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Die Jeschow-Ära

Den Begriff „Großer Terror“ der auf die Repressionen der Jahre 1936-1939 Anwendung findet, hat Robert Conquest erfunden. In der Sowjetunion erhielen die zügellosen Erscheinungsformen der Macht in puncto Verhaftungen und Erschießungen bereits 1937 vom Volk den Spitznamen „Jeschowschtschina“ (die Jeschow-Ära; Anm. d. Übers.) – nach dem Familiennamen des damaligen NKWD-Leiters.

Über das Wesentliche jener Ereignisse, über die Gründe und Zielsetzungen setzen sich die Streitgespräche fort. Die Erben von Stalins und Berijas Ideen bestätigen, daß der Terror sich auf die moralisch zersetzte Partei- und Wirtschaftsspitze stürzte; sie wurde durch junge Leute ersetzt, die man auf verantwortliche Posten beförderte. Das ist eine Lüge: Opfer des Terrors wurden in erster Linie die einfachen Staatsbürger – Bauern, Arbeiter, Geistliche, Vertreter der Intelligenz. So schickte as Politbüro den örtlichen Behörden am 2. Juli 1937 ein Telegramm mit dem Befehl, „unverzüglich alle ehemaligen Kulaken zu verhaften ..., die besonders feindlich gesinnten unter ihnen nach Überprüfung ihrer Akten durch eine „Trojka“zu erschießen, und die weniger aktiven, jedoch nicht minder feindlichen, Elemente auszu siedeln“. Wie wir sehen, ist in der Direktive weder von hochgestellten Partei-Mitarbeitern, noch überhaupt von irgendwelchen Parteimitgliedern die Rede.

Erschießung nach Quotenregelung

ALLEIN in den Jahren 1937 und 1938 wurden vom NKWD 1 575 000 Personen verhaftet; in demselben Zeitraum wurden 1 345 000 Menschen verurteilt und 681 692 (51% der insgesamt in den Jahren 1938 und 1938 Verurteilten) erschossen. Die Kommunisten stellten die Minderheit unter den Verhafteten und Erschossenen jener Jahre dar.

Es gibt noch eine weitere Version: angeblich konnte das rasante Tempo beim wirtschaftlichen Wachstum nur durch die Unterstützung des GULAG erreicht werden, und wenn nicht Millionen Menschen zur Holzfällerei, in Schachtanlagen und auf Großbaustellen geschickt worden wären, dann hätte das Land sich nicht auf den Krieg vorbereiten können. Dies ist ein Versuch, die Greueltaten zu rechtfertigen; es zeigt die Unfähigkeit die Produktion zu organisieren. In den Jahren 1912-1913 machte das Wachstumstempo der russischen Wirtschaft 13% jährlich aus – das ist höher als es der Index der 1930er Jahre anzeigt.

Laut Angaben des Allrussischen Zentrums für das Studium der gesellschaftlichen Meinung vertritt etwas mehr als die Hälfte der Einwohner Rußlands die Ansicht, daß Stalin für das Land mehr Gutes, als Schlechtes getan hat. Leider bringt der Untergang vollkommen unschuldiger Menschen manche unserer Landsleute keineswegs in Verlegenheit. Von der Zahl der Repressierten, die einfach nur so „unter die Walze“ gerieten, ohne jeglichen Grund, zeugt die Praxis der für Verhaftungen und Erschießungen angewendeten Quotenregelung, die für den Bereich der Hauptstadt und für alle anderen Orten festgelegt wurde. In Übereinstimmung mit Jeschows Befehl N°. 00447 vom 30. Juli 1937 war jede Region verpflichtet, die vorher festgelegte Anzahl „Volksfeinde“ auch tatsächlich zu ergreifen. Und weil es nur noch wenige „Schneehasen“ (gemeint sind ehemalige Angehörige der Weißen Armee; Anm. d. Übers.), Kaufleute, „Kulaken“ (Großbauern; Anm. d. Übers.) und Geistliche gab, verhafteten sie jeden, der ihnen gerade über den Weg lief, und das einzig allein deswegen, um die „Quote für die der Niederschlagung unterworfenen konterrevolutionären Elemente“ zu erfüllen.

Das „GULAG-Imperium“

In den Jahren der „Jeschowschtschina“ war die Region KRASNOJARSK eines der Zentren des „GULAG-Imperiums“. Etwa 500 000 Menschen durchliefen das Lager, die Gefängnisse oder die Sonderansiedlung. Laut Archivangaben, auf die sich die „Memorial“-Gesellschaft beruft, war von August 1937 bis November 1938, jeder hundertste Einwohner der Region allein durch die „Trojka“ der NKWD-Verwaltung Repressionen ausgesetzt. Ungefähr 70% der Verhafteten wurden erschossen.

Das Krasnojarsker „Buch der Erinnerung“ belegt: „Erschießungen fanden oft und in großer Anzahl statt. So wurden am 06.09.1937 in Krasnojarsk – 58 und am 27.10.1938 – 87 Personen erschossen. In Minusinsk waren es vom 4. bis 5. November 1937 insgesamt 199, und am 8. und 9. Dezember 1937 – 222 Personen. Am 17. März 1938 fanden in Krasnojarsk 123 Menschen den Tod durch Erschießung, in Kansk – 202 ... Der Leiter des Minusinsker NKWD-Sektors, Aleksejew, war der Meinung, daß man mit Patronen sparsam umgehen sollte; er befahl daher während der Erschießungen, „den verwundeten mit einem Spaten den Rest zu geben“.

In demselben Buch heißt es: „Bemerkenswert im Hinblick auf die Anzahl der Anklagen und die Schwere der vorgewiesenen Beschuldigungen war die Ermittlungsakte mit der N°. 4435.

Verhaftungen in dieser Sache wurden sowohl 1937, als auch 1938 vorgenommen ... Es wurde gruppenweise abgeurteilt und auch ganze Gruppen erschossen. Massenhaft wurden Personen des öffentlichen lebens, der Kultur, Ärzte des Krasnojarsker Militärhospitals, Eisenbahner festgenommen. Jeder Unfall im Produktionsprozeß zog Verhaftungen und Erschießungen nach sich“.

Man kann endlos über die Schrecken des „Großen Terrors“ berichten. Aber noch wichtiger, als das endlose Martyrolog der Ermordeten, der bei Verhören zu Tode Gefolterten, der in den Gefängnissen und während der Häftlingstransporte spurlos Verschwundenen, ist es zu verstehen, weshalb Ende der 1930er Jahre die ein paar von unseren eigenen Mitbürgern damit anfingen, auf bestialische Weise und aus völlig unsinnigen Beweggründen heraus, die anderen zu vernichten. Blut – das ist der Nährstoff für Extremisten wie die Bolschewiken es waren. Genosse Stalin war der Ansicht, daß Geistliche, ehemalige „Kulaken“, jene, die einst einer sozialrevolutionären Partei angehört hatten, Kadetten sowie auch innerparteiliche Feinde („Trotzkisten“ und „Bucharinisten“) für die Sowjetmacht eine Gefahr darstellten. Na ja, er war ein grausamer und ungebildeter Mann, der an allen möglichen Manien litt. Aber die Macht der Bolschewiken war auch darum schrecklich, weil das ganze Land blindlings alle paranoiden Befehle des Kreml-Wahnsinnigen ausführte. Beamte und gewöhnliche Bürger wetteiferten bei der hysterischen Entlarvung der „Volsfeinde“.

Dieses Grauen, mit welchem das Land vor 70 Jahren überschüttet wurde, der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, bedeutet, die Erinnerung an jene zu verlieren, die in jenen schrecklichen Jahren ums Leben kamen.

Sergej POLIKARPOW
„Argumente und Fakten am Jenisej“, 07.11.2007


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