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Der harte, aber hell leuchtende Weg der Erika Damer

Seiten der Geschichte

Als ich die Geschichte dieser gebrechlichen, bemerkenswerten Frau hörte, kamen mir sogleich die Worte des russischen Poeten N.A. Nekrasow ins Gedächtnis: „Weit ist mein Weg und voller Qual, kein Schicksal fürchte ich! ...“

Der Große Vaterländische Krieg veränderte jäh das Leben der Wolgadeutschen, darunter auch der Einwohner der Stadt Engels im Gebiet Saratow. Ihre Vorfahren hatten dort bereits im 18. Jahrhundert, aufgrund eines Erlasses von Kaiserin Katahrina, eine autonome deutsche Republik gegründet; sie waren alle hervorragende Handwerksleute gewesen. Erika Jakowlewna Saidensahls (Seidenzahl?) Großvater stand in dem Ruf einer guter Schuhmacher zu sein; er besaß seine eigene Werkstatt. Ihr Vater leitete in Engels das Getreidelager.

Die kleine Erika war 5 Jahre alt, als ihre Familie im September 1941, zusammen mit anderen Bewohnern der Stadt Engels, auf Viehwaggons verladen und mit dem Zug gen Osten, nach Sibirien, abtransportiert wurden.

Das Dorf Wasilewka, Bezirk Uschur, die „Stalin“-Kolchose – das war der erste Aufenthaltsort der Familoie Saidensahl. Hier half ihnen die vielköpfige Familie Sweschakow zu überleben. Obwohl sie selber ebreits zehn Kinder hatten, fütterten diese Leute die Evakuierten mit allem durch, was sie nur irgend abgeben konnten; nach Erika Jakowlewnas Worten waren „Kartoffeln und Kohl äußerst schmackhaft“. Die Mutter verkaufte ihre besten Sachen, nähte, machte Stickarbeiten, die sie dann bei den Leuten gegen Lebensmittel eintauschte. Vater und Onkel wurden in die Trudarmee geholt. Später schickte man die Mutetr mit den Kindern in den Norden der Region Krasnojarsk, in den Bezirk Dudinka, ins Dorf Ananisk. Die Frauen bauten sich selber Baracken aus dünnen Stangen, legten den Boden mit Erde und Gras aus; innen standen Öfen aus Eisenfässern, auf denen das Essen gekocht wurde, mit ihnen erwärmten sie die Räume und bereiteten darauf heißes Wasser zum Waschen und Wäschewaschen. Die Fenster befanden sich ganz oben, im Dach. In den strengen Wintern fegte der Wind zwischen den Stangen hindurch. Wenn jemand starb, verscharrte man ihn im Schnee, und im Sommer wurde er in die Erde eingegraben, nachdem man zuerst den ewigen Frostboden aufgehackt hatte. Sie ernährten sich in erster Linie von Fisch und Vögeln; auch erhielten sie gelegentlich graupen und einw enig Mehl.

Im Frühjahr 1943 brachte man die Deutschen mit einem Dampfer weiter den Jensiej flußabwärts - zum Fluß Chatanga. Dort gründeten sie die Faktorei „Schdanicha“ und die Kolchose „Morgenröte“. Erneut retteten der Fluß und die Taiga das Leben der Menschen, es gab Unmengen Fisch, wilde Tiere, Vögel, beeren und Pilze. Um sie herum wohnten nenzen, Dolganen und Nganasanen, die sich mit Rentierzucht befaßten und mit den Verbannten ihre Fleischvorräte teilten. Erikas Mutter war Bäckerin in der mit ihren eigenen Händen aufgebauten Bäckerei, und Tante Frieda Iwanowna – Vorsitzende der Kolchose. Wie schwierig ihr Leben auch war, die Kinder gingen dennoch auch hier zur Schule. Erika schloß insgesamt vier Klassen ab.

1948 wurde es den Deutschen erlaubt, den Norden zu verlassen, und die Familie Saidensahl begab sich zur Großmutter nach Aban. Die Gesundheit der Mutter war stark erschüttert, sie starb bald darauf. Aber Verwandte und gute Menschen überließen Erika, Schwester Elvira und Bruder Aleksander nicht einfach der Willkür des Schicksals. Nachdem das Mädel 7 Klassen beendet hatte, fand sie Arbeit im Abansker Industriekombinat (und später in der Waldwirtschaft). Von 1955 bis 1965 arbeitete sie als Zuschneiderin in der damals bekanntesten Produktfertigung der Waldwirtschaft – dem Nähen von Gardinen und Vorhängen. Wenig später heiratete sie einen bemerkenswerten Mann – Viktor Aleksandrowitsch Damer. Im vergangenen Jahr haben die beiden ihre goldene Hochzeit gefeiert. Ihre Kinder – der Zahnarzt Aleksander Viktorowitsch Damer, und Tochter Lidia Viktorowna – Spezialistin beim örtlichen Pensionsfond, sind in Aban angesehene Leute. Für gute Arbeit in der Abaner Waldwirtschaft wurde Erika Jakowlewna jedes Jahr mit Prämien, wertvollen geschenken und Ehrenurkunden ausgezeichnet, zweimal war ihr Name an der Bezirksehrentafel ausgehängt, und im Jahre 1963 wurde sie sogar ins Ehrenbuch des Bezirks verewigt. Damer war einer der ersten Bestarbeiter der kommunistischen Arbeit im Bezirk.

Nach ihrer Zeit in der Waldwirdschaft arbeitete Erika Jakowlewna bis 1991 als Schneiderin im Abaner Haus für Alltagstechnik; dann ging sie in Rente. Heute lebt diese weißhaarige, kleine Frau ganz in Fürsorge für ihre Kinder und Enkel, freut sich über ihre Erfolge, betet dafür, dass sie von Elend und Unglück verschont beleibenmögen. Die größte Freude im Leben, als der Jubel keine Grenzen mehr kannte, war für sie der Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Und selbst wenn die Sprache auf das schwierige Leben im hohenNorden fällt, dann erinnert sie sich auch an die Schönheit der Natur, das Nordlicht, die Freude, wenn der Fluß endlich wieder eisfrei war, und daran, wie sie zu den Festtagen zusammenkamen und gemeinsam fröhlich waren.

Was gaben ihnen die Kraft, unter den damaligen Bedingungen zu überleben, nicht daran zu zerbrechen und ihre optimistische Einstellung zu wahren? Ich glaube, dass nur eine große Liebe zum Leben, zur heimat und der Glaube an den Sieg der Gerechtigkeit dies bewirken konnten.

Deswegen suchen Erika Jakowlewna und Viktor Aleksandrowitsch auch heute nicht nach etwas Besserem; sie wollen nicht in ihre ursprüngliche Heimat Deutschland ausreisen, obwohl die dort lebenden Verwandten sie immer wieder dazu auffordern.

Zum Internationalen Frauentag am 8. März wünsche ich Erika Jakowlewna Gesundheit und alles Wohl dieses Lebens, sowie die Liebe und Achtung ihrer Verwandten und der ihr nahestehenden Menschen.

W. Belskaja,
Bibliothekarin

„Rotes Banner“, ??.??.2008?


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