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Der Pendel-Effekt

Der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen wurde am 30. Oktober in Krasnojarsk mit der Ausstellung „Das Bauprojekt N° 503“ begangen. Die Exposition lag außerhalb des Territoriums der Eisenbahnlinie Salechard – Igarka (wobei es sich eigentlich auch um das „Bauprojekt N° 503 handelt), die auf den Knochen politischer Häftlinge gebaut (deren Bau jedoch nie fertiggestellt) wurde. Grundlage für die Ausstellung bilden Fotos, Video- und Druckmaterialien der dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus den Archiven. Die Idee, die dahintersteckt, liegt auf der Hand: es soll aufgezeigt werden, wie dünn die Grenzlinie zwischen „gestern“ und „heute“ ist, besonders wenn man das „Gestern“ noch nicht vollständig verarbeitet und begriffen hat. Nach den alten Zeitungsbündeln des „Krasnojarsker Arbeiters“ zu urteilen, war die Freiheit des Wortes im blutigen Jahr 1937 doch zugelassen. Zu den deutlichen Erscheinungsformen kann man die mitten im Herzen der Kolumne der Februarausgabe veröffentlichte Ode „An die Freiheit“ von Aleksander Puschkin zählen. Du selbstherrlicher Bösewicht, Dich, Deinen Thron, den hasse ich. Deinem Untergang, dem Tod der Kinder habe ich mit grausamer Freude vor Augen. Du bist der Schrecken der Welt, die Schande der Natur ...

Unter diese Zeilen, die an den Selbstherrscher Nikolai I. gerichtet waren, hätten viele von denen, die ihren Verstand während der zügellosen Erscheinungsformen des Jahres 1937 noch behalten hatten, ihre Unterschrift gesetzt.

Übrigens, mit dem freiheitsliebenden Puschkin decken sich die Aufzeichnungen der Weberinnen, Ingenieure und Parteimitarbeiter, die einmütig die „Verurteilung der Bande von Anstiftern des Kansker Mühlen-Kombinats“ guthießen oder dazu aufriefen, „das Knäuel der trotzkistischen Speichellecker bis auf den Grund zu entwirren. „Mehr Blut, mehr Blut!“ – schrien die niedergeworfenen „Nachfahren Puschkins“. Natürlich – das bekamen sie. Ein gewisser Ingenieur Terletzkij, der in Form von Zeitungsartikeln die Forderung stellte, „den Kampf gegen die Feinde erbarmungslos und unerbittlich zu führen“, wurde zwei Monate später selber erschossen. Staatsanwalt Ljubaschewskij, der nicht mit Worten, sondern mit Taten gegen die „Trotzkisten“ kämpfte, kamen in dem ganzen Durcheinander des Jahres 1937 ums Leben.

Begreifen wir, daß das blutige Pendel, welches sich in den Tagen des Tauwetters und der Perestrojka zur entgegengesetzten Seite bewegt, bereits wieder zurückschlägt? Haben die Krasnojarsker Studenten begriffen, die sich für die Zwischenprüfung in ihrem Fach am Sonntag auf dem Platz vor dem Großen Konzertsaal versammelt haben, um dort die Einheit des Volkes darzustellen, daß sie lediglich Schachfiguren in einem falschen Spiel sind? Und was werden sie morgen tun, wenn man ihnen – für eine gute Benotung im Examen – anstelle von Fahnen eine Waffe in die Hand drückt und ihnen das Ziel zeigt? Oder jene Dame aus der TV-Sendung, deren Vorfahren unter den Repressionen litten und die auf die Frage, ob wir Stalin brauchen, zur Antowrt gab:

„Ein bißchen brauchen wir ihn schon“ ... Ist sie sich wirklich darüber im klaren, was sie da gesagt hat?

„Das Buch der Erinnerung“ mit den Namen von Repressionsopfern wird bei weitem nicht in allen Regionen herausgebracht. In unserer ist man mit Mühe bis zum Buchstaben „O“ vorgedrungen. Aber der Gesellschaft gelang es nicht, die Jahre der Repressionen zu überdenken – da tauchte auch schon der Befehl des FSB, MWG und des Ministeriums für Kultur (2005) auf, der den Zugang zu den Archiv-Materialien jener Zeit für gesellschaftliche, Menschenrechts- und Forschungsorganisationen verbot, - allen, außer den allernächsten Verwandten von ehemalig Betroffenen. Die Mitarbeiter der Machtstrukturen antworten auf schriftliche Anfragen derer, die aktive Öffentlichkeitsarbeit leisten, aber die Dokumente selbst sind den Geschichtsforschern nur bis zum Jahr 1932 zugänglich.

Margarita BARANOWA.
„Moskauer Komsomolze in Krasnojarsk“, 7. November 2007


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