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Ein Freispruch für die Henker bringt mit Sicherheit neue hervor

Wenn wir uns der Zeit des Großen Terrors erinnern, dann sprechen wir in der Regel von ihren Opfern und „vergessen“ dabei gänzlich jene, die sie gefoltert und erschossen haben...

Heute ist Aleksej Babij bei der „Heutigen Zeitung“ zu Gast. Er wurde 1954 in der Region Tschita geboren und beendete 1976 die Staatliche Universität Krasnojarsk. Vorsitzender der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft.

Kein Zutritt zu den Archiven

- Aleksej Andrejewitsch, ich habe schon mehrfach darüber nachgedacht, dass jedes unschuldige Opfer von Repressionen seinen Denunzianten und seinen Henker hatte. Wir sprechen immer über die Opfer, verewigen das Gedenken an sie im Buch der Erinnerungen, aber warum schweigen wir eigentlich über ihre Henker?

- Es gibt die gängige Phrase: die eine Hälfte des Landes hat eingesperrt, die andere Hälfte gesessen. Ich binmit diesem Satz nicht einverstanden. Ja, es gab eine Massen-Demoralisierung der Menschen. Und das Denunziantentum wurde von der Obrigkeit angespornt, stimuliert, aber das halbe Land konnte sich daran keineswegs beteiligen. Für gewöhnlich war es so, dass sie einen „Feind“ ausfragten und folterten, mit dem Ziel klarzustellten, wer zu seinem Bekannten- und Freudeskreis gehörte, um dann eine ganze Liste mit potentiellen „Feinden“ zu erstellen. Natürlich gab es Denunziationen, aber nicht immer. Häufig ließen sich die Verleumder von ganz gemeinen merkantilen Impulsen leiten: wer auf welche Weise das Wohnungsproblem löste, wer dadurch Karriere machte, wer mit seinen Nebenbuhlern abrechnete.

Was die Henker betrifft – das Verzeichnis mit den Nachnamen derer, die verhaftet, verhört, die Geständnisse herausgeprügelt haben, konnten wir bislang noch nicht vollständig auf unserer Internetseite (memorial.krsk.ru) ausstellen. In den beiden ersten Bänden des „Buches der Erinnerungen an die Opfer politischer Repressionen“, die in den Jahren 2004 und 2005 herauskamen, sind auch die Namen der NKWD-Mitarbeiter erwähnt, die an den Repressionsmaßnahmen teilnahmen, allerdings sind solche Namen mit dem dritten Band dann verschwunden.

Mehr noch, seit 2006 ist der Zugang zu den uns interessierenden Archiven für Außenstehende, zu den auch wir, die Mitglieder der „Memorial“-Gesellschaft, gehören, aufgrund eines von MWD und FSB herausgegebenen Sonderbefehls verboten. Lediglich Angehörige können die Erlaubnis erhalten, Einsicht in das entsprechende Dossier zu nehmen. Und ihnen wird bei weitem nicht alles gezeigt.

- Eine interessante Kehrtewende in der Politik der Glasnost. Das heißt also, dass Sie genau 70 Jahre nach dem Großen Terror nicht das Recht haben, sich mit den Archiv-Akten des Jahres 1937 vertraut zu machen?!

- So ist es, wir haben nicht das Recht dazu. Jetzt können Außenstehende erst nach einer Ablauffrist von 75 Jahren die Genehmigung erhalten, in den Archiven zu arbeiten. Deshalb sind uns momentan nur Dokumente bis einschließlich 1932 zugänglich, und erst in fünf Jahren werden wir auch die des Jahres 1937 einsehen können.

Namen, die in der Geschichte verbleiben sollen

- Um noch einmal auf das Gespräch über die Henker zurückzukommen, möchte ich die Frage stellen: wer verhindert denn nun, dass ihre Namen in der Geschichte erhalten bleiben?

- Es ist die staatliche Politik. Als das Gesetz über die Monetisierung verabschiedet wurde, da änderte sich auch das Gesetz über die Rehabilitation von Opfern politischer Repressionen. Unter anderem verschwand daraus ganz unbemerkt der Satz über die Veröffentlichung der Listen von Personen, die sich der Akten-Fälschung, der Anwendung illegaler Ermittlungsmethoden und Verbrechen gegen die Gerechtigkeit schuldig gemacht haben. Anschließend fingen die Machthaber an, die Familiennamen von NKWD-Mitarbeitern aus den zu veröffentlichten Dokumenten zu streichen. Das ist eine schmerzliche Frage. Wir arbeiten konstruktiv zusammen, ohne diese Partnerschaft mit ihnen wäre nicht ein einziges „Buch der Erinnerung“ herausgebracht worden. Die Daten und Kenntnisse werden on der regionalen FSB-Behörde genehmigt, und gerade den Mitarbeitern dieses Dienstes verdanken wir die Wiederherstellung des ehrbaren Namens von tausenden Opfern politischer Repressionen. Also im Hinblick auf jene, die diese Repressionen verwirklichten, gehen unsere Ansichten auseinander. Man sagt zu uns: „Wozu die Veteranen kränken und beleidigen?“ sagt man uns oder verweist auf das Gesetz der persönlichen Geheimhaltung. Und so rechtfertigen sie die Taten ihrer Vorgänger: „Was wollt ihr denn? Die Leute haben ihre Dienstpflicht getan. Wenn sie sich widersetzt hätten, wären sie ebenfalls erschossen worden“.

- Aber wenn wir die Henker freisprechen, dann rechtfertigen wir auch die Repressionen!

- Das ist es ja gerade. Wir veröffentlichen diese Namen nicht, um mit irgendjemandem abzurechnen. Die Einschätzung der Vergangenheit ist wichtig für die Gegenwart. Entweder halten sich die heutigen Sonderdienste für Fortsetzer der NKWD-Tradition, oder sie verurteilen sie ohne jegliches Wenn und Aber. Die Machthaber und ihre Mitarbeiter versehen keinen leichten Dienst; viele Male überlegen sie hin und her, bevor sie schließlich gegen ihr Gewissen handeln. In den Repressionsjahren kam es übrigens vor, dass irgendwelche Tschekisten ihrem Leben selbst ein Ende setzten, weil sie an der Gesetzlosigkeit nicht länger teilhaben wollten.

Das gezogene Schwert des Proletariats

- Einmutiger Schritt, denn sie zogen es vor, sich selbst zu bestrafen und nicht die anderen - die Menschen, die keinerlei Schuld traf.

- Es gibt Menschen, auf die man stolz sein kann. Beispielsweise auf den Leiter der Tasejewsker Kreisabteilung der NKWD-Verwaltung, Wasilij Jegorowitsch Spiridonow, der sich auf dem Höhepunkt der Repressionen im Jahre 1937 weigerte, die Akten unschuldiger Menschen zu fälschen und dafür erschossen wurde.

Aber es gab auch das genaue Gegenteil. Den Namen eines Mannes, der Repressionen unterlag und später rehabilitiert wurde, haben wir nicht mit ins Buch der Erinnerung aufgenommen. Es handelt sich um den Leiter des Minusinsker operativen Sektors des NKWD, A.S. Aleksejew. Er erlangte durch seine ausgesprochene Grausamkeit traurige Berühmtheit. In nur einem einzigen Jahr wurden 1500 Menschen erschossen. Aleksejew nahm höchstpersönlich an den Erschießungen teil, und weil nicht alle sofort tot waren, erteilte er den Befehl, den Häftlingen mit Brechstangen den Rest zu geben. Damit wollte er Patronen sparen.

1938 wurde Aleksejew verhaftet, der antisowjetischen Agitation und Mitgliedschaft in einer aufständischen Organisation angeklagt, erwähnten allerdings auch die Begriffe „Amtsmißbrauch und Überschreitung der Amtsbefugnisse“. Er kam ins Lager. Aber bereits nach drei Jahrn wurde er wieder entlassen, und weitere zwei Jahre danach strich man seine Vorstrafe wieder. Versteht sich, dass dieser Name nicht gleichzeitig mit in die Listen derer mit aufgenommen werden kann, die er mit der Brechstange erschlagen ließ. Wir haben dies nicht getan, obwohl er 2002 aufgrund des § 58-2, 11 rehabilitiert wurde: er war in keiner aufständischen Organisation und betrieb auch keine antisowjetische Agitation.

- Man spricht und schreibt häufig liebevoll über den Leiter den Leiter des Norillag – Sawenjagin. War er tatsächlich so netter Mensch?

- Er zog nicht wenige Spezialisten aus den Brigaden für allgemeine Schwerstarbeit ab und stellte sie bei der Norillag-Verwaltung ein. Und was bedeutet Schwerstarbeit? Den sicheren Tod. Vergleichen sie mit anderen Lagerkommandanten – Garanin, den Leiter des SWITL, der der Zar und Gott an der Kolyma war. Er steht nach einem Rausch mit Katzenjammer auf, läßt die Häftlinge in Reih und Glied antreten, und wenn ihm irgendein Gesicht nicht gefällt, dann schießt er ihm eine Kugel in die Stirn. Im Vergleich zu Garanin ist Sawenjagin ein netter Mensch, ja. Aber unter dem Berg Schmidticha in Norilsk liegen tausende Menschen, die erschossen wurden oder vor Hunger und Kälte umkamen. Und das darf man aus der Geschichte auch nicht einfach herauswerfen.

Ein Orden fürs „Aufstöbern und Verhaften“ eines Klassenkameraden

- Es ist schon eine traurige Sache, wenn wir durch Verheimlichen der Henker das Volk betrügen, denn so erfährt es nicht die ganze Wahrheit.

- Ja, und sie werden nicht nur verheimlicht, sondern auch noch als Helden hingestellt. Unlängst druckte eine Krasnojarsker Zeitung in einer ganzen Kolumne ein Interview mit einer ehemaligen Tschekistin ab, in dem der Korrespondent mit höchster Ehrerbietung die Frage stellte, wofür diese den Rotbanner-Orden erhalten habe. Sie antwortet: wohl für eine Angelegenheit, in der sich mein Klassenkamerad Tugowikow, ein Erz-Antisowjet, für schuldig befand. Wir durchforteten unsere Datenbase: Aleksej Prokopjewitsch Tugowikow, Leiter der Radioanlage in der Siedlung Maklakowo, 1943 zu 10 Jahren Arbeits- und Besserungslager verurteilt, aus Mangel an Straftatbestand 1965 rehabilitiert.60 Jahre später bezeichnet sie einen unschuldigen Mann erneut als Volksfeind. Und bis heute haben sie sich bei ihm nicht entschuldigt. Möge die Gerechtigkeit über die „Heutige Zeitung“ wiederhergestellt werden.

Es geht nicht nur um diese alte Frau, niemand wird ihr die Auszeichnung wegnehmen. Es geht um etwas anderes. War eine solche Veröffentlichung vor zehn Jahren noch denkbar und möglich? Und auch Präsident Putin äußerte sich zustimmend über die Lehrmittel für Schulen, in denen Stalin als effektiver Manager bezeichnet wird und die Repressionen nur ganz beiläufig Erwähnung finden – jene Episode aus dem Leben des Landes ist doch ganz unbedeutend. Kürzlich sagte ein Deputierter aus der regionalen Gesetzgebenden Versammlung: wozu sich grämen – insgesamt wurden nur 1700 Menschen repressiert. Lügengeschwätz! Denn die Zahl beziffert lediglich dieErschossenen, und zwar nur die Erschossenen eines einzigen Jahres – 1937. Und dann sind da noch die Gefangenen, Enteigneten, Deportierten ... Allein die Staatliche Behörde für Inneres der Region Krasnojarsk hat in den letzten Jahren mehr als eine halbe Million Rehabilitationsbescheinigungen ausgestellt. In die Presse fällt man gelegentlich ins andere Extrem und nennt Zahlen, die über die Region hinausgehen – 100 Millionen Repressionsopfer; aber in letzter Zeit sieht man es häufiger darauf ab, die Ziffern wieder zu senken, und überhaupt über die Repressionen Stillschweigen zu bewahren ... Die Tendenz ist eindeutig!

- Das Volk spricht mit immer größerer Ehrfurcht vom Inspirator dieser „Siege“ – von Josef Stalin. Warum ist das so?

- Dafür gibt es eine Erklärung. Übrigens gibt es auch eine Erklärung für das Geheimhalten der Denunzierer und Henker. Aber das soll Gegenstand eines weiteren Gesprächs sein.

- Ich hoffe, dass es stattfinden wird, wenn keine unerwarteten Geschehnisse dazwischenkommen ...

- Das hoffe ich auch. Bis zum nächsten Mal.

Walentina MAJSTRENKO,
„Heutige Zeitung“, 20.12.2007


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