benötige beispielsweise ständig Salben gegen deformierende Osteoporose, aber sie stehen überhaupt nicht auf der Liste – und für jede kleine Tube muß ich 90-170 Rubel bezahlen. Zudem sind in letzter Zeit die Lebensmittel schrecklich teuer geworden. Ich verstehe: bei uns herrscht Demokratie, freie Marktwirtschaft – aber kann man denn keine vernünftige Ordnung in die Preise bekommen? Oder wird sich unser Staat immer von einem Extrem ins andere stürzen – mal Despotismus, mal völlige Anarchie und keinerlei Ordnung?!

Der im Leninsker Bezirk lebende Nikolaj Andrejewitsch Kirillow riet mir mit leichtem Sarkasmus, „einen Blick in meine Zeitung zum 70-jährigen Rückblick zu werfen“ und die heutige Position im Hinblick auf den Stalin-Terror etwas deutlicher zu charakterisiren:

- Es handelte sich ja nicht bloß um einfache Überprüfungen, - bemerkte er ganz vernünftig, - sondern vielmehr um die planmäßige, volksfeindliche Politik eines verbrecherischen Staates. Ich selber stamme aus einer Kosakenfamilie; sie haben uns alle enteignet und 1931 aus der Baikalregion verschleppt. Ich wurde bereits in der Zwangsansiedlung geboren, in der Siedlung Tatarka an der Angara. Der Vater war kein Kulak, er war lediglich ein wohlhabender Bauer, der keinen schlechten Verdienst mit dem Trasnport von Lebensmitteln zu den Goldminen machte. Und als 1937 die Welle der Repressionsmaßnahmen einsetzte, verlangten die örtlichen NKWD-Mitarbeiter von ihm, er solle „das versteclte Gold herausgeben“. Sie prügelten ihn, übergossen ihn mit kaltem Wasser und ließen ihn im eisigen Frost stehen. So kam er ums Leben. Und mein Onkel wurde erschossen. Sie alle findet man im „Buch er Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen“. Aus Tschita erhielt ich für den Vater eine Rehabilitationsbescheinigung, und in Krasnokjarsk – da hatten sie über ihn weder bei der UWD noch beim KGB irgendwelche Unterlagen über ihn, nichts, worin er erwähnt wird. Ich habe mehrmals dorthin geschrieben – und stieß nur gegen taube Wände!

Und im großen und ganzen kümmerte sich unser Staat auch heute nicht besonders um uns. Was sind schon 90 Rubel Rentenzulage! Und diese paar Groschen geben sie auch nur denen, die vor 1997 den Rehabilitiertenstatus erhalten haben.

Wir baten den Vorsitzenden der Krasnojarsker Menschenrechtsorganisation „Memorial“, Aleksej Babij, die Situation zu kommentieren:

- Das größte Problem, das allen Sozialhilfe-Empfängern gemeinsam ist, sind natürlich die bezuschußten Arzneien, - sagte Aleksej Andrejewitsch. - Die Menschen suchen solche Medikamente, aber es gibt sie nicht. Nach Meinung vieler Repressionsopfer werden sie daduch nur dazu getrieben, sich mit dem Sozialpaket einverstanden zu erklären. Bezuschußte Medikamente sollen an Sozialhilfeempfänger gehen, aber jetzt ist es so, dass die Apotheken Geld aus dem Budget erhalten - nur Arzneimittel geben sie den Kranken nicht. Worin liegt der Grund dafür? Es gibt zwei: entweder arbeitet das System uneffektiv oder es ist kriminell. Das ganze verlangt Kontrollmaßnahmen und Verbesserungen.

Außerdem gelingt es vielen nicht, sich noch eine andere Vergünstigung zunutze zu machen – die jährliche kostenlose Fahrt mit dem Zug. Dieses Problem ließe sich lösen, wenn die Leute bei den Organen der Sozialbehörde einen speziellen Gutschein erhalten würden, für den sie dann an der Kasse einen Fahrschein erwerben und diesen ans Sozialamt zurückgeben könnten. Derzeit ist es so, dass diese Gelder „aufgrund des Budgets“ häufig ungenutzt bleiben.

Viele Schwierigkeiten erklären sich dadurch, dass unlängst das Föderale Gesetz N° 122 in Kraft getreten ist, demgemäß jegliche soziale Unterstützung von Rehabilitierten auf Regionalebene verschoben wurde. Dies ist gleich aus zwei Gründen schlecht und ungerecht. Erstens wurden die Menschen nicht von den Regionen repressiert, sondern vom Staat; also muß er es auch sein, der dafür die Verantwortung trägt. Zweitens sind die Regionen imLande ganz verschieden – es gibt arme und reiche. Unsere Region beispielsweise hat alle Sozialleistungen und Vergünstigungen beibehalten, in den ärmeren Regionen hingegegen gibt es praktisch keine Ermäßigungen. Laut einer kürzlich von „Memorial“ durchgeführten Forschungsarbeit gehört die Region Krasnojarsk zu einer er fünf besten Regionen Rußlands in puncto Aufrechterhaltung sozialer Vergünstigungen.

Zum Schluß noch ein paar Anmerkungen dazu, an wen sich unsere Leser bei Fragen und Problemen wenden können.

Zu Rehabilitierungsfragen: an die GUWD der Region Krasnojarsk (ul. Diktatury Proletariata, 23), Sprechstunden täglich von 11 bis 13 Uhr. Zu Fragen bezüglich der Einsichtnahme in Akten von Staatsbürgern, die nach § 58 repressiert wurden: an die Regionalverwaltung des FSB (ul. Dserschiskogo, 18). Zu Vergünstigungen: an die Sozialbehörde des Bezirks. Abschließend noch die Daten der Gesellschaft „Memorial“: ul. Urizkogo, 61, Zimmer 4-27, Tel. 65-13-85.

Eduard RUSAKOW
„Krasnojarsker Arbeiter“, 01.11.2007

FOTO: Der Jenisej hat viele Erinnerungen.
Foto von Ilja Najmuschin (Rejter)


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